Zürich, Tonhalle Maag, Tonhalle Orchester - Joshua Weilerstein, IOCO Kritik, 06.01.2020
Benjamin Britten, Dmitri Schostakowitsch - Tonhalle-Orchester
von Julian Führer
Im Sommer 2020 wird das Tonhalle-Orchester wieder in sein angestammtes Haus in der Nähe des Zürichseeufers umziehen. Der große Saal dort erlaubt große Klangvolumina, nur für Gustav Mahlers achte Symphonie musste das Orchester vor ein paar Jahren, damals noch unter David Zinman, ins KKL nach Luzern wechseln. Im Ausweichquartier, der Tonhalle Maag an der Hardbrücke, ist ein sehr sensibler Umgang mit der Dynamik nötig. Am 5. Dezember gastierte Joshua Weilerstein als Dirigent bei diesem Orchester und zeigte mit seinem Dirigat von Schostakowitschs elfter Symphonie, dass der Raum zwar mitunter seine Tücken hat, aber dennoch beherrschbar ist.
Vor der Pause wurde die Symphonie op. 68 für Violoncello und Orchester von Benjamin Britten gegeben. Als Solistin trat Alisa Weilerstein (die Schwester des Dirigenten) auf. Ihr Ton ist breit, rund und samtig. Das reichlich halbstündige Werk ist wie eine klassische Symphonie in vier Sätze aufgeteilt – im ersten Satz (Allegro maestoso) tritt das Soloinstrument mal mit dem ganzen Orchester, mal mit einzelnen Instrumenten oder Instrumentengruppen in Dialog (Violine, Cellogruppe). Das Presto inquieto des zweiten Satzes ist im Gesamtgefüge des Stückes eher wie ein Intermezzo zu sehen, bevor der lange Adagio-Satz der Solistin auch mehr Raum zur Entfaltung lässt. In der Introduktion wie auch später in diesem Satz ist die Pauke ein wesentlicher Partner des Soloinstruments. Der letzte Satz, eine Passacaglia, ist insgesamt deutlich melodiöser und mehr aus einem Guss als die vorangegangenen Abschnitte. Am Ende geht das Soloinstrument in den Orchesterfluten unter – ob das von Britten so beabsichtigt war, sei dahingestellt. Die ganze Bandbreite nicht nur ihres technischen, sondern auch ihres expressiven Könnens konnte Alisa Weilerstein eigentlich erst in der Zugabe zeigen.
Brittens Symphonie für Cello und Orchester hat einen engen Bezug zur Sowjetunion – Britten komponierte es für Mstislaw Rostropowitsch, der es auch bei der Uraufführung spielte, die 1964 nicht in England, sondern in Moskau stattfand. Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch widmete diesem berühmten Cellisten seine beiden eigenen Cellokonzerte, was die Ausnahmestellung dieses Musikers sowohl im Westen als auch im Osten der damals geteilten Welt unterstreicht.
Nach der Pause wandte sich der Dirigent vor Beginn noch über Mikrofon ans Publikum. Sein Anliegen: Schostakowitschs Symphonie in ihrer Vielschichtigkeit ins rechte Licht setzen. Man kann sie als Propagandawerk hören, aber, so Weilerstein, auch als Aufschrei des gequälten Künstlers im Namen der Menschlichkeit. Nach einem Verweis auf die in der sowjetischen Literaturgeschichte und ihren Bezügen zur zeitgenössischen Musik zentrale Anna Achmatowa sprach dann die Musik.
Den Beginn nahm Weilerstein etwas langsamer als die meisten anderen Interpreten. Die üppig besetzten tiefen Streicher (zehn Celli, sieben Kontrabässe) verliehen der düsteren Winterszenerie des Kopfsatzes eine sehr passende zusätzliche Schwere. Mit einem leichten dynamischen Anschwellen der lange auf brütenden Akkorden verharrenden Notenwerte der Celli und Bässe wurde die lastende Atmosphäre unterstrichen. Die Hochspannung dieser brillant vorgetragenen Einleitung konnte im weiteren Verlauf des Satzes nicht ganz gehalten werden, nicht zuletzt wegen immer wieder passierender ‚Kleinigkeiten‘ im technischen Ablauf, insbesondere bei den Trompeteneinsätzen.
Der zweite Satz („Der 9. Januar“) ist berühmt – und berüchtigt als ein Stück Programmmusik, das das brutale Niederschießen einer Arbeiterdemonstration illustriert. Die Exegeten streiten sich, ob nun der 9. Januar 1905 in St. Petersburg oder vielleicht doch der Ungarnaufstand von 1956 (nach dem die Symphonie entstand) gemeint ist. Die mittleren und tiefen Streicher (nun ohne Dämpfer) spielen eine unruhige Phrase, die nach kurzer Pause wiederaufgenommen wird und aus der sich eine rastlose Achtelkette in hohem Tempo herausbildet. Die sehr zahlreichen Musiker des Tonhalle-Orchester illustrierten hier (hoffentlich gewollt) die unruhige Menge, die sich zusammenfindet – nicht immer ganz exakt und nicht im Gleichschritt, aber interpretatorisch vollkommen überzeugend.
Eine erste dynamische Aufgipfelung, dann wieder Beruhigung, dann scheinbarer Stillstand mit Reminiszenzen an den musikalischen Permafrost des ersten Satzes. Die dann folgende erste Salve Schüsse kam in unbarmherzigem Fortissimo von der kleinen Trommel, laut und scharf wie fast nur auf älteren Aufnahmen der Sowjetzeit zu erleben. Die erst unterbrochenen, dann atemlosen Achtelketten der Streicher nehmen den Beginn des Satzes wieder auf; die nun folgende Klangexplosion, unmissverständlich das Niederschießen der Arbeiter, wurde von kleiner und großer Trommel und dem vollen Orchester in nicht zu rasendem Tempo gespielt – doch wo blieb das Tamtam? Während der volle Orchesterapparat brüllte und auch beim Tamtam zwei- bis dreifaches Fortissimo gefordert ist, war hier nichts zu hören, und man sah, wie das Instrument eher zaghaft behandelt wurde. War das ein Zögern des Dirigenten vor den akustischen Möglichkeiten der Tonhalle Maag, immerhin ein Ausweichquartier mit reduzierten Raummaßen? Wie auch immer, hier stimmten die Proportionen nicht. Eine Passage, die hingegen nie ihre Wirkung verfehlt, ist das Ende dieses Massakers, wenn das Schlagwerk auf einmal abbricht und langsam, wenn sich die Ohren erholen, das (seit mehreren Takten andauernde) Flirren der mehrfach geteilten Streicher hörbar wird.
Der dritte Satz („Ewiges Gedenken“) beginnt mit einer Melodie der gedämpften Bratschen. Nach allem, was im zweiten Satz vorgefallen ist, sehe man es als Programmmusik oder nicht, ist dies ein Stück voller Trauer, das im Mittelteil allerdings die Faust ballt. Zu einem Bläserchoral (das gesamte Holz und alles Blech in fff) kommt schweres Schlagwerk, ebenfalls im dreifachen Fortissimo – und wieder ist vom Tamtam fast nichts zu hören, obwohl die Klangwirkung auf dieses Instrument hin konzipiert ist (sämtliche anderen Instrumente brechen mit dem Gongschlag ab).
Das die kämpferische Melodie der „Warschawjanka“ bereits zitierende Eingangsmotiv des vierten Satzes nahm Weilerstein deutlich verlangsamt gegenüber Schostakowitschs Metronombezeichnung, jedoch nicht in Zeitlupe wie zuletzt Andris Nelsons (auch auf CD dokumentiert). Das vom Komponisten kurz vor Partiturziffer 126 notierte accelerando verlegte Weilerstein einige Takte vor, so dass sehr deutlich hörbar wurde, wie der musikalische Fluss schon vor dem Taktwechsel deutlich Fahrt aufnahm. Der kämpferische vierte Satz („Sturmgeläut") wechselt mehrfach die musikalische Grundstimmung. Das erste Drittel drängt vorwärts, bevor dann ein Unisono in den Streichern die breit ausgeführte Warschawjanka eingeleitet wird. Die stark akzentuierte Einleitung zu dieser Passage geriet beeindruckend. Das Lied verweist im Titel auf Warschau und war damals allgemein bekannt, da es als Widerstandslied auch in Leningrad während der deutschen Belagerung viel gesungen worden sein soll. Es enthält Zeilen wie „Wir haben der Freiheit leuchtende Flamme … entfacht“ oder „Leidendem Volke gilt unsere Tat“, zusammen mit dem Verweis auf Warschau im Titel vielleicht mehr als ein nur kleines Indiz für Schostakowitschs Doppelbödigkeit – 1956 schoss die polnische Armee teilweise mit schweren Kalibern auf demonstrierende Arbeiter, es gab Dutzende Tote…
Vor dem letzten Sturmgeläut (und diesmal mit Glocken) ertönt noch einmal eine musikalische Rückblende auf den ersten Satz, jetzt aber mit einer weit ausgreifenden Melodie des Englischhorns. Dieses Solo war fehlerfrei, aber im Vergleich zum Rest des Orchesters so laut, dass sich keine elegische Stimmung entfalten konnte. Der Übergang zum Schluss hingegen, in dem Schostakowitsch viele Kniffe aus dem Finale seiner 5. Symphonie anwendet, überzeugte vollkommen: spürbar anziehendes Tempo, von der großen Trommel angetriebenes Orchester und – was sonst so nicht zu hören ist – Glocken, die sich erst nach und nach über das Orchester erheben und am Ende das Klangbild dominieren, bis das Orchester abbricht und der Nachhall der Glocken noch etliche Sekunden im Raume steht.
Man sah bei Joshua Weilerstein deutlich den Gestaltungswillen, er feuerte die Musiker an, die an einzelnen Stellen auch sonst nicht oder kaum Hörbares herausarbeiteten. Die ersten und die letzten zwei bis drei Minuten setzten Maßstäbe an Präzision, Dynamik und Agogik. Dazwischen bleib vieles nicht ganz befriedigend – das im Klangbild fehlende Tamtam, das zu laute Englischhorn, die immer wieder danebenliegende Trompete, ‚Wackler‘ in der Abstimmung der Streichergruppen. Insgesamt gelang im nicht einfach zu beherrschenden Saal die Lautstärkebalance dennoch gut.
Das Publikum applaudierte am Ende des Konzertes anhaltend. Leider war dieses Publikum an diesem Abend nicht übermäßig zahlreich erschienen, ganze Reihen waren leergeblieben – und Teile verließen den Saal während der Musik. Gleichzeitig saß in der ansonsten gänzlich leeren ersten Reihe der Empore ein etwa sechsjähriger Junge und hörte vom ersten bis zum letzten Takt gebannt zu. Von diesem Sechsjährigen können Teile des Zürcher Publikums noch viel lernen.
Besprochenes Konzert 5.12.2019
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