München, Kammerorchester Ukraine, MUSIKALISCHE BRÜCKEN - SolistInnen-Gala, IOCO Kritik
Am 8. Februar 2024 veranstaltete das Kammerorchester Ukraina München in München das einzigartige Konzert „Musikalische Brücken“, das die Werke der ukrainischen Komponistinnen und Komponisten aus verschiedenen historischen Epochen präsentierte.
von Adelina Yefimenko
„Musikalische Brücken: SolistInnen-Gala“ - Konzert des Kammerorchesters Ukraine München
Die Ukraine ist eines der größten Länder Europas. Und doch ist sie kulturell eine große Terra Incognita! In den zwei Jahren seit Beginn des Krieges wächst das Interesse an diesem riesigen Erbe der ernsthaften Musik in Europa und weltweit. Die professionelle Musik der Ukraine zieht sich von Barock, Klassizismus, Romantik, einzigartiger ukrainischen Avantgarde bis hin zur Gegenwart und den jungen KünstlerInnen, die auch in der Zeit des Krieges Kraft und Inspiration zum Komponieren und Aufführen finden. Welche Ideen, welche Stilrichtungen haben ukrainische Komponistinnen und Komponisten im Lauf der Musikgeschichte entwickelt? Welche Wechselwirkungen und welchen Austausch gibt es zwischen den Musikerinnen und Musikern der Ukraine und denen in West- und Mitteleuropa?
Am 8. Februar 2024 veranstaltete das Kammerorchester Ukraina München das einzigartige Konzert „Musikalische Brücken“, das die Werke der ukrainischen Komponistinnen und Komponisten aus verschiedenen historischen Epochen präsentierte. Dieses Konzert wurde zu einer musikalischen Danksagung an alle, die seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges ihre Hilfe für Menschen in Notlagen geleistet haben. Auch dank der Unterstützung des Kulturreferates München, der Stiftung Bayerischer Musikfonds, der Ernst von Siemens Musikstiftung und der Ukrainischen Freien Universität (UFU) versammelte das Verein Lichtesel e. V. die ukrainische Musikerinnen und Musiker und organisierte das Konzert des Kammerorchesters Ukraina München im Kulturhaus Milbertshofen. Die Teilnehmer des Orchesters sind Studierende und auch international gefragte SolistInnen. Seit 2017 leitet das Orchester der ukrainische Dirigent Artem Lonhinov. Seine Ausbildung an der Hochschule für Musik und Theater München beendete er mit Masterabschluß im Fach Orchesterdirigieren in der Klasse von Prof. Markus Bosch und Prof. Georg Fritzsch im 2022. Aktuell ist Artem als Erster Kappelmeister und Assistent des Chefdirigenten der Oper Bern tätig.
Im ersten Teil des Konzertprogramms wurden die Werke der ukrainischen Komponistin Hanna Havrylets „Choral“ für Kammerorchester, des Komponisten Dmytro Bortnyansky „Konzert D-Dur“ für Bandura und Kammerorchester, des Komponisten Anatoly Kos-Anatolsky zwei Romanzen für Sopran und Kammerorchester: „Nachtigall Romanze“, „Oh ich gehe in die Berge“ und „Berglegende“ für Viola und Kammerorchester des Komponisten Jevhen Stankovytsch präsentiert.
Eröffnete das Konzertprogramm „Choral“ von Hanna Havrylets (1958-2022); sie starb in Kyjiw am 27. Februar 2022, am vierten Tag des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine. Sie konnte aufgrund der Kriegs-Situation keine akute ärztliche Versorgung bekommen. Dieses Werk wurde im Jahre 2005 für Kammerorchester komponiert und offenbart den charakteristischen Stils dieser Komponistin: hier wird archetypisches ukrainisches Melos mit der alten Passacaglia-Gattung kombiniert. Aber die Musiker des Orchesters haben diese ewige Traurigkeit als Klagelied über Trauer, Leid und Entbehrung der UkrainerInnen in dem jetzigen Krieg vermittelte. Mit Tränen bei vielen Menschen im Publikum, mit Beileid und mit der Schweigeminute endete dieses Werk.
Hanna Havrylets Werk ist neben sinfonischen Werken, Instrumentalkonzerten und Kammermusik verschiedener Gattungen mit der Chormusik, sowohl der weltlichen als auch der sakralen gekennzeichnet. Ihre Werke wurden sowohl in der Ukraine als auch in verschiedenen Ländern Europas und auch in Nordamerika aufgeführt. Auch in München wurde „Choral“ von Hanna Havrylets mehrmals aufgeführt.
Dazu ist zusätzlich zu erwähnen, dass für die ukrainische Musik die Sangbarkeit als eine der wichtigsten Quellen der professionellen Musik seit der barocken Mehrstimmigkeit gilt. Das Werk Dmytro Bortnyanskys schiente in der Folge des Konzerts dafür aussagekräftig. Der Komponist studierte an der Akademie in Bologna, auch wie Wolfgang Amadeus Mozart. Beide Komponisten hatten auch den gleichen Lehrer Padre Martini. So zeigen die Parallelen zwischen Bortniansky und Mozart nicht nur gemeinsame stilistische Merkmale der klassischen Musik, sondern auch eine echte Reflexion einer bestimmten historischen Phase in der Entwicklung der allgemeinen europäischen Kultur. Dmytro Bortnyansky hat Sinfonien, Kammermusik, Sonaten, die Opern „Falke“, „Alcide“ u.a., auch zahlreiche Musikstücke für den Gottesdienst und über 100 Motetten und Kantaten komponiert. Im Konzert „Musikalische Brücken: SolistInnen-Gala“ wurde aus diesem Werk eine echte Rarität kreiert: eine Überarbeitung Bortnjanskys Cembalo-Konzert für das ukrainische Volksinstrument Bandura. Virtuosität, frische Interpretation Natalia Hrabarskas – der ukrainischen Banduristin, Preisträgerin von nationalen internationalen Wettbewerben – begeisterte das Publikum.
Leider musste die ukrainische Sängerin Natalya Dytyuk wegen der Krankheit ihr Auftritt mit den folgenden im Konzertprogramm Lidern von Anatoly Kos-Anatolsky absagen. Deshalb spielte das Kammerorchester Ukraina München anstelle seiner Lieder ein Orchesterstück. Brillant und feurig überraschte Zuhörer „Spanische Tanz“ von ukrainischen Komponisten Myroslav Skoryk, der mit seinem „Huzulischen Tryptyhon“ auch in München mittlerweile bekannt ist.
Durch diesen beiden herausragenden Komponisten wurde die musikalische Moderne der Ukraine weiterentwickelt. Skoryks „Huzulen Triptychon“ ordnen Musikwissenschaftler als eines der wichtigsten Beispiele der “neuen folkloristischen Welle” der 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts ein. So ist im Werk des aus der ukrainischen Stadt Kolomyia stammende Anatoly Kos-Anatolsky (1909-1983) huzulische Volksmusik mit dem Sezession-Stil verschmolzen. Auch der Einfluss europäischer Spätromantik und Impressionismus führte den Komponisten zu innovativen Entdeckungen und schuf eine fantastische Symbiose des Traditionellen mit dem Modernen. In den 1930er Jahren gründete Kos-Anatolskyi zusammen mit Leonid Yablonskyi eine Band namens Yablonskyi Jazz Combo (Yabtso Jazz), die ein mit einem Repertoire aus Jazz, Swing und Bigband-Musik die bedeutenden ukrainischen Melodien modern bearbeiteten und interpretierten.
Den ersten Teil des Konzertprogramms beendete „Die Berglegende“ für Viola und Kammerorchester von Jevhen Stankovytsch (*1942). Stankovytsch ist einer der bedeutendsten lebenden zeitgenössischen Komponisten der Ukraine. Im September 2022 hatte der Komponist in Kyiw sein 80-jähriges Jubiläum gefeiert. Wichtig ist zu erwähnen, dass seine Kammersymphonie Nr. 3 im Jahre 1985 von der Internationalen Tribüne der Komponisten der UNESCO in die Liste der 10 besten Musikwerke des Jahres aufgenommen wurde. Die Liste seiner Werke zeugt von der unendlichen Vielfalt der innovativen Gattungen: Volksoper, Ballette, Kaddisch-Requiem „Babyn Yar“, Konzerte, Symphonien, Film- und Theatermusik. Das Werk für Viola und Kammerorchester ist eine Anspielung auf den Nimbus der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Komponist aber verwendete diese Instrumentalbesetzung, um starke nationale Affekte zu vermitteln. Die Bratsche-Solo in der „Berglegende“ wirkt wie die berührende Stimme der Seele eines Menschen, der seine Heimat liebt und diese Liebe weiter in die Welt hinaus besingt. Die Solistin Alona Khlevna – die junge ukrainische Bratschistin aus Region Luhansk – interpretierte „Die Berglegende“ als echte Kennerin Stankovytschs Stil. Ein herausragendes Talent, eine exzellente Musikerin mit Leid und Seele! Mittlerweile wurde sie in München entdeckt, studiert an der Hochschule für Musik und Theater München bei Prof. Roland Glassl und spielt in dem Orchester der Bayerischen Staatsoper.
Im zweiten Teil des Konzertprogramms spielten MusikerInnen ausgewählte Werke von Komponisten von 19 bis zum 21 Jahrhundert: Suite „In den Bergen“ von Mykola Kolessa, die Fantasie für Flöte und Kammerorchester von Mykola Lysenko und die „Batyary Lieder“ für Violine und Kammerorchester von Yuriy Shevchenko. Das Thema Berge verbindet originell München und Ukraine. Denn das Bergvolk in den ukrainischen Bergen und in Alpen spielen die geistesverwandten Instrumente – Alphorn und Trembita. In Suite „In den Bergen“ von ukrainischen Komponist, Dirigent, Pädagoge Mykola Kolessa aus drei Sätze schufen Musiker ein Klangbild ukrainischen Karpaten. Mykola Kolessa (1903-2006) stammte aus dem ukrainischen Galizien, absolvierte die Musikhochschule in Lemberg/Lviv und studierte während des Ersten Weltkriegs in Wien. Um sich der Musik widmen zu können, brach er sein Medizinstudium ab. Der Verdienst seines Werks ist mit der Bedeutung Béla Bartóks für ungarische Musik oder Ravels für die französische Musikkultur vergleichbar. In seinen Werken für Orchester finden wir eindrucksvolle Merkmale einer Verschmelzung vom Impressionismus und Folklorismus, was auch in seiner Suite „In den Bergen“ deutlich zu hören ist. Er ignorierte, soweit es möglich war, die Forderungen des Sozialistischen Realismus. Kolessa war sowohl als Komponist als auch als Dirigent eine der führenden ukrainischen Musiker seiner Generation.
Eine zentrale Stelle im Programm besaß doch die für alle Ukrainer legendäre Persönlichkeit – Mykola Lysenko (1842-1912). Man nennt ihn den "Vater der ukrainischen Musik". Sein Leben und Werk vom Wunderkind, brillanten Absolventen der Hochschulen in Charkiv und Leipzig führte zu einer außergewöhnlichen Autorität als Musiker, Bürger, Aristokrat und Patriot. In der Zeitung "Rada" wurde Lysenko "als einer der stärksten Künstler und Kämpfer für die Ukrainischen nationalen Werte" benannt. Die Reaktion Russlands in den siebziger Jahren mit den Valuev-Gesetzen von 1876 führte in schwierige Zeiten für die Ukraine und hemmte die Entwicklung der ukrainischen Kultur, des Theaters und der Musik. Überall herrschte eine strenge Zensur. Die russische Monarchie verbot die ukrainische Sprache. Aber Mykola Lysenko war überzeugt: „Wo weder die Wissenschaft noch die Schrift hinkommen, wo Vernunft und Logik aufhören, dorthin ging das ukrainische Lied, und Türen und Seelen öffneten sich vor ihm, erweichten die Herzen und nahmen den prophetischen Boten der Wiedergeburt der Ukraine auf." Trotz die Verbote komponierte Lysenko auf Ukrainisch Kunstlieder und Opern. Er hat Tschajkowskijs Vorschlag abgelehnt, seine im wagner'schen Stil konzipierte Oper Taras Bulba (Libretto von Starytsky nach Mykola Gogol) in Russland auf Russisch aufzuführen. Mykola Lysenko vertonte die Poesien Taras Schewtschenkos "Kobzar", die insgesamt sieben große Bänder bilden. Auch schrieb er eine große Anzahl von instrumentalen Kompositionen, Kunstlieder mit Poesien zeitgenössischer europäischen Dichter: Heinrich Heine, Ivan Franko, Ada Negri in Übersetzungen ins Ukrainische. Seine Opern Ertrunkene, Natalka Poltavka, Eneida, Sappho, Nocturne führten zur weiteren Innovation des nationalen ukrainischen Musiktheaters.
Der berühmte Chordirigent, Olexander Koshytz äußerte sich in den "Memoiren" über Lysenkos Werk wie folgt: "In seiner Musik ist, wie in einer Eichel, die ganze Zukunft der breiten ukrainischen Musik verborgen...jede Note der Werke von Mykola Lysenko singt das Lied. Wenn man diese Musik zum ersten Mal hört, hat man das Gefühl, dass man sie schon vor langer Zeit gehört hat, dass sie nicht anders sein kann, so wie der ukrainische Geist kein anderer sein kann. Sie spüren, dass sie unsere gesamte Geschichte, unsere Traditionen unsere Aufgaben und unsere Hoffnungen enthält. <...> Er ist groß, wahrhaftig, sogar größer als sein Talent, so paradox es auch erscheinen mag".
Mykola Lysenkos Fantasie für Flöte und Kammerorchester präsentierte herrlich die jüngste Solistin – ukrainische Flötistin Uliana Somina. 2003 in der Ukraine geboren, studiert sie momentan an der Hochschule für Musik Detmold in der Klasse von Professor Janosh Balint. Mehtfach erzielte sie Preise auf Landes- und Bundesebene des Wettbewerbs „Jugend Musiziert“.
Im Grand Finale des Konzertes begeisterte das Publikum ukrainischer Geiger Taras Zdaniuk. Er spielte den Solo-Part im Zyklus „Batyary Lieder“ für Violine und Kammerorchester von Yuri Shevchenko mit so eine Leichtigkeit, Witz, kontrastreiche Emotionsausdruck und Brillanz, dass manchmal schiente so, dass die Seele seiner Geige mitten in seinem Körper sitz. Taras Zdaniuk wurde in Kyjiw geboren, studierte an der Mykola Lysenko Nationale Musikakademie Lviv bei Prof. Wolodymyr Zaransky und aktuell studiert er an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden bei Prof. Igor Malinovsky. Als Preisträger nationaler und unternationaler Wettbewerbe tritt auf weltberühmten Bühnen in Luzern, Paris, Berlin, Köln u.a. auf. Ab der Saison 2023/24 spielt Taras Zdaniuk ebenfalls in der Sächsischen Staatskapelle Dresden. In München präsentierte der ukrainische Geiger fünf „Batyary Lieder“: „Nur in Lwiw…“, „Dort, auf dem Ball der Veteranen…“, „Fräulein Franzischka“, „Fajduli, faj“, „Lebe wohl…“ vom zeitgenössischen Komponisten Yuri Shevchenko, der in der Blütezeit seines Schaffens, ein Monat später nach dem Beginn des jetzigen Krieges Russlands gegen Ukraine verstarb.
Sein großes Werk „Batyary Lieder“ für Violine und Kammerorchester wurde für alle Ukrainer als schöne Erinnerung an seiner hervorragenden Fähigkeit, intensiv im Team zu arbeiten, eine professionelle und freundliche Atmosphäre zu schaffen. Es war der Schlüssel zu seinem erfolgreichen Werdegang als Komponist. Sein Werk ist bekannt durch die zahlreichen symphonischen und kammermusikalischen Werke, Musik für Theater und Musik für Zeichentrickfilme für Kinder. In der Zusammenarbeit mit der Nationaloper der Ukraine schuf er die Ballette "Pinocchio oder die Zaubergeige" und "Die Jagd auf zwei Hasen". Eine Paraphrase der Nationalhymne der Ukraine. In seinen „Batyary Lieder“ für Violine und Kammerorchester widmete sich der Komponist der Subkultur der Batyaren. Deren Wurzeln reichen bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert zurück. Damals war Lemberg Teil des österreichisch-ungarischen Reiches. Ursprünglich waren die Batyaren in Lemberg Nachtschwärmer und Taschendiebe. Mit der Zeit hörten sie auf zu stehlen und sich daneben zu benehmen und wurden zu mutigen und fröhlichen jungen Männern, die sich über Österreich-Ungarn lustig machten. Besonders berühmt wurden sie während der polnischen Republik. Nach der sowjetischen Besetzung Ostpolens ging diese Subkultur zurück. Die sowjetischen Behörden vertrieben die Mehrheit der ukrainischen und polnischen Bevölkerung und unterdrückten die lokalen Kulturen. Die Lieder der Batyaren gelten immer noch als einzigartiges ukrainisches Kulturerbe und werden in der lokalen Folklore und der Volkskultur oft gefeiert.
Das Konzert „Musikalische Brücken: SolistInnen-Gala“: Konzert des Kammerorchesters Ukraine München wurde dank der Arbeit vieler Menschen organisiert. Die Musiker und das Team des Vereins Lichtesel e. V., das diese Veranstaltung organisierte, wurde zum Abschluss des abwechslungsreichen Programms mit Jubel und stehende Ovationen geehrt.
Solisten: Bandura: Nataliia Hrabarska, Viola: Alona Khlevna, Soprano: Nataliia Dytiuk, Flöte: Uliana Somina, Violine : Taras Zdaniuk, Dirigent: Artem Lonhinov.