Wiesbaden, Hessisches Staatstheater, Der Barbier von Sevilla - Gioacchino Rossini, IOCO Kritik, 11.09.2020
Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Der Barbier von Sevilla - Gioacchino Rossini
- Rosina, eine Geigerin, umwirbt den eine silberne Klarinette spielenden Grafen Almaviva -
von Ingrid Freiberg
Das Personal kennen wir! Beaumarchais, Sturmvogel der französischen Revolution, hat zwei Komödien vorgelegt: II barbiere di Siviglia (1775) und Le nozze di Figaro (1784). Mozart vertonte letztere 1786, Rossini erstere 1816. Die Handlung bei Rossini geht der Handlung bei Mozart voraus – verwirrend! Rossinis Vertonung des ersten Teils von Beaumarchais’ Figaro-Trilogie ist Komödie, musikalisches Funkensprühen – und ein Vorgeschmack auf die gesellschaftskritischen Töne, die Mozart in Le nozze di Figaro lauter werden lässt. Der Intendant des Hessischen Staatstheater Wiesbaden, Uwe Eric Laufenberg, entschloss sich trotz der strengen einengenden Corona-bedingten Vorgaben, auf zwei aufeinanderfolgenden Abenden diese beiden Opern auf die Bühne zu bringen. Hierbei handelt es sich um eine ideengeschichtliche Gegenüberstellung, die anhand von Schlüsselszenen versucht, den Barbier als reaktionäres Gegenstück zu Mozarts aufklärerisch geprägtem Le nozze di Figaro zu deuten.
II barbiere di Siviglia
Gioacchino Rossini hat Opern geschaffen, die bis heute weltweit die Opernkultur prägen und scheinbar zeitlos überdauern. Der vielseitige französische Literat Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, der ursprünglich Uhrmacher, zeitweise auch Geheimagent im Dienste Ludwigs XVI. und versierter Geschäftsmann war, arbeitete ab 1772 am ersten Teil der Trilogie rund um die Figaro -Figur. Le Barbier de Seville wurde in der Comedie Frangaise uraufgeführt, aber aufgrund seiner Länge enttäuscht aufgenommen. Innerhalb von nur drei Tagen kürzte Beaumarchais die Komödie auf vier Akte und sicherte sich einen grandiosen Erfolg. Es war das Pariser Ereignis schlechthin und der Höhepunkt im Leben von Beaumarchais. Selbst die Einnahmen des Tages stellten einen Rekord in der Theatergeschichte dar: 6511 Livres. Erst dreißig Jahre nach Mozarts Le nozze di Figaro komponierte Rossini seine Oper (Libretto Cesare Sterbini): Figaro, ein stadtbekannter Barbier in Sevilla, unterstützt den Grafen Almaviva bei der hindernisreichen Eheschließung mit Rosina, dem Mündel des mürrischen Don Bartolo. Der verliebte Alte will sie heiraten; ein junger und aufgeweckter Liebhaber kommt ihm zuvor und macht sie am gleichen Tag, vor der Nase und im Haus des Vormunds, zu seiner Frau. Bartolos Wut verraucht schnell, als ihm der Graf Rosinas Mitgift schenkt. Das ist die ganze Geschichte, aus der man nun mit gleichem Erfolg eine Tragödie oder eine Komödie bzw. ein Rührstück machen kann.
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Musik-Theater, sehr sehr konsequent…
In seiner ersten Opernregie überrascht Tilo Nest das Publikum mit einem hochgefahrenen Orchestergraben, links die Bläser, rechts die reduzierten Streicher, dazwischen die Holzbläser. Wo scheinbar nur Musiker zu sitzen scheinen, entpuppt sich bei näherem Hinsehen, dass Rosina als Geigerin mit dem Grafen Almaviva schöntut, der eine silberne Klarinette spielt. Wegen ihrer Unaufmerksamkeit wird sie vom Dirigenten von der Bühne verwiesen. Kurz darauf ist sie von der Proszeniumsloge aus zu hören. Der Musiklehrer Basilio spielt Bass, Ambrosio Posaune. Der Abend beginnt mit schrecklichen Misstönen, bis Figaro den Maske tragenden Dirigenten darauf aufmerksam macht, dass die Partitur auf dem Kopf steht, und sie für ihn richtig herumlegt! Überhaupt trägt das Faktotum der ganzen Stadt schon zu Beginn zum Gelingen der Oper bei: Er kümmert sich im das marode Licht, kehrt die Bühne, bürstet den Vorhang, versenkt den Orchestergraben, dirigiert parodierend mit und zeigt schon zu Beginn seine vielfältigen Fähigkeiten! Einnehmende Regieeinfälle! Figaros Scherze allerdings sind überflüssig und plump… Das Credo von Tilo Nest, Theater ist für mich das Gegenteil von Stillstand, unterstreichen Wedelbewegungen, jeder zeigt auf jeden, es gibt sich wiederholende Slow Motions - eine äußerst turbulente Fassung. Alle Personen dieser akrobatisch virtuosen Buffa scheinen manchmal nicht ganz dicht zu sein. Dass der Abend stimmig wirkt, verdankt diese sehenswerte Inszenierung auch dem sich enthusiastisch und mit immenser Lust auf das Spiel einlassenden Ensemble. Musik-Theater, sehr sehr konsequent…
Das Bühnenbild von Gisbert Jäkel gibt mit seinen klassisch variablen Fassaden, angelehnt an die Entstehungszeit, Raum für ein geschwindes Verwirrspiel. Die Kulissen werden hereingeschoben, herabgesenkt, die Drehbühne eingesetzt, Umbauten werden blitzschnell ausgeführt. Jäkel bezieht sich auf die allgegenwärtigen Corona-Gerüchte und lässt Don Basilio von Figaro Fledermausflügel anziehen. Eine schillernde Echse in Rosinas Zimmer trägt wie sie eine überdimensionale Perlenkette, die von ihr kokett reitend geschwungen wird. Der Flügel im Musikzimmer hat keine Beine und dient auch als Tanzfläche oder gar als Metapher, wenn beim Spiel von Almaviva / Alonzo Schaum aus dem Instrument tritt… Bartolos Haus wird mit einem Violinschlüssel aufgeschlossen. Ein heftiges Gewitter zieht mit Blitz und Donner und mächtigem Rauch auf, Goldflitter führt zum guten Ende. Die farbenfroh akzentuierten Kostüme von Anne Buffetrille und Mirjam Ruschka decken allerlei Theaterstile ab. Dabei trifft stilisierte historische Kostüme am ehesten zu. Sie passen haargenau und sind keiner Mode unterworfen: Thomas de Vries (Bartolo) ist mit seinen gelockten Haaren, seinem dicken Leib, verborgen unter einem eleganten "Cutaway" kaum wiederzuerkennen. Süß und scheinbar unschuldig sind das rosagepunktete Babydoll-Kleid mit Petticoat und einer großen mehrreihigen Perlenkette, weiße Söckchen, schwarze Lackschuhe und eine rosa Riesenschleife, die Rosina als Mündel im Haar trägt. Nicht mehr so naiv, trägt sie aufregende Kleider im Carmen-Look. Basilio, mit Elvis-Frisur, ist in einen Nadelstreifenanzug gekleidet wie auch der als Musiklehrer verkleidete Graf / Alonzo. Seine Kostüme unterstreichen die Charade: Uniform als Offizier der Prinzengarde (Männerballett 1748), verschiedenfarbige Torero-Anzüge… Mit grauer Jacke, einem Karo-Pullunder, Jeans und Turnschuhen saust Figaro über die Bühne. Schwarz-weiß gekleidet, dicke Lockenwickler tragend beobachtet Berta das Treiben… Bedienstete tragen Corona-Masken.
Mit immenser Spiellust
II barbiere di Siviglia ist die Oper, die ich bisher am häufigsten gesungen habe, und trotzdem höre ich nie auf, neue Details in der Partitur und an der Figur des Conte Almaviva zu entdecken. Die Komposition ist höchst ausdrucksstark, voller Virtuosität und ausgearbeitetem Humor, immer fesselnd!, so Ioan Hotea. Es ist ihm anzumerken, dass er die Rolle liebt: Keine Drücker, kein Forcieren, seine Stimme strömt kraftvoll und überaus differenziert. "Ah, che d'amore la fiamma io sento"…,welch eine wunderbar timbrierte, sauber intonierende Tenorstimme ist da zu erleben! Überaus komisch und nervend sein "Pace e gioia sia con voi!" Thomas de Vries als Bartolo, ein glaubwürdig alter Zausel, kämpft unglaublich leichtfüßig mit seiner Leibesfülle. Höchst komödiantisch gibt er den von sich überzeugten Einfallspinsel: "A un dottor della mia sorte"... In Rosinas Musikunterricht setzt er geziert mit einer schönen Arie aus der guten alten Zeit dagegen Quando mi seivicina… und merkt nicht, dass alle über ihn lachen. Mit seinem Nuancenreichtum und seiner leidenschaftlichen Hingabe glänzt er mit allem, was einem Bartolo ein unverwechselbares Profil gibt. Seine sängerisch–darstellerische Ausdrucksskala ist wohltönend und prächtig, verfügt über eine großartige Diktion. Ein Glücksfall ist Silvia Hauer als Rosina. Schon rein optisch weiß sie zu gefallen – jeder Ausdruck gelingt ihr. Sie besitzt eine anregende Tiefe, ist koloraturgewandt und hat neben dem nötigen Stimmumfang einen spritzigen, charmanten, flüssigen Mezzosopran, der es ihr ermöglicht, als selbstbewusste, willensstarke Femme fatale, aber auch als kitschiges Liebesnaivchen zu kokettieren. Die berühmten Arien "Una voce poco fa…, Contro un cor che accende amore di verace invitto ardore"… und "A mezzanotte in punto"… gehen zu Herzen. Ungebremste extrovertierte Energie hat Hauer überdies. Auch Christopher Bolduc überzeugt als schlitzohriger Figaro, sieht blendend aus und zeigt ein übers Komödiantische hinausgehendes Profil. "Largo al factotum della città", das ist er wirklich! Er wirbelt über die Bühne, ist Tausendsassa, Kuppler, Ideengeber und Schlaumeier. Die Welt, in der der immer einen Ausweg wissende Figaro die Fäden zieht, ist klein und groß zugleich. Großartig das Duett mit Almaviva: "All‘idea di quell metallo"… Bolduc fehlt es weder an Stimmkraft noch an Raffinesse im Ausdruck.
Young Doo Park singt einen stimmgewaltigen prachtvollen Basilio. Er hat eine ungeheure stimmliche und szenische Ausstrahlung! "La calunnia", die Angst vor Verleumdung ergreift nicht nur Bartolo, sie geht auch auf das Publikum über… Diesen Bass hören zu dürfen, ist ein großes Vergnügen! Mit der Berta-Arie "Il vecchiotto cerca moglie"… ersingt sich Michelle Ryan einen besonders verdienten Applaus. Julian Habermann als Fiorillo ist ein ungeschickt anhänglicher Diener des Grafen, der ihm sogar vom Bühnenhimmel schwebend zur Hilfe kommt, und Thomas Braun der leicht vertrottelte, dennoch nützliche Notar Ambrosio. Erstklassig die letzten Strophen des Vaudeville-Finales – erschlagend durch Turbodrive und Turbulenzen: "Mi par d'esser con la testa in un'orrida fucina"... Die Rezitative begleitet zeitgemäß und sensibel Levi Hammer auf einem Hammerflügel, der auf der Bühne steht.
Ungewöhnlich, geschmeidig mit berauschender Lebenslust
Der Chor des Hessischen Staatstheater Wiesbaden unter der Leitung von Albert Horne zeigt wieder einmal, wie mühelos spielerisch und mit großer Präzision er in der Lage ist, eine Oper mitzutragen. Mit der Orchester-Reduktion des Hessischen Staatsorchester Wiesbaden geht der Musikalische Leiter, Konrad Junghänel, in der für ihn bekannten Art und Weise souverän und einfühlsam um. Musiker, die Abstand halten müssen, durch Trennwände voneinander getrennt und anders positioniert sind, werden leicht zu Solisten. Die Instrumentalisten sind sehr exponiert… So ist es äußerst schwierig, zu einem Gesamtklang zu finden. Junghänel gelingt es dennoch, den tänzerischen Elan aufleben zu lassen. Rossinis Partitur lebt von den aberwitzigen und völlig sinnfreien, aber artistischen Tempo-Steigerungen. Alles bedingt eine geschmeidige Leitung und berauschende Lebenslust. Das ist gelungen!
Das sichtlich amüsierte Publikum spendet viel Applaus - Nach langer kultureller Abstinenz ist es besonders glücklich!
Der Barbier von Sevilla am Hessischen Staatstheater Wiesbaden; die weiteren Vorstellungen am 11.9.; 13.9.; 17.9.; 18.9.; 19.9.; 26..9.; 21.10.; 1.11.2020 und mehr
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