Stephania Turkevych - ukrainische Komponistin der Moderne, IOCO Portrait, 24.07.2022

Stephania Turkevych - ukrainische Komponistin der Moderne, IOCO Portrait, 24.07.2022
Kathedrale Maria Magdalena in Lviv, Lemberg - Ukraine © Wikimedia Commons
Orgelsaal in Lviv, Ukraine, die ehemalige Kathedrale Maria Magdalena in Lviv, Lemberg - Ukraine © Wikimedia Commons

Stephania Turkevych-Festival - Lviv, Lemberg, Ukraine

Die Rückkehr einer Komponistin in ihre Heimat

Vorwort der Redaktion:  IOCO pflegt seit Jahren vielfältige Beziehungen zu Menschen / Theatern in der Ukraine. Die Ukraine und ihre Bevölkerung wird zur Zeit von bombenden, mordenden russischen  Horden und Herrschern heimgesucht. IOCO möchte seinen Besuchern die reiche Kultur der Ukraine vermitteln; die Ukraine ist seit Jahrhunderten lebendiger Teil Europas. IOCO schaltet deshalb den Artikel unseres ukrainischen Redaktionsmitglieds, Frau Prof. Dr Adelina Yefimenko, über  Stephania Turkevych, eine ukrainische Komponistin der Moderne.

von Adelina Yefimenko

Die ehemalige Kirche Maria Magdalena, Foto oben, eine 1630 errichtete Barockkathedrale in Lviv, ehemals Lemberg, Ukraine, fungiert heute als wunderbarer Orgelsaal. Vom 13. bis 17. Januar 2021 fand dort das erste Stephania Turkevych-Festival statt. Das Festival feiert die Werke der herausragenden aber leider in Vergessenheit geratenen Persönlichkeit: Stephania Turkevych, 1898 – 1977, die erste ukrainische Komponistin der europäischen Moderne.

Stephania Turkevych hat in Lviv komponiert, in Wien bei Vasyl Barvinsky und Vitezslav Novak studiert. Später lebte sie in Berlin und nahm Unterricht bei Arnold Schönberg, Franz Schreker und Paul Hindemith. Auf Basis der Zwölftontechnik entwickelte Stephania Turkevych ihren eigenen Stil – originelle Kombinationen von Expressionismus, Neuer Sachlichkeit und Serieller Musik. In der Symphonie Nr.1 sowie in den Bühnenwerken – die Oper Oksanas Herz und das Ballett Hands entwickelte sie mittels der Avantgarde-Techniken eigene individuelle Verschmelzungen traditioneller ukrainischer Motive mit westeuropäischer Moderne.

Stephania Turkevych © Wikimedia Commons
Stephania Turkevych © Wikimedia Commons

Das Werk von Stephania Turkevych besteht aus verschiedenen Gattungen. Darunter – 9 Symphonien. Diejenigen, die aufgeführt wurden, sind die Symphonien Nr. 1 (1937) und Nr. 2 (1952), Symphonietta (1956), Symphonische Dichtung La Vita, 1965), Painting Symphony oder Drei Symphonische Skizzen (1962 und 2. Aufl. 1975), Space oder Astronomical Symphony (die 3 Sätze haben auch den Programmtitel Alpha, Galiläa, Armstrong) u.a. Es gibt auch meisterhafte Kammermusik-Stücke – Suite for Double String Orchestra, Quartetts, Violinsonaten u.a. Die spätere Version der Space Symphony wurde im Jahr 1972 überarbeitet.

Da Stephania Turkevych in einer gläubigen, musikalischen Familie aufwuchs, komponierte sie auch für Chor und Klavier. Ihre Mutter, Sofia Kormosh, war eine wunderbare Pianistin; sie genoss eine vollendete Ausbildung bei Karol von Mikuli  – ein Schüler Frederik Chopins - Gründer der Lemberger Klavierschule und Direktor des Galizischen Musikvereins. Ihr Großvater Lev Turkevych und ihr Vater Ivan Turkevych waren Priester. Ihr liturgisches Werk für Chor – Psalm to Sheptytsky, Liturgie (1919) u.a. – wurde zu einem wichtigen Ausdruck ihres Glaubens. Die zahlreichen Klavierminiaturen führte sie auch oft in eigenen Konzerten als Pianistin auf; vieles komponierte sie für ihre Kinder. Für das Theater schuf Stephania Turkevych vier Opern und sieben Ballette; darunter drei Opern für Kinder.

  Turkevych Kompositionen : Verboten in der ehemaligen Sowjetunion  

Als Anhängerin der ukrainischen Avantgarde wurde sie aus der Musikgeschichte ihres Heimatlandes gestrichen; ihre Musik wurde in der ehemaligen Sowjetunion verboten. Umso bedeutsamer ist es heute, dass im Zusammenhang mit der Rückgabe dieses verlorenen Erbes in Lviv die Werke von Stephania Turkevych live aufgeführt und nun auch im Format eines Online-Festivals weltweit präsentiert wurden.

Die Darbietung einer Reihe unbekannter Werke Stephania Turkevychs wurde dank der Erforschung der Manuskripte der Künstlerin möglich. Die ukrainische Musikwissenschaftlerin Prof. Stefania Pavlyshyn sowie Pavlo und Larysa Hunka haben großartige Arbeit geleistet, um das Werk der Komponistin in der Ukraine bekannt zu machen. Stefania Pavlyshyn hat die Biographie Stefania Turkevychs veröffentlicht. Der ukrainisch-britische Bariton und seine Gattin Larysa digitalisierten das gesamte Archiv von Stephania Turkevych in Cambridge, führten das Werkverzeichnis und präsentierten es in Lemberg.

 Der Orgelsaal in der ehemaligen Kathedrale Maria Magdalena in Lviv, Ukraine - Orgelsaal © Roksolana Trush
Der Orgelsaal in der ehemaligen Kathedrale Maria Magdalena in Lviv, Ukraine - Orgelsaal © Roksolana Trush

Das neue Festivalprogramm vom 13. - 17. Januar 2021 beinhaltete neben dem Werk der Komponistin auch drei Vorträge der zeitgenössischen Musikwissenschaftlerinnen Luba Kyyanovska und Natalia Syrotynska, die das Leben und Werk Stephania Turkevychs als emanzipierte Frau, Komponistin und auch als erste ukrainische Musikwissenschaftlerin für das Publikum darstellten. Stephania Turkevych studierte Musikwissenschaft 1919 bei Adolf Chybinski an der Universität von Lemberg und setzte das Studium bei Guido Adler und bei Joseph Marx an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien fort. Später erforschte sie für ihre Dissertation die ukrainischen Einflüsse auf russische Opern (Titel der Dissertation: Ukrainisches Element in den Werken P. Tschaikowski Tschereviztschki (zweiter Titel – Wakula der Schmied), N. Rimski-Korsakow Die Nacht vor Weihnachten und deren Vergleich mit M. Lysenkos Oper Weihnachtsnacht (Christmas Night). Die Dissertation verteidigte Stephania Turkevych damals in Prag (Ihr wissenschaftlicher Consultant war Zdenek Nejedly). Sie erwarb an der Ukrainischen Freien Universität den Titel Doktor der Philosophie, was in dieser Zeit (1934) für eine Frau nicht selbstverständlich war. Der wissenschaftliche und künstlerische Werdegang von Stephania Turkevych wird ausführlich von den zeitgenössischen ukrainischen Musikwissenschaftlerinnen Prof. Dr. Stefania Pavlyshyn, Prof. Dr. Luba Kyyanovska und Prof. Dr. Hanna Karas untersucht.

Stephania Turkevych - Festival in Lviv - Symphonie No 1 youtube Trailer Collegium Management [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Zum Programm des Ersten Stephania Turkevych-Festivals zählten zwei bedeutende Aufführungen. Die erste Symphonie (1937) wurde im Rahmen des Kulturprojekts Ukrainian Live Classic (Präsentation der klassischen Musik der Ukraine / erste ukrainische mobile Anwendung, Förderung ukrainischer Klassiker im globalen Aspekt) aufgeführt. Es sollte auch erwähnt werden, dass dieses Projekt durch die Zusammenarbeit zwischen dem Orgelsaal von Lviv (Leitung: Ivan Ostapovich und Taras Demko), dem Collegium Management und dem Galizischen Musik Verein (Galician Music Socety mit Präsidentin: Zoryana Kushpler, Leitung: Taras Demko) mit Unterstützung der Ukrainian Cultural Foundation (UKS) entstand. Es wird geplant bei den nächsten Festivals alle anderen unbekannten Werke von Stephania Turkevychs aufzuführen.

Das Festivalprogramm der Symphonie-Premieren des Orgelsaals von Lviv wurde dank der Unterstützung der öffentlichen Organisation Collegium Management mit dem Ballett Hands or The Girl with the Withered Hands (Das Mädchen mit den verkümmerten Händen, 1957, Bristol) erweitert. Art-Direktor und Dirigent – Ivan Ostapovich und Co-Direktor des Orgelsaals und Direktor des Festivals, Taras Demko, äußerten sich über die Idee der Realisation des Ersten Stephania Turkevych-Festivals wie folgt: „Letztes Jahr haben wir trotz aller Schwierigkeiten viel für unsere Live-Strategie getan, um die Musik der verschiedenen vergessenen ukrainischen Komponisten aufzuführen und deren Forschung zu fördern. Die historisch bedingte Unterschätzung, sogar absichtliche Fälschungen über die Entwicklung der ukrainischen Kultur möchten wir mittels dieser Musik ins wahre Licht stellen. In Wirklichkeit ist das Niveau der ukrainischen Musik des 20. Jahrhunderts ein wichtiger professionaler Bestandteil der europäischen Moderne. Stephania Turkevych ist eine unglaublich interessante Komponistin, die durch ihre Berufung als Musikerin von vielen Experten „der größte Mann unter den männlichen Komponisten Galiziens ihrer Zeit“ aufrecht geschätzt wurde. Die ukrainische Komponistin, die unter bekannten Umständen einen größten Teil ihres Lebens im Exil verbrachte und es in Großbritannien vollendete, schrieb mehr als hundert verschiedene Musikwerke. Die Ukraine wusste jedoch viele Jahre lang wenig über sie und ihr Werk. Und erst jetzt kehrt sie in ihrer Musik zu ihren Heimatszeitgenossen zurück“.

  Orgelsaal, Lviv, Ukraine - Stephania Turkevych Festival © Roksolana Trush
Orgelsaal, Lviv, Ukraine - Stephania Turkevych Festival © Roksolana Trush

Beide Werke wurde beim Festival vom Ukrainian Festival Orchestra aufgeführt. Der Dirigent Ivan Ostapovych leistete im Voraus eine gründliche Redaktionsarbeit: Korrekturen der technischen Fehler, verschiedene Ungenauigkeiten, zum Beispiel die dynamischen oder Tempo-Angaben, die sehr wichtig für seine Interpretation des unbekannten Opus diente. Über die Eigenheiten der Texturarbeit im Manuskript Turkevychs sprach Ivan Ostapovych wie folgt: „Vor dem Probenbeginn haben wir die Partitur vollständig restauriert. Mich persönlich hat die Eigenart der Handschrift der Komponistin „gefangen“. Auch Turkevychs musikalischer Stil stellt einen interessanten Ausdruck der Avantgarde dar, deshalb ist es nicht so einfach, den Text zu rekonstruieren, ohne die Musik irgendeinmal hören zu dürfen“. Bei der Interpretation der Symphonie Nr. 1 betonte der Dirigent ukrainische Quellen in Melodien und Rhythmen, die durch die Dodekaphonie-Technik und durch spannende Stil-Anspielungen mit Schönberg, Hindemith, Prokofiev, Bartok zu einer eigenartigen Synthese führte. Die Symphonie ist dreiteilig und sehr kontrastreich. Aufrufmotiv der Blechbläser, klangfarbige melodische Verflechtungen der Harfen und Holzbläser, raffinierte Oboen-Kantilene schwebten über eine transparente Textur der Streicher im Hintergrund. Die Stimmung wandelte, wie auf dünnen Eis, zwischen Wärme und Sentimentalität und plötzliche dissonierende Schärfe bis zum fast militanten Klang. So wie auch das Leben und die Weltanschauung dieser Frau, die es sich erlaubte, in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Komponistin zu wirken. Eine Stille, fast ohrenbetäubend, brachte das Flöten-Solo zum Anfang des zweiten Satzes zum Ausdruck, das eine einsame Stimme der Komponistin imaginierte. Ivan Ostapovich erreichte mit dem Ukrainian Festival Orchestra eine breite Klangpalette von einem transparenten bis zum verdunkelten, sogar adstringierenden Klang.

Das Ziel weiterer Redaktionsarbeiten mit den Manuskripten dient zur Realisation neuer Aufführungen. Für die Zukunft wird eine neue kritische Ausgabe des Gesamtwerks Stephania Turkevychs geplant. Die Symphonie Nr. 1 war der erste Versuch dieser großangelegten Systematisierung des ukrainischen Musikerbes. Der zweite Versuch war das Ballett Hands oder The Girl with the Withered Hands.

Als Erstes muss erwähnt werden, dass es den Dirigenten und Orchester trotz der in der Pandemie-Zeit durchzuführenden konzertanten Premiere eine bewegte subtile und gleichfalls tragische Tanz-Ästhetik gelang. Die Musik des Balletts ist bildhaft, expressiv und vielsagend. Das Sujet The Girl with the Withered Hands stellt eine dramatische Geschichte, eine aktuelle Problematik „Kunst und Inklusion“ dar. Aber die humane Idee „alle Menschen, auch die, die unter Mobilitätsbeschränkungen leiden, sind gleichberechtigt im Sozialleben und in der Kunst“ – ist in diesem Ballett nur die Spitze des Eisbergs.

Als Zweites ist zu erwähnen: in der Musik The Hands spannt die Komponistin über die Dramaturgie der Verwandlung und des Wunders einen Inhaltsbogen vom Menschlichen, Humanen zum Sakralen.

 Orgelsaal in der ehemaligen Kathedrale Maria Magdalena, Lviv, Ukraine © Roksolana Trush
Orgelsaal in der ehemaligen Kathedrale Maria Magdalena, Lviv, Ukraine © Roksolana Trush

Das Mädchen mit den verkümmerten Händen, das in der realen Welt keine Freunde findet und von den anderen jungen und tanzenden Menschen zuerst abgewiesen wird, betet zu der Statue Jungfrau Maria, die auf dem Platz der Kathedrale steht. Das arme Mädchen brachte Blumen mit. Demgemäß wird der Titel des Balletts The Hands als Symbol bzw. als Gestik des Betens verstanden. Die langsame und träge wiederkehrende Episode, in denen die Musik die Schwermut des Mädchens reflektiert, wird immer wieder unterbrochen und immer mehr mit Energie erfüllt. Die Komponistin beherrscht eine hervorragende Art der unmittelbaren Mimesis. Diese fabelhafte, in der Musik von den kirchlichen Glocken (Xylophon, Harfen) gerahmte musikalische Verwandlung der Gestik des Mädchens, stellt einen Kontrast zu den anderen Themen der tanzenden Dorfjugend dar. Aber eine stringente orchestrale Balance braucht man nicht nur um symbolhafte musikalische Sprache zu imaginieren, sondern auch, besonders im Ballett, die logische instrumentale Dramaturgie durch den Rhythmus zu führen. Besonders dann, wenn die szenische Dynamik nicht präsent ist.

Die Brüche der Dynamik zwischen Stille und Explosionen schafft das Orchester mittels einer strengen systematischen Organisation der timbrierenden und temporalen Vielfalt. Das kurze Libretto, das die Komponistin selber geschrieben hat, zeigt übrigens weniger Sehnsucht, stattdessen mehr Kraft im Streben zum Glück:

„Das erste Mädchen tanzt vor der Statue, nimmt dann die Kette von ihrem Hals und legt sie auf die Handfläche der Statue. Die Menge antwortet mit einem Tanz. Jetzt tanzt das zweite Mädchen vor der Statue, nimmt ihre Halskette ab und legt sie um den Hals der Statue. Die jungen Leute antworten wieder mit Tanz. Das dritte Mädchen tanzt vor der Statue, nimmt ebenfalls ihre Halskette ab und legt sie der Jungfrau Maria auf die Stirn. Die ländliche Jugend antwortet erneut mit einem Tanz. Vor dem Ende des Tanzes betritt ein Mädchen mit verkrüppelten Händen die Bühne. Ihre Hände, die einen Blumenstrauß umklammern, sind unter einem Taschentuch versteckt. Die jungen Leute machen sich über sie lustig und entfernen sich tanzend. Das unglückliche Mädchen tanzt verzweifelt weiter. Sie fällt vor der Statue auf die Knie und gibt der Jungfrau Maria Blumen aus ihren verkümmerten Händen. Sie bleibt eine Minute auf den Knien und betet inbrünstig. Währenddessen erreicht die Musik ihren Höhepunkt und Licht erscheint um die Statue der Jungfrau Maria. Erfreut beginnt das verkrüppelte Mädchen ihren Tanz der Hände, während dessen sie vollständig geheilt werden. Sie tanzt jetzt ihren Tanz des Glücks. Während ihres Glücks-Tanzes beugt sich das Mädchen nach vorne und spielt mit dem Wasser und dem Lehm, den sie vom Grund des Baches nimmt. Sie formt daraus eine Vase. Jetzt tanzt sie den Tanz des Glücks der Schöpfung, mit einer Handbewegung winkt sie die Dorfjugend zurück. Triumphierend zeigt sie ihnen die Vase. Sie alle führen nun gemeinsam den Tanz der Freude auf, wie in der ersten Szene. Das Finale - ein auf wundersame Weise geheiltes Mädchen führt die Jungen und Mädchen zur Statue der Jungfrau Maria. Sie gießt Wasser in eine Vase, setzt Blumen ein und gibt sie der Mutter Gottes“.

Diese Geschichte kann auch autobiographisch verstanden werden. Prof. Dr. Luba Kyyanovska äußerte sich in ihrer Vorlesung im Rahmen des Festivals zur Frage des musikalischen Selbstbildnisses der Komponistin sehr treffend:

„Als Stephania Turkevych mit ihrer Musik im Exil war und die Hoffnung auf eine Rückkehr zu Heimatsland verlor, fühlte sie sich äußerst einsam. Sie wurde durch zwei Dinge gerettet – Glaube und Musik“.

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