Wiesbaden, Hessisches Staatstheater, Die Meistersinger von Nürnberg - Richard Wagner, IOCO Kritik, 02.10.2018

Wiesbaden, Hessisches Staatstheater, Die Meistersinger von Nürnberg - Richard Wagner, IOCO Kritik, 02.10.2018

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Hessisches Staatstheater Wiesbaden © Martin Kaufhold
Hessisches Staatstheater Wiesbaden © Martin Kaufhold

 Die Meistersinger von Nürnberg – Richard Wagner

- In höchster finanzieller Bedrängnis -

von Ingrid Freiberg

Die erste Skizze zur Oper Die Meistersinger von Nürnberg verfasste Richard Wagner 1845 während eines Kuraufenthaltes in Marienbad. Der Entwurf blieb zunächst unverarbeitet liegen. Erst 1861 verpflichtete er sich - wieder einmal in höchster finanzieller Bedrängnis - gegenüber dem Verleger Franz Schott, diese Oper zu komponieren. In völliger Zurückgezogenheit schrieb er in nur 30 Tagen das Libretto in Paris. Anfang 1862 reiste er nach Mainz und erhielt vom Verlagshaus Schott den Kompositionsauftrag und einen ansehnlichen Vorschuss.

Hessisches Staatstheater / Die Meistersinger von Nürnberg - hier : Oliver Zwarg als Hans Sachs © Monika Forster
Hessisches Staatstheater / Die Meistersinger von Nürnberg - hier : Oliver Zwarg als Hans Sachs © Monika Forster

Wiesbaden, Kettenhund Leo und das Heckelphon

Daraufhin mietete Wagner zwei Räume in der stattlichen Villa Annika, nahe des Biebricher Schlosses  – wie immer nobel und in fürstlicher Umgebung... Diesen Ort wählte er nicht nur wegen der reizenden Lage direkt am Rhein, sondern auch wegen der Möglichkeit, in kurzer Zeit die Theater von Wiesbaden, Mainz, Darmstadt und Mannheim erreichen zu können. In Biebrich schrieb er – noch vor der Komposition der eigentlichen Oper – das hinreißende Vorspiel und begann mit der ersten Szene. In dieser Zeit spielte Wagner sogar mit dem Gedanken, auf der Adolfshöhe sein eigenes Festspielhaus zu errichten. Seine Arbeit geriet jedoch ins Stocken! Die Bulldogge des Vermieters, der Kettenhund Leo, biss ihn in den Daumen, so dass er nicht mehr schreiben und komponieren konnte. Das hatte fundamentale Auswirkungen: Der Hund erhielt nach seiner Abreise einen Teppich zum Schutz gegen frostiges Wetter... und Wiesbaden verlor die geplanten Wagner Festspiele!!! Nach dem Biss reiste Wagner nach Wien ab, wo er Hans Richter kennenlernte. Eine schicksalhafte Begegnung: Richter erstellte für ihn die Druckvorlage der Meistersinger-Partitur und wurde zum unverzichtbaren Assistenten, der u.a. die ersten Aufführungen des Ring des Nibelungen in Bayreuth dirigierte.

Erst nachdem Wagner in König Ludwig II. einen großzügigen Förderer gefunden hatte, konnte er die Komposition seiner Meistersinger beenden, die schließlich am 21. Juni 1868 in München zur Uraufführung kamen. Geblieben ist Wiesbaden eine Erfindung: Mit seinem Schaffen beeinflusste Richard Wagner einen ansässigen Holzblasinstrumentenmacher, Wilhelm Heckel, der den Wünschen des Komponisten folgend eine Bariton-Oboe, das so genannte Heckelphon, erfand.

Hessisches Staatstheater / Die Meistersinger von Nürnberg - hier :Ensemble © Monika Forster
Hessisches Staatstheater / Die Meistersinger von Nürnberg - hier :Ensemble © Monika Forster

Genial, poetisch, peinlich und umstritten

Tradition oder Veränderung, jung oder alt, Regeln und Gesetze oder Chaos und Anarchie, Eigeninteressen oder Gemeinschaftswohl, national oder global – ein Balanceakt, der eine Gesellschaft auf Gedeih und Verderb prägt. Die Meistersinger-Welt zeigt ein Künstlerdrama und eine Liebesgeschichte als treibende Kräfte und schließlich das Volk als Zünglein an der Waage. Der Grat, der hier das Komische vom Tragischen unterscheidet, ist schmal. Wagners Zauberwort heißt Poesie. Ein Meister wie Hans Sachs, mit Klugheit, Menschlichkeit, Mut und List, Einsicht und Verzicht ausgestattet, muss, um das Chaos abzuwenden, Wege in eine Zukunft aufzeigen.

Jedoch ist das Geniale in den Meistersingern auch mit dem Peinlichen untrennbar verquickt und verwoben. Und jene Elemente, die uns in diesem Werk stören oder abstoßen – Deutschtümelei, Chauvinismus und Brutalität - sind immanente Bestandteile des Librettos wie der Partitur: Sie lassen sich mehr oder weniger akzentuieren, aber niemals eliminieren. Wagner bleibt der umstrittenste Künstler der deutschen Musikgeschichte und die Frage des antisemitischen Gehalts seines Werkes bildet den harten Kern einer weltweiten Kontroverse.

In seiner detailverliebten Wiesbadener Inszenierung geht es Bernd Mottl um Regeln für die Kunst und um eine Feinzeichnung des menschlichen Miteinanders. Er sieht unsere Gesellschaft am Scheideweg, wie auch Richard Wagner im Nürnberg des 16. Jahrhunderts, zeichnet er  eine Stadt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wer hat darüber zu entscheiden? Was ist erhaltenswert und was muss neuen Entwicklungen angepasst werden? Seine Meistersinger sind ein Club alter von Krankenpflegern begleiteten Herren, die ihre angestaubten Ideale bewahren wollen. Sie haben keinen Bezug zur Gegenwart. Hans Sachs, von eigenen Niederschlägen geprägt – in einem Video wird seine verstorbene Frau und die Geschäftsaufgabe seiner Schusterwerkstatt gezeigt – sucht lebensweise den Ausgleich zwischen Tradition und Fortschritt.

Stolzing unterscheidet sich deutlich von der traditionell altfränkischen Butzenscheiben-romantik  mit seiner (Motorrad-)Kluft und unterstreicht damit von Anfang an seine Zugehörigkeit zur rasenden Moderne. Erst als Sachs ihm hilft, das Lied zu schaffen, mit dem er das Wettsingen und damit seine geliebte Eva gewinnen wird, und ihm einen Trachtenjanker „zuordnet“, wird aus dem jungen liebestollen Feuerkopf, der die Nürnberger Jugend in seinen Bann zieht, zumindest optisch ein Meistersinger.

Wenn er sich mit allen anderen auf der Festwiese, hier ein Festsaal, zum Sängerwettstreit trifft, wird die sich beschleunigende oberflächliche Zeit deutlich: Selfies nutzend beschäftigt sich das Volk mit eigenen Gedanken, Gefühlen und Motivationen. Fast unbeachtet beschwört sie Hans Sachs "Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst …" Seine Worte finden keine Beachtung. Er kann den zerstörerischen Wahn des Volkes nicht bremsen, es vor ihrem sinnlosen Übereifer nicht schützen. Und er gewinnt auch Stolzing nicht, der die Meisterwürde ablehnt und mit Eva, Motorradhelme in der Hand schwingend, in ein neues modernes Leben entschwindet.

Mit Bühnenausstattung und Kostümen parodiert Friedrich Eggert die hausbackene konservative Kleinbürgerlichkeit mit leisem Strich: Ein 50er-Jahre Mehrfamilienhaus, in dem die Meister wohnen, und wo sich auch ihr Treffpunkt, die Gaststätte Alt-Nürnberg, mit Eichenmöbeln, Bleiglasfenstern und bunten städtischen Wimpeln befindet, unterstützt - auf mehreren Ebenen bespielbar -  den Gesang der Akteure; ihr Aktionsradius ist allerdings eingeschränkt. Die mit Samt und Pelz historisch aufgepufften Kostüme unterstreichen die Behäbigkeit der in die Jahre gekommenen Meister. Besonders Veit Pogner wird durch Kostüm und dunkle Brille so gehemmt, dass er schon deshalb auf die Hilfe seines Lehrbuben /Krankenpflegers angewiesen ist.

Hessisches Staatstheater / Die Meistersinger von Nürnberg - hier : Oliver Zwarg als Hans Sachs und Betsy Horne als Eva © Monika Forster
Hessisches Staatstheater / Die Meistersinger von Nürnberg - hier : Oliver Zwarg als Hans Sachs und Betsy Horne als Eva © Monika Forster

Auf Festspielhausniveau

Patrick Lange, in der Nähe von Nürnberg geboren, ehemaliges Mitglied der Regensburger Domspatzen, ist geradezu prädestiniert, die Meistersinger zu dirigieren. Unter seiner Leitung ist dem Hessischen Staatsorchester Wiesbaden ein starker Saisonauftakt gelungen, den das Publikum bereits vor Beginn des 3. Aktes feierte.

Der heitere musikalische Grundcharakter der Oper wird überschäumend vor Kraft, zart und transparent in allen Stimmen, überreich an verzaubernder Kontrapunktik und Klangfarben bedient. Ein herrlich perlender Klangfluss verwöhnt das Publikum. Die SängerInnen bewegen sich spielerisch auf einem zeitweise seidenleichten Klangteppich. Im Morgentraum-Quintett, in dem alle vom Glück träumen, aber auch um dessen Zerbrechlichkeit wissen, umgarnt das Orchester die Träumer einfühlsam und zärtlich. Christina Kuhn spielt die Beckmesser-Harfe, eine kleine Harfe mit Stahlsaiten, für alle sichtbar in der Proszeniumsloge. Dabei begleitet sie meisterhaft die stummen von Beckmesser gezupften Lautentöne auf der Bühne.

Das Rollendebüt von Oliver Zwarg als Hans Sachs ist gelungen. Mit einer in der Mittellage wohlklingenden, in der Höhe durch einen fast tenoralen Glanz ausgezeichneten Stimme mit gewaltiger stimmlicher Ausdauer bewältigt er diese Riesenaufgabe. Glaubhaft gelingt es ihm, das Hadern zwischen Schuster- und Komponistenleben, zwischen Autorität, Selbstsucht, Sehnsucht und Triebverzicht zu zeigen – auch, dass er am Schluss, im großen Jubel, einsam ist. Weder das Zarte (Flieder-Monolog), noch polternde Wut kommen zu kurz. Zwarg singt textverständlich, ermüdungsfrei verschwenderisch.

Der scheinbar mühelose Strahletenor von Marco Jentzsch als Walther von Stolzing schmeichelt den Ohren. Sein kristallklar mit süffigen piani gestaltetes Preislied Morgenlich leuchtend im rosigen Schein..., mit Innigkeit und Anmut vorgetragen, gehört zu den anrührendsten Momenten. Seine Präsenz und Kondition sind bewunderndswert.

Hessisches Staatstheater / Die Meistersinger von Nürnberg - hier : Margarete Joswig als Magdalena und Marco Jentzsch als Walther von Stolzing  © Monika Forster
Hessisches Staatstheater / Die Meistersinger von Nürnberg - hier : Margarete Joswig als Magdalena und Marco Jentzsch als Walther von Stolzing © Monika Forster

Thomas de Vries debütiert in der Partie des verknöcherten Stadtschreibers Sixtus Beckmesser, mal charismatisch brillierend, mal nervend selbstgerecht. Gekonnt gelingen ihm die verschlagenen Beckmesser-Koloraturen, die technisch eine Herausforderung voller tückischer Stolpersteine sind. Er zeigt sich streng regelkonform denkend, akademisch konservativ, als an den Buchstaben der Vorschriften klebender Charakter. In der entsetzlich schwierigen Prügelfuge überzeugt er. Tragisch komisch sein Vortrag im Festsaal – anstatt „Morgenlich leuchtend“ singt er „Morgen ich leuchte“, oder „Wonnig entragend“ „Wohn‘ ich erträglich“ oder gar herrlich ein Baum“ „häng‘ ich am Baum“. Hier beweist Thomas de Vries sein feines Gefühl für Nuancen und erheitert gekonnt das Publikum.

Betsy Horne verkörpert Eva mit Empathie. Mit ihrem betörend leuchtenden samtweichen und klaren Sopran weiß sie sehr wohl, wie sie zu ihrem Willen kommt. Mit viel Temperament, nicht das naiv-fromme Mädchen, ist sie eine junge zielstrebige Frau, die das Objekt ihrer Begierde wild knutschend ins Nebenzimmer zieht. Es gelingt ihr, sich von den alten Meistern zu emanzipieren, sich zu befreien. Ihre Eröffnung des Quintetts im 3. Akt ist bewegend.

Erik Biegel ist ein charmant-frecher David mit hellem lyrischen Tenor. Er überzeugt darstellerisch und diktionsfreudig mit vortrefflicher Bühnenpräsenz. Fast eine Luxusbesetzung ist Margarete Joswig als Magdalena. Weich timbriert lässt ihr in der Höhe leuchtender Mezzosopran aufhorchen. Als stark sehbehinderter Veit Pogner ist der junge Young Doo Park kaum wiederzuerkennen. Mit seinem sonoren warmen Bass ist er ein souveräner, aber auch zögernder Vater, der seine Tochter - fernab von selbstgefälliger Protzigkeit - als Preis anbietet. Benjamin Russell als eifriger Organisator Fritz Kothner beeindruckt mit klangschön kräftigem Bariton und eloquenter Deklamation.

Richard Wagner - bewundert © IOCO
Richard Wagner - wird bewundert © IOCO

Die alten Meister Ralf Rachbauer (Kunz Vogelgesang), Florian Kontschak (Konrad Nachtigal), Rouwen Huther (Balthasar Zorn), Reiner Goldberg (Ulrich Eisslinger), Andreas Karasiak (Augustin Moser), Daniel Carison (Hermann Ortel), Philipp Mayer (Hans Schwarz) und Wolfgang Vater (Hans Foltz) tragen beeindruckend differenziert, bis hin zur geifernden Kakophonie in der Prügelfuge, zum Erfolg bei.

Hervorzuheben ist der profunde Nachtwächter von Tuncay Kurtoglu. Als Lehrbuben /Pflegekräfte agieren ausgezeichnete, bereits etablierte, Nachwuchssänger, die ohne Zweifel bald Meister-sängerniveau haben werden.

Der von Albert Horne einstudierte hellwache, mit viel Verve und Eindringlichkeit agierende Chor und Extrachor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden beeindruckt durch Spielfreude. Sicher und präzise profilieren sich die SängerInnen besonders in den Massenszenen, bei der Prügelfuge und im Festsaal. Eindrücklich gelingt  "Die Geister, die ich rief..." zu einem vortrefflichen Schluss.

Der Jubel  am Ende des Abends ist groß. Das gutgelaunte Publikum hatte anschließend die einmalige Gelegenheit, statt eines Festsaals eine natürliche Festwiese vor dem Theater zu betreten. Stadtfest und Erntedankfest sei Dank...

Die Meistersinger von Nürnberg am Hessischen Staatstheater; die weiteren Termine 3.10.2018; 14.10.2018; 4.11.2018; 22.4.2019; 30.5.2019

---| IOCO Kritik Hessisches Staatstheater Wiesbaden |---

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