Venedig und die Oper - Willem Bruls, IOCO Buch-Rezension, 13.12.2021
Venedig und die Oper - Willem Bruls
Venedig und die Oper - Auf den Spuren von Vivaldi, Verdi und Wagner - Leipzig: Henschel Verlag 2021. 264 S., ISBN 978-3-89487-818-4, 20,00 € (Hardcover)
von Julian Führer
Die Stadt Venedig fasziniert: Der lugubre Charme, die spezielle Geräuschkulisse (ohne Autos!), der oft leicht faulige Dunst, das ganz besondere Licht – seit Jahrhunderten ist die Lagunenstadt mehr als eine reiche Handelsrepublik und auch mehr als nur ein Touristenmagnet (das natürlich auch). In der Musikgeschichte hat Venedig eine durchaus wichtige Rolle gespielt; Willem Bruls geht ihr im Stil eines Spaziergangs nach.
Wie Bruls gleich anfangs klarstellt, wurde Monteverdis L’Orfeo in Mantua uraufgeführt; die Oper als Musikgenre wurde nicht in Venedig erfunden, aber doch nicht weit von dort. In der Zeit zwischen 1600 und 1800 konzentrierte sich in Venedig vieles, was im Zusammenwirken zu einer bemerkenswerten Entfaltung des Musiklebens beitrug.
Mit den napoleonischen Kriegen endete kurz vor 1800 Venedigs Sonderstellung, doch blieb die Stadt aus anderen Gründen ein Anziehungspunkt für Komponisten wie Richard Wagner und im 20. Jahrhundert Luigi Nono. Bereits 1613 war Claudio Monteverdi in die Stadt gekommen.
Die stärksten Momente hat das Buch, wenn wir dem Autor und Erzähler Schritt für Schritt folgen und mit ihm gemeinsam rätseln, wo sich wohl der Eingang zu einem verwunschenen Palazzo befinden könnte und mit welchem Vaporetto man dort hinkommt. Wir folgen ihm in Kirchen, in denen die Musik Monteverdis und Vivaldis erklungen ist, die dortigen Raumverhältnisse werden in Bezug zur Musik und der damaligen Aufführungspraxis gesetzt. Wir folgen ihm auch in die Biblioteca Marciana und spüren Monteverdis und Francesco Cavallis Handschriften nach – wer die Arbeit mit Originalen kennt, ahnt es schon: Man findet oft nicht, was man sucht, aber etwas findet man immer. Dann stehen wir mit ihm bei Fondamente Nove und schauen zur Friedhofsinsel San Michele hinüber. Diese scheinbar zufälligen Spaziergänge, die durch eine Karte im vorderen und ein ausführlich gehaltenes Inhaltsverzeichnis im hinteren Umschlagdeckel illustriert werden, haben ihren ganz eigenen Reiz.
Vivaldis Wirken in Venedig ist schon oft dargestellt worden, hier gewinnt diese schillernde Persönlichkeit besonderes Profil durch die Nebeneinanderstellung mit anderen Komponisten. Wir begegnen bzw. begleiten auch Georg Friedrich Händel, Wolfgang Amadeus Mozart und Giuseppe Verdi. Richard Wagner, der oftmals in Venedig weilte und am 13. Februar 1883 im Palazzo Vendramin-Calergi starb, darf natürlich ebenfalls nicht fehlen.
Ein Leitmotiv des Buches sind Verfall und moralische Dekadenz. Der morbide Charme Venedigs wird immer wieder bemüht – manchmal vielleicht etwas zu stark. Dekadenz lauert auf einmal überall, auch in den Sujets von Vivaldis Opern (was grundsätzlich sein mag), und daraus wird der Schluss gezogen, die Stadt selbst habe „sich gewiss auch über ihre eigene schleichende Dekadenz Gedanken“ gemacht, was von einer Stadt vielleicht doch etwas viel verlangt ist (S. 103). Die Ausführungen zur Musik des 17. und 18. Jahrhunderts und zur Stadt Venedig selbst sind ungemein kenntnisreich; bei manchen historischen Gegebenheiten neigt der Autor allerdings zu manchmal gewagten Hypothesen: Es ist höchst fraglich, ob die vielen Kirchen mit alttestamentarischen Patrozinien, wie auf Seite 83 behauptet, wirklich auf eine „vorchristliche Identität“ hindeuten. Die Schwarzweißabbildungen gehen auf teilweise sehr alte Aufnahmen zurück (auch dort, wo es nicht zwingend nötig wäre, weil das betreffende Gebäude noch steht), so dass Venedig in diesem Buch noch verfallener und auch grauer wirkt, als es heutzutage eigentlich aussieht.
Im 19. Jahrhundert scheint der Schwerpunkt der Recherchen des Autors weniger gelegen zu haben. Richard Wagner wird ein Einfluss auf das „antisemitische Ressentiment der europäischen Bourgeoisie“ zugesprochen (S. 193); das mag für den deutschsprachigen Bereich zutreffen, für Frankreich hingegen dürfte Wagner spätestens nach 1871 infolge seiner franzosenfeindlichen Ausfälle kaum noch als intellektueller Leitstern gegolten haben (zum wagnérisme erfährt man hingegen kaum etwas). Auf der gleichen Seite heißt es: „Der Ring des Nibelungen enthält unzählige antisemitische Bezüge.“ Leider wird kein einziger davon angeführt, so dass man gerne wüsste, ob der Autor sich auf Adornos Analyse im Versuch über Wagner stützt oder hier andere Indizien im Sinn hat, von deren Präsentation die Forschung sicher profitieren würde (denn danach suchen viele schon seit langer Zeit…).
Das Buch ist zunächst 2018 unter dem Titel Venetiaanse zangen in niederländischer Sprache erschienen. Die Übersetzung ist einerseits aufwendig, da sie deutsche Fassungen der zitierten Texte aus gedruckten Werken unterschiedlicher Provenienz zusammenträgt und diese auch vorbildlich nachweist, andererseits hätte sie aber noch eine letzte Glättung gebrauchen können. Der deutsche Untertitel „Auf den Spuren von Vivaldi, Verdi und Wagner“ nennt zwar drei sehr bekannte und beliebte Komponisten, unterschlägt dabei aber, dass Bruls gerade bei seinen Studien zu Monteverdi und Cavalli wirklich spannendes Material zu präsentieren hat.
Unser künstlerisches Bild Venedigs ist nicht nur, aber sehr stark von Thomas Manns Tod in Venedig und die entsprechende Verfilmung durch Luchino Visconti geprägt. Maxence Fermine hat mit Le violon noir kurz vor der Jahrtausendwende einen halb phantastischen Roman publiziert, der die venezianische Musikwelt um 1800 herum einfühlsam nachzeichnet. Den meisten wird das literarische Venedig in Gestalt von Commissario Brunetti ein Begriff sein. Willem Bruls wagt den Spagat von forschungsbasierter Darstellung und plauderndem literarischen Spaziergang. Eine Art musikalischer Reiseführer, der aber vor allem dann von Nutzen ist, wenn man bereits eine gewisse Vorstellung von der Stadt und von der behandelten Musik hat.
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