Zürich, Tonhalle Maag, Tonhalle Orchester - Mendelssohn, Mahler, IOCO Kritik, 06.07.2018
Tonhalle-Orchester Zürich: Mendelssohn - Mahler
- Julia Fischer: Stupende Technik - Berückende Klarheit -
Von Julian Führer
Zum Abschluss der Saison 2018/2019 bot das Tonhalle-Orchester in Maag klangvolle Namen auf: Herbert Blomstedt als Dirigent, Julia Fischer als Solistin, auf dem Programm Werke von Felix Mendelssohn und Gustav Mahler. Beide Künstler-persönlichkeiten sind dem Orchester seit langer Zeit verbunden.
Vor der Pause spielte Julia Fischer das Violinkonzert e-Moll op. 64 von Mendelssohn. Dieses Stück, eines der Glanzstücke der Violinliteratur und aus dem deutschen Bereich des 19. Jahrhunderts sicherlich auf einer Stufe mit den Konzerten Beethovens, Bruchs und Brahms‘, setzt Allegro molto appassionato ein, ohne gleichwohl übermäßig dramatisch zu sein. Die Streicher spielen Begleitfiguren, das Soloinstrument setzt gleich im zweiten Takt mit dem Hauptthema des ersten Satzes ein. Bemerkenswert ist, dass die Kadenz im ersten Satz bereits vor der Reprise gespielt wird.
Herbert Blomstedt schlug ein eher zügiges Tempo ein, das aber niemals gehetzt wirkte. Julia Fischer ihrerseits konnte ihre stupende Technik zur Geltung bringen. Die technischen Hürden des Konzerts meisterte sie spielend. Was ihr Spiel so einzigartig macht, ist allerdings ihr besonderer Ton, den man als breit intoniert und gleichzeitig singend beschreiben könnte. Die Intonation selbst eines C4 im Mittelsatz war von berückender Klarheit, dass man unwillkürlich an Goethes Faust dachte: Verweile doch, du bist so schön! Überhaupt waren im Konzert die überleitenden Passagen von erlesenster Eleganz (beispielsweise die Fermate des ersten Fagotts, die den pausenlosen Übergang in den Andante-Mittelsatz gestaltet). Stets blieb der Eindruck eines ganz natürlichen Fließens, eine Ahnung reiner, absoluter Schönheit, kurzum: eine Sternstunde dieser Saison, an der nichts gekünstelt war. Bei den Tutti – dies sei gesondert vermerkt – blieb das Orchester in der Dynamik stets elegant und auch präzise, so dass die Grenzen, die der Saal der Tonhalle Maag setzt, stets respektiert blieben. Das enthusiastische Publikum wurde von Julia Fischer mit Paganinis Caprice Nr. 17 in Es-Dur belohnt.Breit intoniert
Von einem ganz anderen Format, was die Orchestrierung angeht, ist die erste Symphonie in D-Dur von Gustav Mahler. Konzipiert seit 1884, als Mahler gerade einmal 24 Jahre alt war, wurde die Symphonie im Jahr 1888 vollendet und 1889 uraufgeführt – damit kurz nach der 4. Symphonie von Johannes Brahms, wenige Jahre nach dem Tod Richard Wagners (Mahler experimentierte in seiner Jugend auch mit Opernkompositionen) und kurz nach dem Tod Franz Liszts, der die Gattung der symphonischen Dichtung vorangebracht hatte. Mahler soll gezögert haben, ob er sein Werk eine Symphonie oder eine symphonische Dichtung nennen sollte; er experimentierte auch mit Programmen für die einzelnen Sätze, die auf Jean Pauls Titan verwiesen. Schließlich entschloss er sich, den zweiten Satz (Andante) fortzulassen, ebenso das Programm, und brachte es als erste Symphonie heraus. Zu dieser Zeit komponierte Anton Bruckner an seiner siebten und achten Symphonie, und der junge Richard Strauss arbeitete an seinen ersten symphonischen Dichtungen (Don Juan, Tod und Verklärung). Mahler sollte die Gattung der Symphonie auf völlig neue Wege führen.
Von der Gliederung her stellt sich das Werk als viersätzige Symphonie dar, die nach einer längeren Introduktion ein Thema präsentiert und dieses dann weiterentwickelt. Doch ist die Symphonie auch auf der formalen Ebene sehr viel elaborierter. Zu einem von allen Streichern gehaltenen A kommen „langsam, schleppend, wie ein Naturlaut“ in halben Noten fallende Quarten im Holz, alsbald Fanfarensignale in den Klarinetten, später auch in entfernt aufgestellten Trompeten. Kürzere Noten (erste Klarinette) nehmen die fallende Quart auf („Den Ruf eines Kuckuck nachzuahmen“, notierte Mahler in der Partitur) – der Kuckucksruf ist bei Beethoven, Humperdinck und beim Kuckuck selbst eigentlich eine große Terz, die Weiterung zur Quart verlässt hiermit die reine Naturschilderung. Eine diffus bedrohliche Grundstimmung legte sich in den Saal, eine aufregende Umsetzung der Einleitungstakte, die in der Breite der Töne und Klangfarben keine Aufnahme jemals wiedergeben können wird. Mahler wechselt zwischen dieser Grundstimmung, derben Momenten, musikalischen Gewaltausbrüchen und schierer Zirkusmusik (ein Stilmittel, das der Mahler verehrende Dmitri Schostakowitsch immer wieder einsetzen sollte). Schwungvolle Hörner im ersten Satz ließen vermuten, dass Engelbert Humperdinck für den Knusperwalzer aus Hänsel und Gretel in Mahlers Schule gegangen sein könnte.
Die Quarten sind auch im zweiten Satz („kräftig bewegt, doch nicht zu schnell“) ein wesentlicher Antrieb für die symphonische Dramatik. Mahler zitiert Ländlermusik, entwickelt sie weiter und lässt (bei Ziffer 11) Streicherfiguren anklingen, die im zweiten Akt von Wagners Walküre nichts Gutes verhießen… Bei den Forderungen Mahlers an die Dynamik des Orchesters wurden hier die Grenzen des Saales hörbar: Man sah die Musiker präzise spielen, das Klangbild war stellenweise weniger deutlich. Auch im dritten Satz („Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen“), hier eher zügig intoniert, zeigte sich dieses akustische Problem im Kanonsatz, obwohl hier die Lautstärke gar nicht so erheblich ist. In d-Moll wird das Lied Frère Jacques zitiert und über 38 sehr getragene Takte hinweg durch die Instrumentengruppen geführt; die Melodie wird zunächst von einem einzigen Kontrabass getragen. In der Reprise des Themas erklingt sie zunächst in es-Moll, einer im Verständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts einerseits unnatürlichen und andererseits sehr stark mit dem Tod konnotierten Tonart.
Das Finale der ersten Symphonie ist bei weitem der umfassendste Satz. Die fallenden Quarten kehren auch hier wieder. Der von Mahler selbst so genannte Hymnus bricht sich Bahn und zitiert Kadenzen, Kirchenmusik und vielleicht auch die Gralsglocken des Parsifal. Die Themen aus den vorangegangenen Sätzen werden wie Reminiszenzen wieder aufgenommen, die Musik scheint zeitweilig fast verzweifelt einen Ausweg zu suchen (vgl. die bei Ziffer 46 in den Bratschen erscheinende Figur, die Ludwig van Beethoven im dritten Satz der „Appassionata“ op. 57 in einer ähnlichen Situation bereits verwendet hatte. Umgesetzt wurde all dies vom Tonhalle-Orchester und seinem Dirigenten mustergültig, gleichzeitig unter genauester Beachtung der Partiturvorschriften. Die sieben Hörner standen im Finale zeitweilig auf, um die von Mahler geforderte „möglichst grösste Schallkraft zu erzielen“. Auch wenn der Saal manches bei den großen Ausbrüchen geschluckt oder zu breit verteilt hat, war allein der optische Eindruck beeindruckend, das akustische Erlebnis allemal ebenfalls. Herbert Blomstedt, der ohne überflüssige große Gesten und gleichzeitig sehr plastisch dirigierte, und das Orchester erhielten großen und verdienten Applaus.
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