Wiesbaden, Hessisches Staatstheater, NABUCCO konzertant - Giuseppe Verdi, IOCO KRITIK, 10.06.2023

Wiesbaden, Hessisches Staatstheater, NABUCCO konzertant - Giuseppe Verdi, IOCO KRITIK, 10.06.2023
Hessisches Staatstheater Wiesbaden © Martin Kaufhold
Hessisches Staatstheater Wiesbaden © Martin Kaufhold

NABUCCO konzertant - Giuseppe Verdi

- Nabucco trägt Giuseppe Verdis Namen in die ganze Welt hinaus -

von Ingrid Freiberg

Giuseppe Verdi - Mailand © IOCO
Giuseppe Verdi - Mailand © IOCO

Giuseppe Verdi wurde am 10. Oktober 1813 in der kleinen Ortschaft Roncole bei Busseto in Parma geboren. Ungeachtet großer Armut ermöglichte ihm sein Vater, er war Schankwirt und Kleinkrämer, den Ankauf eines Spinetts sowie den ersten Musikunterricht. Später in Mailand erlebte er eine demütigende Enttäuschung, als er keine Aufnahme in das Konservatorium fand. Verdis Anfänge waren in jeder Hinsicht entmutigend. In seiner ersten Anstellung als Organist und Dirigent in Busseto war er vielfach Anfeindungen ausgesetzt, seine ersten Opern Oberto (1839) und König für einen Tag (1840) konnten kaum einen Achtungserfolg erzielen. Dazu kamen Schicksalsschläge, die sein glückliches Familienleben völlig zerstörten: Innerhalb weniger Monate starben seine junge Frau und seine beiden kleinen Söhne.

Verdi war Patriot und wünschte nichts sehnlicher als die Befreiung und Einigung Italiens, das damals größtenteils unter österreichischer Herrschaft stand. So sehr die politischen Wellen, die damals Italien in Erregung hielten, dazu beigetragen haben, die Werke des Freiheitsfanatikers Giuseppe Verdi populär zu machen, so sehr ist es mehr als ungerecht, seine rasch errungene Volkstümlichkeit lediglich diesem politischen Umstand zuzuschreiben. Der Hauptgrund für die rückhaltlose Anerkennung Verdis lag in der kraftvollen, bisweilen herben Männlichkeit, die seine Musik bewegte. Der Ruf „Evviva Verdi“, der allerorten anlässlich der Operndemonstrationen erscholl, wurde als Umschreibung für das verbotene „Viva l’Italia“ empfunden. Und später, als man sich geeinigt hatte, Victor Emanuel von Sardinien den Königsthron eines geeinten Italien anzubieten, stand der Name VERDI für V(ittorio) E(manuele) R(e) (d‘) I(talia). Nach dem Sieg Italiens über Österreich (1859) vertonte Verdi keine Texte mehr, die eine politische Deutung zulassen konnten. Der glühende Patriot, der an den Freiheitskämpfen leidenschaftlich Anteil genommen hatte, zog sich vollständig aus der politischen Arena zurück.

Hessisches Staatstheater Wiesbaden / NABUCCO Konzertante Aufführung - hier Ensemble und Orchester © Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Hessisches Staatstheater Wiesbaden / NABUCCO konzertant- hier Ensemble, Chor und Orchester © Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Verdis erster Erfolg, der ihn volkstümlich machte und seinen Namen über Italien hinaustrug, war die Oper Nabucco, die am 9. März 1842 am Teatro alla Scala in Mailand uraufgeführt wurde. Der Text von Temistocle Solera nach dem Drama Nabuchodonosor von Auguste Anicet-Bourgeois und Francis Cornue (1836), der das Schicksal der Juden während der babylonischen Gefangenschaft behandelt, Nabucco ist Nebukadnezar, kam in seiner Grundhaltung seinem patriotischen Empfinden entgegen. Solera, Dichter, Musiker und Librettist, führte ein abenteuerliches Leben als Impressario und Orchesterleiter in Spanien, Geheimkurier Napoleons III., Festorganisator des Khediven in Ägypten und Antiquar in Florenz und Mailand. Die stärkste Wirkung in Nabucco erzielte der Chor „Va, pensiero, sull'ali dorate…“ („Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen…“), der vom Publikum als Freiheitshymne aufgefasst wurde. Die kraftvolle Melodie und der zündende Rhythmus rissen zu spontaner Begeisterung hin. Die draufgängerische Vitalität der überhitzten Affekte, die brennpunktartig erfassten Situationen, und im Besonderen die inbrünstigen Chöre, die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen im Hause Nabuccos mit den ekstatischen Ausbrüchen Abigailles (Rezitativ und Arie „Ben io t’invenni…“, „Anch’io dischiuso un giorno…“) befeuern das Werk. Verdi zeigt sich im Terzett von Ismaele, Abigaille und Fenena schon in jungen Jahren als raffinierter Psychologe: Mit einem kurzen Rezitativ präsentiert er Abigaille als machtgebietente Potentatin. Zu Beginn des Terzetts dokumentiert sie ihren Machtanspruch auf Ismaele mit großen Tonsprüngen und einem einprägsamen Thema. Eingeschüchtert nimmt Ismaele ihr Thema auf. Als Fenena wunderschön lockend einsetzt, ist es um Ismaele geschehen, und er schwenkt in Fenenas Melodie ein. Dazu ist Abigaille nicht bereit, sie singt ihre Melodie kontrapunktisch zum Unisono-Duett von Ismaele und Fenena.

Hessisches Staatstheater Wiesbaden/ NABUCCO hier Dirigent Michael Güttler © Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Hessisches Staatstheater Wiesbaden/ NABUCCO hier Dirigent Michael Güttler © Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Demokratie - Teilhabe aller an der politischen Willensbildung

Die Internationalen Maifestspiele Wiesbaden wurden 2023 „allen politischen Gefangenen in dieser Welt“ gewidmet. In einer Presseerklärung des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden wurden die in Russland inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny, Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa erwähnt. Was lag näher, als die Oper Nabucco des Freiheitsfanatikers Verdi auszuwählen, das Publikum für dieses Thema zu sensibilisieren und zu einer Stellungnahme zum Grundrecht auf Freiheit, auch der Kunst, zu ermutigen.

Ein berühmtes Diktum des Dramaturgen Heiner Müller besagt: „Es sei die Funktion der Kunst, die Wirklichkeit unmöglich zu machen. Darin steckt die Vorstellung, dass Kunst, in diesem Falle Theater, Wirklichkeit negiert und alternative Sichtweisen entwickelt. Die gesellschaftliche Stellung, die sich die Künstler in den letzten Jahrhunderten erkämpft haben, gibt ihnen einen gewissen – ökonomische Abhängigkeiten mitgedacht - autonomen Spielraum, innerhalb dessen Utopien oder alternative Gesellschaftsmodelle formuliert werden können. Negieren bedeutet für mich aber in erster Linie kritisieren, und Demokratie braucht Kritik. Anders als autoritäre Politikmodelle, deren Protagonisten sich zu allererst um die Ruhigstellung von Intellektuellen, Künstlern und kritischen Journalisten bemühen, ist Demokratie ein zukunfts- und diskursorientiertes politisches Systemmodell, das sich auf Grundlage von Kritik und Auseinandersetzung konstruktiv weiterentwickelt. Aus diesem Grund benötigt Demokratie in schwierigen Zeiten kritische und korrektive Stimmen aus der Kultur: Künstler, Vertreter von Kultureinrichtungen, Kulturpolitiker und freie Akteure.“

Der Intendant Uwe Eric Laufenberg erhob gegen viel Widerspruch seine couragierte Stimme und befürwortete das Engagement von Anna Netrebko: „Ich spreche den Anwesenden nicht das Recht auf Demonstration ab. Aber wenn sie denken, sie tun der Ukraine eine gute Sache, indem sie gegen Frau Netrebko demonstrieren, habe ich meine großen Zweifel". Ihre politische Willensbildung, ihren autonomen Spielraum genutzt haben auch 25 Musiker des Hessischen Staatsorchesters. Sie spielten aus Solidarität - vor Vorstellungsbeginn - in den Kolonnaden mit den Demonstranten die ukrainische Nationalhymne. Frei und eindrucksvoll konnten - in einer Demokratie möglich - ukrainische Frauen in Landestracht mit Plakaten und rhythmisch lauten Stimmen „Kunst riecht nach unserem Blut!“, „Keine Bühne für Putins Freunde", „Kein Applaus für Putins Propaganda-Netrebko“, „Blood on your hands", „Mördersängerin", „No Netrebko", „Netrebko – Agentin des Imperiums des Bösen“, „Shame“ ihren Schmerz und ihre Wut skandieren. Diese Demokratie ist die Freiheit, für die wir alle immer wieder kämpfen müssen! Feststeht, Kunst ist grundsätzlich politisch, da sie entweder Machtverhältnisse reproduziert und somit stabilisiert oder diese Machtverhältnisse hinterfragt. Das hat Uwe Eric Laufenberg umgesetzt und gesichert.

Rollendebüt von Anna Netrebko

Hessisches Staatstheater Wiesbaden/ NABUCCO Konzertante Aufführung hier Željko Lucic, Anna Netrebko, Michael Güttler © Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Hessisches Staatstheater Wiesbaden/ NABUCCO hier Željko Lucic, Anna Netrebko, Michael Güttler © Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Die Abigaille ist eine der Killerpartien der Oper, eine immens schwierige, kaum singbare Partie. Schon Verdis Gefährtin Giuseppe Giuseppina Strepponi hat sich damit ihre Stimme ruiniert. Umso mehr ist das Publikum auf das Rollendebüt von Anna Netrebko als Abigaille gespannt. Abigaille ist bereit, ein ganzes Volk auszulöschen. Inmitten entfesselter Feindschaften steht ein Dreieck von Liebenden: Fenena und Abigaille, die Töchter Nabuccos, lieben den Israeliten Ismaele. Als er seine Gunst der zarten Fenena schenkt – die im Unterschied zu Abigaille eine leibliche Tochter des Königs ist –, verwandelt sie sich in eine Furie und wendet sich gegen alle, in denen sie ihre Feinde erkennt. Anna Netrebko ist ein Naturereignis, was ihre virile Bühnenpräsenz, ihre stimmliche Pracht und ihren schillernden Charakter betrifft. Mit dramatisch aufblühendem Ton von anrührender Seelentiefe und Klangschönheit, mit Leidenschaft ist sie Furie und Liebende zugleich. Charismatisch überzeugt sie in Verdis wohl herausforderndster Frauenrolle. Mit Sinnlichkeit und Schmelz interpretiert sie „Anch’io dischiuso un giorno…“ und die berühmte Cabaletta „Salgo gia del trono aurato…“ und beeindruckt im Duett mit Nabucco (3. Akt). Das euphorische Publikum spendet ihr immer wieder minutenlang frenetischen Beifall. (Für die Internationalen Maifestspiele Wiesbaden 2024 ist Anna Netrebko bereits für zwei Aufführungen in Turandot engagiert.)

Großes Lob für das glänzende Ensemble

Nach so viel Wirbel um die „Causa Anna Netrebko“ liegt die Befürchtung nahe, dass alle anderen Mitwirkenden nicht genügend Aufmerksamkeit erhalten bzw. in ihrer künstlerischen Präsenz abfallen könnten. Zur großen Freude stellt sich das als völlig grundlos heraus!

Hessisches Staatstheater Wiesbaden / NABUCCO Konzertante Aufführung hier Željko Lucic als Nabucco © Rui Camilo
Hessisches Staatstheater Wiesbaden / NABUCCO konzertant hier Željko Lucic als Nabucco © Rui Camilo

Als Nabucco ist Zeliko Lucic zu hören, ein heldisch disponierter, im italienischen Fach legatostarker Bariton mit kraftvollen Farben, feinen Nuancen, dramatischem Biss, fülligen Piani und stilistisch treffsicheren Phrasierungen. Er imponiert besonders in der packenden Schlussszene des 2. Akts „Chi mi toglie il regio scettro?“. Wieder einmal beglückt Young Doo Park (Zaccaria), der weder in der Höhe noch in der sonoren Tiefe Grenzen zu kennen scheint und hervorragend die Autorität der Figur widerspiegelt. Höhepunkte seines mitreißenden Gesangs: “Oh, chi piange? Del futuro nel buio discerno“ mit Chor im 3. Akt und das Gebet „E di canti a te sacrati“. Die souveräne Fleuranne Brockway setzt als Fenena mit ihrem schön timbrierten, hell-höhenlastigen Mezzo, luftig und liedhaft, einen feinsinnigen Kontrast zu ihrer rachsüchtigen Schwester. Ihre perfekt fokussierte Stimme klingt wunderbar sinnlich.

Ioan Hotea als Ismaile gibt der für das zentrale Drama eher nebensächlichen Rolle mit herrlich tenoreskem Schmelz, angenehm gefärbter und sicher geführter Stimme Profil. Anastasiya Taratorkina (Anna), Gustavo Quaresma (Abdallo) und Mikhail Biryukov (Gran Sacerdote) sichern mit bestechender Intensität, ausdruckstarker klarer Diktion und mit großer Flexibilität das hohe Niveau des Solisten-Ensembles.

Verdis Nabucco ist eine der schönsten „Chor-Opern“ überhaupt… Der Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden unter Leitung von Albert Horne und der Opernchor des Hessischen Staatstheaters Darmstadt unter Leitung von Ines Kaun ist exzellent vorbereitet und begeistert mit einem wunderbar ausgewogenen Klang, nicht nur mit „Va, pensiero, sull'ali dorate…“, aus politischen Gründen als Freiheitshymne oder als Gefangenenchor aufgefasst, was nicht ganz der Realität entspricht: Es ist nach dem von Abigaille ausgesprochenen Todesurteil auch der Abschied der Juden von ihrem Leben, die versklavten Hebräer entsinnen sich ihrer Heimat und erbitten Gottes Hilfe. Lebendig, homogen und fein abgestuft sind die beiden Chöre einer der Höhepunkte des Abends.

Michael Güttler, Musikalische Leitung, führt das Orchester und die Interpreten zu Spitzenleistungen. Neben den archaischen Rhythmen der wilden Trompeten, Pauken, Schlagzeuge, Trommeln, Holz- und Blechbläsern brillieren die Streicher und Harfen. Effektvoll die von den Celli glänzend musizierte Einleitung des „Zaccaria-Gebets“ im 2. Akt und die zärtlichen Piani (Arie des Nabucco im 4. Akt und die Schlusssequenz „Ah, torna Israello“). Mit stilistischem Gespür für den Aufbau von Spannung, ausgetüftelter Temporegie und lyrisch blühenden Bögen beweist Güttler eine klar strukturierte, bei aller militärisch-zackigen Wucht, stets transparente Werkwiedergabe.

Das Publikum erlebt einen der aufregendsten Opernaufführungen des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden. Es ist ein großer Abend, der allen unvergessen bleiben wird.  Für Sänger*innen und Orchester gibt es langanhaltenden tosenden Beifall und Bravi.