TANNHÄUSER UND DER SÄNGERKRIEG AUF WARTBURG
- Große romantische Oper in drei Akten von Richard Wagner -
von Uschi Reifenberg
Das doppelbödige Spiel mit den Ebenen
Richard Wagner Bayreuth © IOCO
Es kann passieren, dass man sich als Festspielbesucher in Bayreuth in einer Aufführung des Tannhäuser plötzlich selbst auf der Bühne des Festspielhauses wiederfindet und die Grenzen von Kunst und Realität, von szenischer Fiktion und Lebenswirklichkeit verschwimmen, die verschiedenen Zeit- und Bedeutungsebenen überlagert werden und man mehreren Perspektiven gleichzeitig ausgesetzt ist.
Viel Spannendes und Ironisches ereignet sich 2023 in der Wiederaufnahme der genialen und überaus beliebten Inszenierung von Tobias Kratzer aus dem Jahr 2019, die in einem virtuosen Spiel der Grenzüberschreitung von Kunst und Leben Richard Wagners eigene ästhetische Weltordnung spiegelt, diese ins Heute weiterentwickelt und dabei sich selbst aus vielfältigen Blickwinkeln reflektiert, als „Inszenierung in der Inszenierung“. Das gelingt vor allem mit den virtuosen Videoeinspielungen von Manuel Braun, die mit der Bühnenhandlung perfekt verzahnt sind, verschiedene zeitliche Ebenen abdecken, Musik und reale Handlung kontrapunktieren oder live kommentieren.
Im Fokus stehen die Bayreuther Festspiele als einzigartige Stätte deutscher Kulturgeschichte und das Künstlerdrama um den scheiternden Tannhäuser, seines Zeichens Tenor am Grünen Hügel und Aussteiger aus eben diesem hehren Kreis, dessen Geschichte tiefgründig, humorvoll, mit zahlreichen Verweisen, aber auch in seiner ganzen Ausweglosigkeit erzählt wird. Bereits in seinem 4. Aufführungsjahr wird die Produktion in bester Bayreuther Tradition werkstattgemäss „überprüft“ und um aktuelle Details bereichert, wie auch 2023 wieder im Dirigentengang des Festspielhauses, wo sich das Regieteam in einem kurzen „Einblender“ im Matrosenlook freudig mit einem Aufkleber: „Tannhäuser back in 2024“ Richtung Hamburg verabschiedet (Kratzer wird dort 2025 Intendant der Staatsoper).
Ein weiterer aktueller Gag nimmt Bezug auf die diesjährige Augmented-Reality-Brillen Situation der neuen Bayreuther Parsifal-Inszenierung. Man sieht die Tannhäuser-Gefährten mit AR-Brille, in einem Raum auf Stühlen sitzend, „virtuell“ durch den Thüringer Wald holpern; daneben steht, völlig zerknirscht, Manni Laudenbach alias Oskar Matzerath mit einem Schild in der Hand: „suche Brille“…
Bayreuther Festspiele 2023 / Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg © Enrico Nawrath
Tobias Kratzer, der Bühnen-und Kostümbildner Rainer Sellmaier sowie der Videokünstler Manuel Braun verstehen den Venusberg als Lebenskonzept einer anarchischen, ungebundenen Künstlertruppe, die in einem Citroën-Van unterwegs ist und für sich das Postulat Richard Wagners: “Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“ aus seiner Schrift Die Revolution von 1849 als Manifest auf ihre Fahnen, bzw. Plakate geschrieben haben und diese nun in Aktivisten-Manier überall hin kleben. Diese prekäre Gruppe um den Sänger Tannhäuser besteht aus der Venus, die der Performance Künstlerin Marina Abramovic nachempfunden ist, die ihre Performances ins Leben übertrug und jegliche Grenzen der Kunst sprengte sowie der literarischen Figur des kleinwüchsigen Trommlers Oskar Mazerath alias Manni Laudenbach aus Günter Grass‘ Blechtrommel, und dem schwarzen Drag Artist Le Gateau Chocolat, der als schillernde Transgender Figur eine weitere diverse Farbe in die bunte Truppe mischt. Tannhäuser ist zunächst als tragischer Clown kostümiert, Symbol für seine Doppelnatur und sein Grenzgängertum, ein Trio Infernale, das sich hedonistisch sexueller Freiheit hingibt, die subversive Seite der Kunst in ihr Leben integriert und gesellschaftliche Grenzen lustvoll ignoriert. So brettern sie in ihrem „Venusmobil“ im Stil eines Roadmovie durch den Thüringer Wald, vorbei an der Wartburg, deren historischen Sängersaal, Rainer Sellmann als Bühnenbild des 2. Aktes fast originalgetreu nachgebildet hat.
Von Kunst und Liebe allein wird man nicht satt, also „verpflegen“ sie sich bei „Burger King“, klauen Benzin, prellen die Zeche und überfahren absichtlich, als „Krönung“ ihrer kriminellen Handlungen, einen Polizisten. Nun geht das Video in die reale Bühnenhandlung über, Tannhäuser beschließt, Venus und die Truppe zu verlassen und in den bürgerlichen Kreis der „Hochkultur“ zurückzukehren: „Zu viel! Zu viel!! O, dass ich nun erwachte!“ Auf einem Parkplatz mit Märchenhäuschen, Motiven aus Grimm‘s Märchen, Gartenzwergen und Deutschlandfahne, in die sich Le Gateau Chocolat einwickelt und ein erotisches Tänzchen vollführt, blitzen Bezüge zum deutschen Mythos auf;
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Bayreuther Festspiele 2023 / Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg © Enrico Nawrath[/caption]
Tannhäuser singt Loblieder auf Venus, zückt seinen Klavierauszug von Wagners “Tannhäuser“, der immer wieder leitmotivisch auftaucht und die Hochkultur und sein früheres geordnet-bürgerliches Leben repräsentiert. Die verdrängte Seite seiner Persönlichkeit steigt an die Oberfläche, er erinnert sich seiner Vergangenheit, es kommt zum Beziehungsbruch, und nachdem die Gefährten ihn vergeblich zum Bleiben motivierten, springt er aus dem Auto und landet exakt auf der Straße vor dem Festspielhügel: „Mein Heil ruht in Maria“. Im Hintergrund sieht man das Bild von Caspar David Friedrich: „Das Kreuz im Gebirge“, Venus wird gegen Maria eingetauscht, das eine Kunstkonzept gegen das andere.
Der Hirte auf dem Fahrrad erscheint als Mitwirkende der Festspiele, ebenso wie die Jagdgesellschaft um Landgraf Herrmann, die gerade aus dem Festspielhaus kommt und noch einen Tenor sucht … die Pilger sind die Festspielbesucher selbst, die in die Vorstellung strömen und sich mit ihren Programmheften vor dem Regen schützen, möglicherweise eine aktuelle Anspielung auf die verregnete Parsifal Premierenvorstellung. Der heimgekehrte Sänger wird von den begeisterten Kollegen eingesammelt und folgt ihnen euphorisch zu Elisabeth.
In der Pause setzen dann Venus, Oskar und Le Gateau Chocolat im Festspielpark ihre coole Performance mit Anleihen aus der Vorstellung fort und unterhalten das Publikum mit witzig-provokativen musikalischen Darbietungen, bis es zu regnen beginnt und die Festspielgäste sich tatsächlich mit den Programmheften vor dem Regen schützen …
Im 2. Akt ereignet sich „Theater auf dem Theater“, zitiert sich die Bayreuther Inszenierungsgeschichte selbst mit dem nachgebildeten Wartburgsaal, dem riesigen Leuchter, einer Harfe und der Tannhäuser-Statue aus einer frühen Wolfgang Wagner Inszenierung. Die Bühne ist geteilt, man sieht zwei Ebenen: oben streamt die Live Kamera in schwarz-weiß den Backstage Bereich und zeigt die Darsteller privat und ihre persönlichen Befindlichkeiten, unten findet der Sängerwettstreit statt in historisch anmutenden Kostümen und streng geregeltem Ablaufprotokoll.
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Bayreuther Festspiele 2023 / Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg © Enrico Nawrath[/caption]
Kontrapunktisch zeigt ein Video zunächst wie Tannhäusers Anarcho-Truppe ihm bis zum Festspielhaus gefolgt ist, um ihn zurückzuholen: Das Wagner-Zitat ist bereits, siehe Foto links, am Balkon befestigt; Venus, als Edelknabe verkleidet, hat sich unerlaubt Zutritt zu der hehren Stätte verschafft; zusammen mit ihren Kumpels mischt sie das steife Zeremoniell gehörig auf, im Video hinreißend komisch anzusehen ist die Mimik des Revoluzzer-Trios, ebenso bewundernswert ist Tobias Kratzers ausgefeilte Personenführung.
Tannhäuser outet sich immer stärker als eine Borderline Persönlichkeit, die sich im Spannungsfeld der Extreme verzehrt und zwischen zwei Lebens-und Kunstentwürfen hin-und hergerissen ist. Die Utopie von der Unvereinbarkeit der Gegensätze wird hier deutlich, wenn sich am Ende des Skandals Tannhäuser zwischen zwei Frauen wiederfindet und Venus und Elisabeth sich feindlich gegenüberstehen. Um „das furchtbare Verbrechen“ am Tatort zu beenden, ruft Festspielchefin Katharina Wagner die Polizei, die man in einem Video den Hügel hochrasen sieht. Tannhäuser wird abgeführt in den Knast, die Wartburggesellschaft ist aufgelöst, am Ende breitet Le Gateau Chocolat verstört, aber versöhnlich seine Regenbogenflagge über der Harfe aus.
Der 3. Akt verzichtet auf die Metaebene und findet als trostloses Endspiel an einem dystopischen Ort statt, wo alle Hoffnungen ausgeträumt und kein Ausweg möglich scheint. Die Szene, ganz in schwarz getaucht, zeigt einen „wilden“ Schrottplatz, auf dem der einsame Oskar mit dem zerstörten Citroën gestrandet ist, das Trio existiert nicht mehr. Le Gateau Chocolat hat in der glitzernden Konsumwelt Kariere gemacht, sein Porträt prangt übergroß auf einem Werbeplakat. Elisabeth sucht vergeblich nach Tannhäuser, der nicht zurückgekehrt ist. Ein Bild des Jammers, aber auch der tiefen Humanität zeigt Kratzer, wenn Oskar aus seiner Blechtrommel Suppe löffelt und sie mit Elisabeth teilt. Die Pilger sind nun Müllsammler und plündern die letzten Habseligkeiten dieses öden Platzes. In letzter Verzweiflung, in der sich Elisabeth noch einmal an das Leben und die Liebe klammert, verführt sie den willenlosen Wolfram, der sich das Clownskostüm überzieht, zum Beischlaf, bevor sie sich die Pulsadern aufschneidet. Das „Lied an den Abendstern“ wird zum Abgesang auf die Hoffnung und das Leben selbst, ein zu Herzen gehendes Bekenntnis eines unglücklichen Menschen. Gescheitert ist auch Tannhäuser, der als Clochard erscheint und in seiner „Rom-Erzählung“ noch einmal für sein Heil die „hehre“ Kunst beschwört, den Klavierauszug verzweifelt verbrennt, denn eine Rückkehr ist unmöglich; am Ende sitzt Tannhäuser mit der toten, blutbeflecktem Elisabeth im Arm, ein Bild voll tragischer Größe, erinnernd an die „Pietà“ von Michelangelo. In einem Video sieht man beide in den Sonnenuntergang fahren, Erlösung existiert nur als Fiktion.
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Bayreuther Festspiele 2023 / Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg © Enrico Nawrath[/caption]
Das Hügel Debüt der französischen Dirigentin Nathalie Stutzmann, der zweiten Frau auf Grünen Hügel, wurde auf Anhieb zu einem Triumph für die vielseitige Musikerin. Sensibel und einfühlsam führte sie Sänger und Orchester zu einer homogenen Gesamtleistung. Fein gearbeitete Übergänge, klare Phrasierung im Pilgerchor, deutliche Strukturen, dazu glühte die Venusbergmusik farbenreich und mit langen Steigerungswellen. Eher oberstimmenbetont formte sie Höhepunkte, die mit fast Mendelssohn’scher Klarheit und Leichtigkeit aus dem Graben schwebten. Kleine Spannungseinbrüche, leicht zerdehnte Abschnitte im 2. Akt trübten kurzzeitig das differenzierte Dirigat.
Klaus Florian Vogt gelang mit seiner Tannhäuser Interpretation ein beeindruckendes Rollenporträt, für das er vom Publikum zu Recht bejubelt wurde. Sein Tenor verfügt über eine vielfältige Ausdruckspalette, dramatische Intensität ohne zu Stemmen, liedhafte Innigkeit und eine große dynamische Skala. Die Venus-Lieder im 1. Akt gestaltete er höhensicher und mit klugem Aufbau, lediglich störte zu häufiges Armen ab und zu die Gesangslinie. Mühelos strahlten die „Erbarm dich mein“ - Rufe über Orchester und Chor, in der Rom-Erzählung übertraf er sich selbst; jeder Ton, jede Phrase war geistig durchleuchtet, mit großer gestalterischer Kraft, Textverständlichkeit und intensivem Spiel geriet sie zu einer beklemmenden Darstellung eines traumatisierten Grenzgängers.
Elisabeth Teige entwickelt die Elisabeth eher aus dem Lyrischen heraus, ihren abgedunkelten Sopran führt sie mit leichter, anfangs noch etwas tremolierender Tongebung, die sich dann aber stabilisiert. Die Hallenarie krönte sie mit einem strahlenden hohen H, das Gebet im 3. Akt ist von anrührender Innerlichkeit, ihre Darstellung ist geprägt von einer depressiven Grundhaltung und zeigt eine gebrochene Frauengestalt.
Der Wolfram von Markus Eiche hat mittlerweile Referenz-Status erreicht. Stimmlich und darstellerisch präsentierte er sich in Topform, mit seinem warmen, modulationsfähigen Bariton lotet er innerseelische Bereiche aus und formt eine zutiefst menschliche Figur. Seine charismatische Ausstrahlung und leidvollen Erfahrungen machen seinen Wolfram von Eschenbach zu einer Figur voller Empathie und innerer Größe. Das Lied an den Abendstern erklang in nie gehörter Trauer und Endgültigkeit. Wunderbar!
Ekaterina Gubanova ist als rebellische Venus eine schillernde Figur, mit angesagter Blondfrisur, Glitzerbody und prolligem Gehabe. Als wahrhaft liebende Frau und Aktivistin lässt sie sich nicht unterkriegen und greift zu allen Mitteln, um ihren Geliebten zurückzuholen. Auch stimmlich geht sie an die Grenzen, singt mit ausladender Gebärde, viel dramatischem Impetus und lässt ihren Mezzosopran in vielen Farben leuchten.
Günter Groissböck gibt in bewährter Weise dem Landgraf starkes Profil und besticht mit mächtigem, klangsatten Bass, schwarzer Tiefe, perfekter Diktion und viel Ausstrahlung. Das Hügel-Debüt von Julia Grüter als Hirte begeisterte auf der ganzen Linie. Mit klarem, intonationssicherem Sopran sang sie einerseits liedhaft fein und ließ ihre Stimme in der Höhe kraftvoll ausschwingen. Ebenfalls mit einem vielversprechenden Debüt überzeugte Syabonga Maqungo als Walther von der Vogelweide mit hellem, ausdrucksstarken Tenor und grosser Bühnenpräsenz.
Manni Laudenbach und Le Gateau Chocolat waren die Stützen dieser Inszenierung und in jedem Moment brillante Protagonisten der „Nebenhandlung“. Dem Sängerwettstreit gaben Ólafur Sigurdason als Biterolf, Jorge Rodriguez-Norton als Heinrich der Schreiber sowie Jens Erik Asbo als Reinmar von Zweter ein bedeutungsvolles Gepräge und ließen stimmlich und darstellerisch keine Wünsche offen.
Der Chor der Bayreuther Festspiele unter der Leitung von Eberhard Friedrich bewies einmal mehr sein Alleinstellungsmerkmal und sorgte klang-und farbstark in allen dynamischen Schattierungen für Gänsehaut. Hervorragend präsentierte sich das Orchester der Bayreuther Festspiele, bestens balanciert, präzise und ausgewogen in allen Registern, samtweiche Holzbläser, strahlende Violinen, hochvirtuos und energiegeladen klangen die Hörner in der Jagdmusik, im 2. Akt beeindruckte besonders die Harfenistin auf der Bühne.
Das enthusiastische Publikum ließ das Festspielhaus beben und spendete 20 Minuten Applaus und stehende Ovationen für die Dirigentin, Sänger, Chor und Orchester. Wenige Buhs für das Regieteam wurden von Begeisterungsstürmen schnell übertönt.
2024 gibt es ein Wiedersehen - man darf sich freuen!