St. Gallen, St. Galler Festspiele, Edgar - Giacomo Puccini, IOCO Kritik, 03.07.2018
EDGAR - Giacomo Puccini
„ E Dio ti GuARdi da quest’opera “!
Von Julian Führer
„Gott, hüte dich vor dieser Oper!“, so äußerte sich Giacomo Puccini gegenüber Sybil Seligman einmal über seine zweite Oper, die er mit knapp dreißig Jahren vollendet hatte, und versteckte noch deren Titel in dem Fluch. Nach dem Achtungserfolg seines Opernerstlings Le Villi von 1884 ließ er sich abermals von Ferdinando Fontana ein Libretto liefern, das letztlich aber mitverantwortlich für das schnelle Scheitern des 1889 uraufgeführten Edgar war. Das auf Alfred de Mussets La coupe et les lèvres zurückgehende Textbuch zeigt einen negativen Helden, vermag aber keine Entwicklung der Charaktere zu zeichnen. Auch mehrere Überarbeitungen, vor allem die Straffung von vier auf drei Akte und die Streichung etlicher Nummern, konnten das Stück nicht im Repertoire halten. Und so ist es möglich, dass im Jahr 2018 eine Puccini-Oper ihre Schweizer Erstaufführung erlebte.
- St. Galler Festspiele - 29. Juni bis 13. Juli 2018 -
Die 2006 begründeten St. Galler Festspiele bringen in jeder Saison neben Konzerten und Tanz auch eine Oper heraus, üblicherweise ein Stück, das nicht zum Kern des üblichen Repertoires zählt. Die Freilichtbühne wird im Klosterhof errichtet, so dass die Zuschauer auf die barocken Türme der St. Galler Klosterkirche blicken. Werke wie Cavalleria rusticana (1890, kurz nach Edgar, uraufgeführt), die auf dem Vorplatz einer Kirche spielen, bieten sich natürlich besonders an. Auch Puccinis Edgar bedient sich etlicher Versatzstücke aus Grand opéra und Melodramma und enthält eine Szene auf dem Dorfplatz, einen Kirchenchor, ein (später gestrichenes) Trinklied, ein Duell und weitere Elemente, die aus anderen Stücken der Zeit bekannt sind. Die Personen sind eher Typen als Charaktere: Edgar (Tenor) kann sich nicht zwischen der lieben, frommen und reichlich blassen Fidelia (Sopran) und der lüsternen und leicht verkommenen Tigrana (Mezzosopran) entscheiden. Nebenfiguren sind Frank (Bariton), ein Verehrer Tigranas, und dessen Vater Gualtiero (Bass), der als eine Art moralisch vermittelnder Autorität auftritt. Tigrana weist als Figur Parallelen zu Carmen und zu Mimì in La Bohème auf, in Fidelia kann man ähnliche Wesenszüge wie bei Elisabeth in Wagners Tannhäuser sehen, nur machen die Figuren keinerlei Entwicklungen durch.
Der erste Akt spielt in einem flämischen Dorf. Die genretypischen Szenen (Chor der Dorfleute) werden gezeigt. Fidelia überreicht Edgar einen Mandelzweig als Zeichen ihrer Liebe. Tigrana mokiert sich über diese Liebesszene und macht Edgar Avancen; Frank macht ihr Vorwürfe, die Dorfbevölkerung wendet sich gegen sie, Edgar nimmt sie in Schutz, duelliert sich mit Frank und zündet spontan sein eigenes Haus an. – Wie nähert man sich dieser nicht sehr originellen und an Inkonsistenzen reichen Handlung? Die Inszenierung wurde dem inzwischen auch international bekannten Tobias Kratzer übertragen, das Bühnenbild entwarf Rainer Sellmaier. Das flämische Dorf wird auf raffinierte Weise wiedergegeben. Die Vorlage siedelte das Stück ursprünglich in Tirol an, doch Puccinis Erstling Le Villi spielt im Schwarzwald, und der Komponist wollte wohl im Hinblick auf den Erfolg seines Stückes nicht schon wieder eine Oper in einer deutschsprachigen Bergregion zeigen. Ist Flandern also pures Beiwerk? Hier nicht ganz: Das Bühnenbild gibt sehr detailfreudig und präzise die Anbetung des Lammes aus dem Genter Altar des Jan van Eyck (und vielleicht seines Bruders Hubert) aus den 1430er Jahren wieder. Der Quell des Lebens im Vordergrund sprudelt mit echtem Wasser, das Lamm auf dem Altar steht wie in der Vorlage auf einer Erhöhung, das Volk trägt Kostüme (ebenfalls Rainer Sellmaier) wie auf dem Gemälde und ist ebenfalls in vier Gruppen, die von allen Seiten auftreten, arrangiert. Selbst das Gebüsch, das Altarbild wie Bühne gliedert, ist der Vorlage getreu nachgestellt, und im Hintergrund sehen wir eine Sonne und eine spätmittelalterliche Stadtlandschaft. Zusammen mit dem Licht (Michael Bauer), das das leuchtende Grün des Genter Altars aufnimmt, ein ungemein beeindruckender Effekt. Zu Tigranas „Tu voluttà di fuoco“, ihren eindeutig sexuellen Angeboten in Edgars Richtung, ertönt (Andante religioso sostenuto) aus der Ferne ein Orgelpräludium – als Theatereffekt ein von Puccini sicher gesetzter Kontrast, zumal Tigrana (Alžbeta Vomácková) sich ihres Kleids entledigt (und alles… bis auf eine Art hautfarbenen Ganzkörperbodysuit zeigt, immerhin befinden wir uns im Klosterhof und in einem lebendigen Altarbild). Tigranas Vorwürfe gegenüber Edgar bemühen die Metapher von einem vom Geier lebendig zerrissenen Lamm. Tatsächlich sehen wir dazu einen großen Geier (verkörpert von David Schwindling), der seinen Riesenschnabel im Lamm auf dem Altar versenkt und es ausweidet. Ein weiteres sehr starkes Bild!
Am Übergang zum zweiten Akt wurde vom Leitungsteam ein Stück eingefügt, das eigentlich nicht aus Edgar stammt, nämlich der „Hexensabbat“ (La tregenda) aus Le Villi. Diese vier Minuten Musik sind kompositorisch packend (packender als weite Teile von Edgar) und werden optisch beeindruckend umgesetzt: Der erhöhte Platz mit dem Altar und dem nunmehr ausgeweideten und umgeworfenen Lamm wird hochgehoben, von unten tut sich buchstäblich die Hölle auf, und ihr entsteigen Figuren aus den Gemälden des Hieronymus Bosch, nicht viel später entstanden als der Genter Altar, zwar nicht direkt in Flandern, aber doch in 's-Hertogenbosch in den Niederlanden, vor allem aber von bezwingender optischer Wirkung. Eigentlich werden diese vier Minuten nur für einen Umbau der Bühne benötigt (den übernehmen wesentlich mehrere kostümierte Geier), aber welch eine Wirkung! Die monströsen Figuren bleiben über weite Strecken des zweiten Aktes präsent.
Im zweiten Akt sehen wir Edgar, der mit Tigrana durchgebrannt ist, sich aber in der Ferne nicht wohlfühlt und von Tigranas Leidenschaft gelangweilt ist. Er will sich einem zufällig vorbeiziehenden Heerhaufen anschließen, dessen Hauptmann – so ein Zufall! – kein anderer als Frank ist. Beide versöhnen sich, die sitzengelassene Tigrana schwört Rache. So weit, so opernhaft. Die weiterhin gespenstisch-monströs gehaltene Szenerie unterstreicht den Überdruss Edgars, der hier etwas an Tannhäuser im Venusberg erinnert, aber eben nur schwach: Was auch immer Edgar in den drei Akten tut, ist selten logisch, eigentlich nie aus der Handlung konsequent entwickelt und psychologisch nicht herausgearbeitet.
Der dritte und in dieser Fassung letzte Akt spielt kurz nach der sogenannten Goldsporenschlacht bei Courtrai/Kortrijk 1302. Wir sehen eine große Trauerfeier der Dorfgemeinschaft des ersten Aktes für den in der Schlacht umgekommenen Edgar, der eine ehrenvolle Bestattung erhalten soll. Ein Mönch tritt auf und erinnert die Trauergemeinde an Edgars Verfehlungen. Frank nimmt ihn in Schutz, Fidelia ist entsetzt. Tigrana tritt auf und trauert um Edgar, den sie als einzigen geliebt habe. Der Mönch und Frank bieten ihr insgeheim Schmuck dafür, dass sie Edgar vor der Dorfgemeinschaft diverser Sünden bezichtigt, was sie auch tut. Die Bevölkerung will nun Edgar das christliche Begräbnis verweigern und seinen Leichnam den Raben vorwerfen. Der Sarg wird vom Katafalk gestürzt und – ist abgesehen von ein paar Steinen leer. Der Mönch gibt sich spontan als verkleideter Edgar zu erkennen, und das Volk wendet sich gegen Tigrana. Ende der Oper. Dies ist der Schluss der vieraktigen Fassung; in der gestrafften dreiaktigen Version ersticht Tigrana eigentlich Fidelia, allerdings ohne daß es dafür andere Musik gäbe – es handelt sich um Pantomime, und Puccini hielt damals wohl seine Musik (noch) für austauschbar. Hier haben sich Tobias Kratzer und Rainer Sellmaier für den ursprünglichen Schluss und für große Ausstattungsoper entschieden. Es ist nicht klar, ob wir uns noch in Flandern befinden, aber die trauernde Dorfgemeinschaft singt ein von Puccini weit ausholend komponiertes Requiem, als der Katafalk von einem echten Pferd auf die Bühne gezogen wird. Der falsche Mönch ist für einen Mönch viel zu prächtig kostümiert, aber hebt sich so optisch am besten von der Masse ab. Als sich die leicht manipulierbare Masse in der Schlussszene gegen Tigrana wendet, nimmt sie Steine aus dem Sarg und macht sich daran, die Ausgestoßene zu steinigen. In dieser Lesart des Endes wird die Sympathie des Publikums eher auf die ebenfalls manipulierte Tigrana gelenkt, während Fidelia und Gualtiero abermals und wie sonst auch blasse Stichwortgeber bleiben.
Die Musik, die Puccini hier geschrieben hat, weist bei einigen Klangbildern und kompositorischen Kniffen wie Nonenketten auf seinen charakteristischen Stil, zu dem er mit seiner nächsten Oper Manon Lescaut finden sollte. In diesem Stadium hingegen bewegt sich die Musik zwischen Verdi, Mascagni und Leoncavallo, aber ohne die Dramatik und den Sinn für musikalischen Spannungsaufbau, die diesen Komponisten zu Eigen waren. Aus Edgar haben es auch keine einzelnen Stücke zu Berühmtheit gebracht. Der groß besetzte Chor hat viel zu tun. Die Freilichtbühne bringt es allerdings mit sich, dass die Solisten über Microports verstärkt werden; selbst ein mächtiger Chor verliert sich akustisch hingegen. Die Solisten haben es nicht einfach; Tigrana ist die eindeutig interessantere weibliche Figur, und Alžbeta Vomácková kann auch schauspielerisch überzeugen (einiges von Tigrana findet sich bei Musetta in La Bohème wieder, nur dass diese Figur eine charakterliche Entwicklung durchmacht). Fidelia auf der Bühne zu Leben erwecken, ist eine schwierige Aufgabe; Elena Rossi hat von der Regie große Theatergesten zugedacht bekommen, sie ringt mit den Händen und kauert über dem Sarg. Ihr Sopran schien in der Höhe und bei Registerwechseln manchmal etwas scharf und gepresst zu sein. Dies gilt ebenfalls für Edgar selbst (Mickael Spadaccini), während Stefano Palatchi und Domenico Balzani als Gualtiero und Frank mit ihren tieferen Stimmlagen wohl mehr Glück mit der Übertragungstechnik hatten. Auch zum Orchester (Sinfonieorchester St. Gallen) unter Leo Hussain lässt sich kaum etwas Verlässliches sagen, da die Übertragung des unsichtbar irgendwo in der Nähe in einem geschlossenen Raum spielenden Orchesters die Tonanlage hörbar an ihre Grenzen brachte. Viele Frequenzen und Grade der Dynamik sind so nicht wiederzugeben; Puccini scheint mächtige Fortissimi komponiert zu haben. Dennoch ist eine Vorstellung unter freiem Himmel mit opulenter Ausstattung wohl die beste Möglichkeit, das Werk zu präsentieren. Eine konzertante Aufführung würde die Schwächen der Komposition noch mehr zutage treten lassen, und einen Stammplatz im Repertoire wird es für Edgar wohl tatsächlich nicht mehr geben.
Am Ende der Aufführung ist es dunkel geworden, die anfangs sehr lebhaften und lauten Schwalben sind den düsteren Geiern auf der Bühne gewichen. Eine interessante Begegnung mit einem Frühwerk, die vor allem durch die üppige und vor allem sinnhafte Bebilderung seitens des Regieteams im Gedächtnis haften bleibt.
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