Wiesbaden, Hessisches Staatstheater, Matthäus-Passion - Johann Sebastian Bach, IOCO Kritik, 04.02.2020
Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Matthäus-Passion – Johann Sebastian Bach
Szenisches Oratorium
von Ingrid Freiberg
Eigentlich ist es ein Affront, über die Matthäus-Passion, einer dramatischen Erzählung des biblischen Stoffes um Verrat, Liebe und Opfer, zu schreiben... man sollte sie hören, verinnerlichen, in seinem Herzen bewegen... „Bey einer andächtig Musik ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart“, so Bach.
„Bey einer andächtig Musik ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart“
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Passionszeit – die sieben Wochen zwischen Karneval und Ostern – ist im Kirchenjahr stets etwas Besonderes. Sie lädt zur Besinnung, zur inneren Einkehr und zum Fasten ein. So überrascht es kaum, dass das Hessische Staatstheater Wiesbaden gerade jetzt das Wagnis eingeht, die oratorische Passion des Thomaskantors Johann Sebastian Bach (1685 - 1750) über Leiden und Sterben Jesu Christi, szenisch aufzuführen. Die Passion fand wie kein anderes Werk ihren Weg aus der Kirche in den Konzertsaal, ins Theater. Regieansätze liefert der Erzähler, der Evangelist, der durch das Geschehen führt, aber auch das Textkonglomerat, das Bach aus dem 26. und 27. Kapitel des Matthäus-Evangeliums, aus Kirchenlied-strophen, hauptsächlich von Paul Gerhardt sowie aus freier Dichtung von Christian Friedrich Henrici alias Picander zusammengestellt hat. Als das Werk zum Karfreitags-Gottesdienst 1727 oder 1729 in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführt wurde, dürfte das Publikum überfordert gewesen sein: einerseits von der Länge (zweigeteilt jeweils fast anderthalb Stunden, unterbrochen von einer langen Predigt), andererseits von der Zusammenstellung, die zu dieser Zeit durchaus als theatralisch galt. Und die Choräle konnten von der Gemeinde nicht mitgesungen werden – so komplex, wie Bach sie gesetzt hatte! Das Werk wurde vom Thomaner (Knaben-) Chor Leipzig uraufgeführt. Von der heutigen Besetzungspraxis her betrachtet, eine unglaubliche Leistung...
Schon zu Bachs Lebzeiten wurde seine Musik als „schwülstig“ verschrien. Die Musikwelt interessierte sich fast 100 Jahre nicht mehr dafür. Der 11. März 1829 markiert den Tag, an dem die Bach-Renaissance einsetzte: Der zwanzigjährige Felix Mendelssohn Bartholdy brachte mit der Sing-Akademie zu Berlin die Matthäus-Passion zur Wiederaufführung, und eine breite Öffentlichkeit begriff, welche Bedeutung dieser vergessene Komponist hat. Er ist der bedeutendste Komponist der protestantischen Kirche. Seine überragenden Werke schuf er getreu dem Motto „Soli Deo Gloria“ – „Dem höchsten Gott allein zu Ehren“. Direkt auf die Wirkung angesprochen, fühlte sich der junge Bertolt Brecht, der während einer Aufführung um seine Gesundheit fürchtete, in „ein wildes Koma“ versetzt..
Wunderschöne Reinschrift versteigert
Im Oktober des vergangenen Jahres wurden beim Auktionshaus Sotheby’s in London acht Stimmbücher zum doppelchörigen Schlusschor „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ der Matthäus-Passion ersteigert, die musikgeschichtlich von einiger Brisanz sind. Die wunderschöne Reinschrift, ein kaligrafisches Meisterwerk, sei auf die Zeit um 1770 datierbar. Die Worte, die Bach aus der Bibel übernahm, schrieb er mit roter Tinte.
Passionen sind die Königsdisziplin der Kirchenmusik
Das riesig besetzte, dreistündige Werk, das schon damals der Vorgabe widersprach: „…dass das Werk nicht zu lang währen, auch also beschaffen seyn möge, damit es nicht opernhaftig herauskommen, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere“, geht auch in Wiesbaden - ohne Furcht vor dem hohen Anspruch - in seiner szenischen Form weit über diese Bedingung hinaus. Aufwändig vom Orchester instrumentiert, erklingen die Jesus-Worte. Die beiden Chöre, die Orchester und die anderen Solisten gestalten die Handlung dramatisch aus und ergänzen das Werk um vertiefende Choräle, Arien und viele berühmte Passionslieder, die auch heute noch gerne gesungen werden, wie „Herzliebster Jesu“, „O Haupt voll Blut und Wunden“ oder „Befiehl du deine Wege“. Die einzelnen Stationen der Matthäus-Passion sind bekannt. Es sind „Kreuzwege“, Figuren treten auf, die aus der Bibel bekannt sind: Petrus, die falschen Zeugen, Hohepriester, Freunde, Verräter, Pontius Pilatus... Und obwohl die Figuren unterschiedliche Positionen einnehmen, sprechen sie sich doch alle für die Verurteilung von Jesus aus.
In der szenischen Umsetzung von Johanna Wehner (Inszenierung) wird das Glaubensbekenntnis des Thomaskantors Bach auf der Theaterbühne neu erlebbar. Die Faust-Preisträgerin hat schon mehrfach Gespür für atmosphärische Tableaus und elementare menschliche Fragestellungen gezeigt. Sie präpariert gekonnt Themen heraus, vermag Zusammenhänge zu erkennen. Auf der Theaterbühne müssen die getrennt agierenden Gruppen noch mehr als in einem Kirchenraum zu einem großen Ganzen finden. Der Zuhörer wird dort gepackt, wo das Leben am intensivsten ist: Tod, politisches Unrecht, Scheitern, Verlust, Schmerz, Verantwortung... Szenisch werden die Erkenntnisse in gestischen Erzählungen deutlich: wie mit der Sopranarie „Blute nur, du liebes Herz", die eine dreifache Reihung eines Motivs benutzt, und wird fassbar in „Bluten des Herzens" und in „...zittert das gequälte Herz", wo von Angst die Rede ist. Ob sich "die Schafe zerstreuen" oder „Blitz und Donner" niederfahren, Johanna Wehner gelingt ein verständliches Melodram. Die Regisseurin besetzt einige Rollen doppelt: Der Evangelist singt auch die Tenor-Soli, Petrus übernimmt die Bass-Partie und Judas und Pilatus sind in einer Partie zusammengefasst. „Diese Zusammenlegung finde ich enorm fruchtbar“... Bei unserer Inszenierung werden die Zuschauer vielleicht differenzierend erkennen, dass die Figur in einem Moment ein forschender, ein sich beherzt äußernder Petrus ist, der versichert, er würde Jesus niemals verleugnen. Im nächsten Moment ist er ganz fragile innere Stimme“, so Wehner. Ohne noch weiter in das Werk einzugreifen, wird die den Menschen innewohnende Hölle bestmöglich hervorgehoben.
Schon in Bachs Musik ist eine räumliche Aufstellung vorgesehen, und das ist auch in die Konzeption des genialen Bühnenbildes von Volker Hintermeier eingeflossen. Ein liegendes Kreuz, mit einem ebenso großen Leuchtkreuz darüber, begrenzt durch eine Kirchenrosette, bietet viel Raum für Konstellationen (Licht: Andreas Frank). Die Akteure können das Kreuz bedächtig betreten, versuchen, es wegzuschieben, es zu tragen... Es unterstützt die großen Bilder, die die Regisseurin erzählen will: „Das Kreuz sieht aus, als wäre es von außen wie von einem Flugzeugträger hinein katapultiert worden, es ragt in den Orchestergraben, groß und gefährlich.“ Gleichzeitig erinnert es an ein schwankendes Schiff, den Untergang des Anstandes und der Menschlichkeit andeutend. Bühnennebel bricht das Licht zu „himmlischen“ Strahlenkränzen. Die teilweise sehr ausladenden schwarzen Kostüme von Su Bühler sind in vielen Jahrhunderten verankert, ein Symbol dafür, dass sich das Wertesystem seit der Kreuzigung nicht verbessert hat? Nur die Lichtgestalt Jesus trägt ein weißes Hemd.
„Zusammenlegung der Rollen enorm fruchtbar...“
Der sehr junge Interpret Julian Habermann (Evangelist) bewältigt die Doppel-Partie (Rezitativ und Tenor-Soli) leuchtend hell mit großartiger Diktion, verbindet dabei überzeugend alle Register. Differenziert liedhaft, zart mit wunderbar fein beseelten Piani strömt seine Stimme. Sein Gefühl für Nuancen ist intensiv, schmerzlich treibend, packend weiß er sich zu ereifern. Hier gelingt es einem Rohdiamanten, sich in die Phalanx berühmter „Evangelisten“ einzureihen. Als Jesus, der ja im ersten Teil der Matthäus-Passion eine fast ebenso wichtige Rolle spielt wie der Evangelist, überzeugt Konstantin Krimmel nicht nur durch Gestaltungskraft, sondern auch durch sein Gesamterscheinungsbild. Er überzeugt mit seinem warmen, geschmeidigen, wandlungsfähigen Bariton, mit seiner prophetischen Kraft und emotionalen Wärme. Seine bruchlosen Registerwechsel und seine dynamische Flexibilität begeistern. Er singt nicht Jesus, er ist es geradezu! Zu Recht wird er für einen der vielversprechendsten Liedsänger der jüngsten Generation gehalten, gar als „der kommende Fischer-Dieskau“ bezeichnet.
Der Sopran und das Spiel von Anna El-Khashem rechtfertigt in hohem Maße eine szenische Aufführung. Sie ist ein „langhaariger Engel“ mit himmlisch schöner Stimme, die mühelos in jubilierende Höhen gelangt. Ihre dicht gestalteten Gesangsbögen und das Abschwellen der Spitzentöne mit wohl dosierter Noblesse sind eine beglückende Glanzleistung. Ebenso überzeugend ist Anna Alàs i Jové als Alt. Dank ihrer dunkel leuchtenden Stimme mit warmer Resonanz, großer Flexibilität und ausgezeichneter Diktion gibt sie nicht nur der Arie „Erbarme dich..“ besonderen Tiefgang. Mit ihrem lyrisch-noblen Mezzosopran gelingt es ihr, kraftvoll glühend die Verfehlungen, den Schmerz und die Endlichkeit der Menschen aufzuzeigen.
Die theatralischen Worte der Doppelrolle Bass / Petrus, gesungen vom arrivierten Oratoriensänger Wolf Matthias Friedrich, sind ergreifend und differenziert. Auffällig präsent und mit schonungsloser Emphase gelingt es ihm, zwischen der Verleugnung von Jesus und „Gerne will ich mich bequemen, Kreuz und Becher anzunehmen...“ ein äußeres und inneres Bild widerzuspiegeln. Friedrichs Stimme hat große Qualitäten: Sie ist harmonisch miteinander verbunden und bewegt sich frei und leicht – beeindruckend gesungen: "Komm süßes Kreuz". Als besonders spannend erweist sich die Zusammenführung der Rollen von Judas und Pilatus. Beide Charaktere sind wankelmütig: Judas: „Ich habe übel getan, dass ich unschuldig Blut verraten habe...“, Pilatus: „Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten, sehet ihr zu.“ Beide übernehmen keine Verantwortung, bemitleiden sich selbst, obwohl gerade sie, die Kreuzigung hätten verhindern können. Mit seinem einfühlsamen Bariton berührt Benjamin Russell mit zarten, fast privaten Empfindungen, ergreifend fühlbar, „sein Leiden“ überträgt sich auf das Publikum.
Beiden Chören und den Turbae (Hohepriester: Martin Stoschka und Aldomir Mollov, Zeugen: Isolde Ehinger und Keun Suk Lee, Magd: Eunshil Jung und Eunyoung Park, Frau des Pilatus: Hyerim Park) unter der Leitung von Albert Horne und Christoph Stiller gelingt es, effektvoll die dramatischen Höhepunkte herauszuarbeiten, eine große Leistung des (Opern)Chors und der Chorsolisten des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, der nur selten Gelegenheit hat, ein szenisches Oratorium zu singen. Wenn die aufgestachelten Juden sich zusammenrotten, sich um ausgestreckte Arme und Fäuste scharen, im kollektiven Judaskuss rufen "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" und „Barnabam!“ im dramatischen Aufschrei skandieren, ist es die Erfüllung einer schrecklichen blasphemischen Prophetie. Im Schlusschoral von Teil I hebt Bach den Blick aus der Enge konkreter Anklagen hinaus aufs Menschliche: „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ – hier bleibt kein Raum für eng gestrickte Schuldvorwürfe. Ein einziges Mal ist eine einstimmige Chor- und Orchesterpassage zu hören, in der Jesus bekenntnisartig mit den Worten zitiert wird: „Ich bin Gottes Sohn“. Auch die Jugendkantorei der Ev. Singakademie unter der neuen Leitung von Niklas Sikner ist glänzend disponiert. Die Mädchenstimmen sind ergreifend. Wenn die Bürger Jerusalems darüber diskutieren, ob Jesus oder Barnabas hingerichtet werden soll, schreien sie sich stumm an, gestikulieren wild mit den Händen.
Konrad Junghänel, Musikalische Leitung, Großmeister der historischen Aufführungspraxis, vertraut den „beiden Orchestern“ des Hessischen Staatsorchester Wiesbaden, die mit wunderbarer Leichtigkeit, nie dominierend, aufspielen. Es gelingt ihm, Bachs musikdramatisches Meisterwerk mit nie nachlassender Intensität zu dirigieren, den innigen meditativen Momenten und dramatischen Ausbrüchen Raum und Aura zu verleihen. Die gewählten Tempi unterstreichen gekonnt den Kontrast des Werkes. Beängstigend in ihrer Dramatik sind die Turba-Chöre: Auch gelingt es Junghänel, die Psychologie einer aufgepeitschten Menge musikalisch in Szene zu setzen - emotional absolut unentrinnbar.
Nach dem ergreifenden Schlussgesang „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ macht sich zunächst ergriffene Stille breit, die in zögernden Applaus übergeht, um dann mit begeisterten Bravi zu enden.
Matthäus-Passion im Hessischen Staatstheater; die weiteren Termine: 5.2.; 8.2.; 12.2.; 8.3.; 10.4.2020
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