Schwetzingen, Nationaltheater Mannheim, DIE HOCHZEIT DES FIGARO - Wolfgang A. Mozart, IOCO Kritik, 06.03.2023

Schwetzingen, Nationaltheater Mannheim, DIE HOCHZEIT DES FIGARO - Wolfgang A. Mozart, IOCO Kritik, 06.03.2023
Schloss Schwetzingen © Uschi Reifenberg
Schloss Schwetzingen © Uschi Reifenberg

DIE HOCHZEIT DES FIGARO - Wolfgang A. Mozart

Mannheimer Erstaufführung 24. Oktober 1790 - Mozart-Da-Ponte Zyklus in Koproduktion mit dem Nationaltheater Prag

von Uschi Reifenberg

Auf der Suche nach dem Glück

Ein besserer Ort als Spielstätte für Mozarts turbulente Opera buffa Die Hochzeit des Figaro hätte nicht gefunden werden können als das älteste, im Rokoko-Stil erhaltene Rangtheater Europas, das berühmte, Schwetzinger  Schlosstheater im Mannheim benachbarten Schwetzingen.

Der aufgeklärte und kunstsinnige Kurfürst Carl Theodor, unter dessen Regentschaft Mannheim eine Blütezeit erlebte, gab Ende des 18.Jahrhunderts den Ausbau der  Gartenanlagen in seiner Schwetzinger Sommerresidenz in Auftrag, ebenso das dortige Schlosstheater, das 1753 eröffnet wurde.

Wolfgang Amadeus Mozart selbst besuchte gleich dreimal den Schwetzinger Schlossgarten, der im prachtvollen Stil englischer Landschaftsgärten angelegt ist: als konzertierender Siebenjähriger; dann 1777, als er in Mannheim in der Hoffnung auf eine Anstellung Familie Weber kennenlernte und sich in Aloysia Weber verliebte; und zuletzt  1790, als er während einer Reise in Mannheim Station machte, hier die Figaro Erstaufführung probte, diese wahrscheinlich auch dirigierte, und tags darauf einen Ausflug nach Schwetzingen unternahm.

Trailer Die Hochzeit des Figaro - Wolfgang A. Mozart youtube Nationaltheater Mannheim [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Die Natur-Kulisse der weitläufig angelegten Rasenflächen des Schlossparks findet ihre direkte Fortsetzung auf der Bühne von Barbora Hórakovás einfallsreicher und sprühender Inszenierung, und dient als Spielfläche für sämtliche Bühnenbilder der Oper.

Ein englischer Rasen ist aber leider nicht so einfach zu pflegen. Das erlebt man hautnah, wenn noch vor Beginn der Ouvertüre der Gärtner Antonio seine liebe Mühe mit dem lautstarken Rasenmäher hat, der nicht so will wie er soll und die Aggression des Gärtners gegen eine wild gewachsene Blume hervorruft.

Mit diesem witzigen „Prolog“ befindet man sich sogleich im Zentrum der Handlung, die eine Siedlungs-Gemeinschaft zeigt mit unterschiedlichsten Charakteren, den komplizierten Beziehungen untereinander, ihren Wünschen, Ängsten und Leidenschaften. Ein zeitloses soziales Gefüge, ein erotisches Intrigenspiel wie es heutzutage fast überall zu finden ist.

Was sich an diesem einen, vor Aktion strotzenden „tollen Tag“ ereignet, dem Hochzeitstag von Figaro und Susanna, zeigen Barbora Hóraková, der Bühnenbildner Falko Herold, Nicole von Graevenitz, Kostüme und Damian Chmielarz, Licht, mit stupender Personenführung, hintersinnigem Humor, Überzeichnung und faszinierenden Ideen.

Die Rezitative mit obligater Cembalobegleitung werden exotischerweise auch mal mit E-Gitarre kombiniert; eine eingefügte Figur, ein „Party- DJ für alle Fälle“ unterstreicht oder konterkariert ironisch mit Saxophon, Akkordeon oder Keyboard die Situationen. Bettina Ostermeier macht das brillant, mal steuert sie einen Tango im Stile Piazzolas bei, dann den Anfang der Filmmusik von „Der weiße Hai“, oder „Paint it Black“ von den Rolling Stones. Das wirkt erheiternd, erhellend, manchmal auch befremdlich.

Nationaltheater Mannheim / Die Hochzeit des Figaro hier Seunghee Kho als Gräfin Almaviva © Christian Kleiner

Eine bunte und surreale Fantasy-Welt mit ergänzenden Videoeinspielungen bietet den Rahmen für das alles überragende Thema: die Liebe mit all ihren vielfältigen und wechselnden Spielarten; und die nie endende Suche nach ihr. Die Sehnsucht nach dem erotischen Idealzustand, der perfekten Verbindung, der kurzen lustvollen sexuellen Befriedigung. Aber auch ihren Abgründen, der Gefühlsverwirrung, den Verletzungen, die in rohe Gewalt umschlagen können, dem Dämonischen hinter dem schönen Schein.

Graf Almaviva ist hier ein „Immobilienmakler“, der es zu Geld und Ansehen gebracht, und in seiner Wohnsiedlung das Sagen hat; sein Porträt prangt übergroß auf einem Werbeplakat, als Gönner und Förderer lässt er sich gern feiern.

Dem jungen Paar Figaro und Susanna, die von ihm abhängig sind, hat er zur Hochzeit den Traum vom Eigenheim erfüllt, natürlich nicht ohne eine Gegenleistung von Susanna zu erwarten. Auf der grünen Wiese werden nach und nach weiße Häuschen hereingetragen, in die man flugs über das Dach ein-oder aussteigen kann; eine neue Siedlung ist im Aufbau. Es herrscht Partystimmung, man trinkt Sekt, albert herum, tauscht Intimitäten aus, isst Pizza aus dem Karton und freut sich über eine glänzende Zukunft, was mit einem Feuerwerk gefeiert wird.

Zwischen den Häuschen baut Figaro ein Bett auf dem Rasen auf, Susanna probiert einen Hochzeitsschleier, ein Aquarium mit Goldfisch wartet auf seinen Platz im Haus, alles ist ein wenig schief angeordnet, die Proportionen sind verschoben, die Idylle trügt. Vieles ist nicht so wie es zu sein scheint und will auch nicht so recht zusammen passen.

Für Verwirrung sorgt das im sexuellen Dauernotstand befindliche „Pubertier“ Cherubino, ein androgyner Bill Kaulitz-Verschnitt, mit schwarzer Punkfrisur, kettenbehängt, und starker erotischer Ausstrahlung. Shachar Lavi überzeugt mit warmem flexiblem Mezzosopran, präsentiert ihre beiden populären Arien absolut brillant, ihre zweite singt sie als Drahtseilakt auf einer überdimensionalen Torte sitzend.

Diese riesige Hochzeitstorte ist Zentrum des 2. Aktes und Zufluchtsort für die Gräfin Almaviva, die an der Untreue ihres Mannes verzweifelt, depressiv geworden ist und nun an Fress-Sucht leidet. Sie sitzt im Pyjama vor der Torte, trinkt Sekt und knabbert sich nach und nach durch das sahnige Meisterwerk. Seunghee Kho singt eine tief anrührende Gräfin, die ihren Gatten noch immer liebt. Ihr fülliger jugendlicher Sopran spannt in der Arie „Porgi amor“ weite, beseelte Bögen mit großer Leuchtkraft in den Spitzentönen, dabei voller Melancholie und Einsamkeit. Zu ihrer Arie senken sich im dunklen Bühnenraum Hochzeitskleider von der Decke, blau angestrahlt, ein starkes Bild voller Symbolkraft.

Die Regisseurin findet eine mögliche Erklärung für die ausschweifende Triebhaftigkeit des Grafen Almaviva, der um 1786, bei Mozart, Da Ponte und Beaumarchais noch auf das „ius primae noctis“ (das Recht der ersten Nacht mit einer Untergebenen) pochte.

Die absolutistischen Herrscher des vorrevolutionären Zeitalters missbrauchten oftmals skrupellos ihre Macht, heute sorgt die „MeeToo“-Debatte für aktuellen Zündstoff.

Nationaltheater Mannheim / Die Hochzeit des Figaro hier Ensemble und Opernchor © Christian Kleiner
Nationaltheater Mannheim / Die Hochzeit des Figaro hier Ensemble und Opernchor © Christian Kleiner

In einer Video-Rückblende werden Graf und Gräfin als glückliches Paar gezeigt, das einer hoffnungsfrohen Zukunft entgegensieht. Dann ändert ein Schicksalsschlag von heute auf morgen alles: die Gräfin verliert ihr Kind, was die Eltern nicht verwinden können, die Mutter in die Depression treibt und Graf Almaviva zu anderen Frauen. Eine tiefe Krise für die Eheleute, die ihre Verbindung auf eine harte Probe stellt.

Ilya Lapich verkörpert einen idealen Grafen, der mit unbändiger Energie sein Ziel verfolgt. Mit unwiderstehlichem Charme und selbstherrlichem Gebaren, weniger herrisch, als  sensibel, ist er auch fähig zur Einsicht. Stimmlich begeistert Ilya Lapich mit seinem noblen und kraftvollen Bariton, der in allen Lagen prächtig zur Geltung kommt, eine Glanzrolle für den Sänger.

Das Objekt jeglicher Begierde ist Susanna, bei Mozart die Zofe der Gräfin, hier möglicherweise eine Angestellte von Almaviva. Sie ist die treibende Kraft hinter der Intrige, dem untreuen Immobilienhai gehörig die Pläne zu durchkreuzen. Sie steht absolut loyal zur Gräfin und freut sich auf ihre Hochzeit mit Figaro und das gemeinsame Familienglück. Dennoch scheint ihre Beziehung zu Almaviva ambivalent, völlig abgeneigt ist sie den Avancen des Grafen nicht …

Vom Frauenkenner Mozart als heimliche Hauptfigur konzipiert, wurde sie auch mit einer wunderbaren Musik ausgestattet; Amelia Scicolone verkörpert die Susanna: lebendig, schlau und attraktiv. Mit silbern perlendem Sopran, aber auch großer Wärme leuchtet sie die Feinheiten ihrer Partie aus, mühelos blühen ihre schwebenden Höhen, makellose Phrasierung veredeln ihren Mozart-Gesang aufs Schönste.

Nationaltheater Mannheim / Die Hochzeit des Figaro hier Ensemble © Christian Kleiner
Nationaltheater Mannheim / Die Hochzeit des Figaro hier Ensemble © Christian Kleiner

Mit ebenmäßiger Tongebung, vorbildlicher Diktion und Spannkraft verleiht Marcel Brunner mit seinem schönen Bariton der Titelfigur in jeder Situation die passende Färbung. Selbstbewusst tritt er seinem Widersacher Almaviva entgegen, wechselnd zwischen den Höhen und Tiefen der kulminierenden Ereignisse, schwankt er zwischen Eifersucht, Rache, Unsicherheit oder Vertrauen. Seiner Anfangsarie „Se vuol ballare“ gibt er gefährlich-aggressive Klangfarben und kraftvolle Spitzentöne. In seiner Eigenschaft als Friseur (Barbier) schneidet er bei „Non più andrai“ dem zum Militärdienst abkommandierten Cherubino die Haare, eine sehr gelungene Szene. Im Hintergrund laufen gleichzeitig Videos von Kriegsszenen ab, die einen aus der Mozart-Seligkeit jäh in die Realität zurück katapultieren.

Der 4. Akt führt uns in einen surrealen nächtlichen Garten mit übergroßen Fantasiegewächsen, einem immer weiter heranwachsendem Mond und riesigen Pilzen, die bei sämtlichen Personen eine halluzinogene Wirkung hervorrufen, aber auch an phallische Symbole denken lassen. Ein beeindruckendes Bühnenbild, das die Unwirklichkeit dieses nächtlichen Sommernachtstraum-Verwirrspiels und ihren Zauber wirkungsvoll einfängt. In dieser Entgrenzung scheinen sich die Identitäten der Paare in ihren Verkleidungen zeitweise zu verlieren. Für einen Moment bleibt die Zeit stehen, wenn Almaviva mit einer bewegenden Phrase seine Frau um Verzeihung bittet, in der alle Verletzungen wie weggewischt sind und für beide ein Neuanfang aufscheint.

Für einen neuen Anfang taugt aber wohl einzig Susanna, indem sie ein Kind zur Welt bringt, in welchem sich die Liebeshoffnung auf eine bessere Zukunft erfüllen kann. Zum Schluss sieht man alle Personen glücklich um eine Wiege versammelt, die voll freudiger Erwartung den zukünftigen Hoffnungsträger mit Spielzeug willkommen heißen. Cherubino stimmt als Letzter noch einmal nachdenklich mit der E-Gitarre den Anfang seiner Arie an: „Sagt, holde Frauen …“.

Stimmlich und darstellerisch ebenfalls hervorragend präsentierten sich Rebecca Blanz als selbstbewusste und gewitzte Barbarina, die ihre „Nadelarie“ (L‘ho perduta) mit den Goldfarben ihres voluminösen Soprans ausstattete, Thomas Jesatko als großspuriger, umwerfend komischer Bartolo mit Cowboyhut und Zigarre, schmetterte seine „Rachearie“ (La vendetta) mit lockerem Parlando und dramatischem Aplomb.

Seine zukünftige Angetraute Marcellina, eine bebrillte alte Jungfer, ist bei Marie-Belle Sandis in den besten Händen, die mit ihrem schlanken und beweglichen Mezzo die Wandlung zur liebenden Mutter und Frau glaubhaft vollzieht.

Thomas Berau ist stimmlich prachtvoll der zornige Gärtner Antonio, Raphael Wittmer überzeugt mit schlankem Tenor als herrlich witziger Basilio und Uwe Eikötter gibt dem stotternden Don Curzio tenorale Buffo-Qualitäten.

Im Schwetzinger Orchestergraben sorgte der Dirigent Salvatore Percacciolo zusammen mit dem Nationaltheater Orchester für einen elastischen Mozart Sound und gab dem turbulenten Geschehen rasantes Tempo, Stringenz und Feingefühl. Zu Anfang ließ der Orchesterklang noch Transparenz und Struktur vermissen, auch kleine Wackler zwischen Bühne und Graben störten ab und zu den Gesamteindruck; Percacciolo fand dann aber im Laufe des Abends zu bester Homogenität und führte Orchester und Sänger mit viel Sensibilität und Musizierfreude.

Zuverlässige Klangkultur bot der von Dani Juris einstudierte Chor, am Hammerklavier war der virtuose Erik Garcia Álvarez zu erleben.

Der tolle Abend ging mit reichlich Applaus und Begeisterung für das Regieteam, Sänger, Dirigenten und Orchester zu Ende.

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