Salzburg, Salzburger Festspiele, Don Giovanni – Wolfgang Amadeus Mozart - IOCO
Teodor Currentzis und das Ensemble Utopia präsentierten einen Mozart strahlender Schönheit und schneidender Intensität. Ein allumfassender Strom musikalischen Erlebens wurde geschaffen, von dem zu wünschen lediglich noch blieb, er möge niemals enden.
Von lebendiger Schönheit und dem Spiel der Zerstörung
Im Don Giovanni loteten Currentzis und Castellucci die Extreme neu aus
von Marcel Bub
Teodor Currentzis und das Ensemble Utopia präsentierten einen Mozart strahlender Schönheit und schneidender Intensität. Ein allumfassender Strom musikalischen Erlebens wurde geschaffen, von dem zu wünschen lediglich noch blieb, er möge niemals enden. Hier wurde Kunst radikal ernstgenommen und interpretierend verstanden. Ein solcher Zugang erfordert tiefste Hingabe, handwerkliche Brillanz und eine klar zugewandte Kommunikation. All dies konnte Currentzis mit seinem Ensemble, wie bereits zur Eröffnung der diesjährigen Festspiele mit J. S. Bachs Matthäus-Passion, auf wunderbare Weise in die unbedingte Erfahrung bringen, in das direkte Erleben. Die Premiere der Wiederaufnahme W. A. Mozarts Don Giovanni in der Inszenierung von Romeo Castellucci bei den Salzburger Festspielen 2024 überzeugte in ihrem Anspruch und wurde frenetisch umjubelt. Im Dirigat von Currentzis und der Regie von Castellucci eröffneten sich in überbordenden Ästhetiken Räume künstlerischen Erfahrens auf höchstem Niveau.
Eine Kathedrale, ganz in Weiß gehalten und sich über die gesamte Bühne im Großen Festspielhaus erstreckend war das Erste, was sich dem vollbesetzten Saal an diesem Abend darbot. Massive Holzbänke leiteten den Blick auf das große Kreuz im Zentrum. Es war eine erste Andeutung der Dimension des bevorstehenden etwa vierstündigen Opernereignisses, welches am 28. Juli 2024 in Salzburg musikalisch und inszenatorisch auf beispiellose Art zur Geltung kam. In den nächsten Minuten konnte das Publikum beobachten, wie der Kircheninnenraum sukzessive demontiert und auch vor dem Kreuz nicht Halt gemacht wurde. Inmitten dieser Entweihung setzte die Ouvertüre ein, und ein kristallklar strahlender Mozartklang jagte schneidend durch den Raum. Im Laufe dieser monumentalen Aufführung wurde Besonderes geschaffen. Musikalisch innovativ und jenseits puristischer Statik sowie in Bezug auf die Inszenierung produktiv irritierend, wurden Extreme präsentiert und konsequent durchspielt. Man erlebte eine gelingende Kunst, die diskursiv wirksam wurde.
Castellucci übernahm weite Teile seiner Inszenierung aus dem Jahr 2021 und studierte sie für diese Ausgabe der Festspiele neu ein. Damals dirigierte Currentzis das Ensemble musicAeterna. Die Inszenierung konfrontierte das Publikum auch in diesem Jahr mit einer massiven Materialschlacht grotesker Schönheit und kritischer Absurdität. Gleichzeitig wurde auf teilweise liebgewonnene Spitzen verzichtet. Komplexe Bilder symbolischen Gehalts, ästhetische Brüche und die verwobene Verortung all dessen in einem philosophischen Raum war die Art und Weise, wie der italienische Regisseur, der neben der Inszenierung auch Bühne, Kostüme und Licht gestaltete, den Stoff des Don Giovanni in Szene setzte. Momente größten Chaos, einem Don Ottavio, der mit einem kleinen Pudel die Bühne betrat, ein von der Decke hängendes Auto, ein Ziegenbock, der die Bühne passierte, sowie ein herunterfallender Klavierflügel waren Elemente jener Ästhetik, die sich stimmig in die dekonstruierende Ausdruckskraft dieser Inszenierung einfügt.
So zog sich ein Strom rastloser Zerstörung durch den Abend. Don Giovanni agierte als diabolische Kraft der Zerteilung und Spaltung, wie Castellucci im Programmheft ausführte. „Er erscheint, bahnt sich seinen Weg und trennt, unterbricht, stößt, löst Chaos aus, zerbricht die Kräfteverhältnisse, die bewährte Ordnungen, die Paare. […] Er spaltet die Gesellschaft in ihrem Kern.“ Im finalen Versinken in der Hölle schließlich gehe es nicht um moralische Läuterung, sondern darum, Don Giovanni „wieder mit seinem Wesen als Flamme der Zerteilung und Spaltung in Verbindung zu bringen.“ Castellucci und Currentzis zogen intelligent jene dramatisch-tragische Lesart durch. Gekonnt wurde ein komplexes Spannungsfeld zwischen produktiver Zerstörung und grotesker Schönheit erzeugt.
Castellucci bediente sich großer Symboliken und berührender Bilder. So bewegte sich der Utopia-Chor, für diese Produktion ergänzt um Herren des Bachchor Salzburg, meist inmitten des Bühnengeschehens. Auch nahm sich im zweiten Akt eine große Anzahl Frauen in Choreografien der Künstlerin Cindy Van Acker Raum auf der Bühne. „Die Frauen kommen, um sich den eigenen Körper, eine Präsenz, eine Biografie zurückzuholen“, führte der Regisseur aus. Einnehmende Bildkompositionen boten sich dar und erreichten wirkmächtige Höhenpunkte insbesondere in mystischen, unterweltsähnlichen Szenen. In schwarzen Gewändern gekleidet bildeten die Frauen eine bedrohliche Masse sich windender und den Kopf immer wieder in den Nacken werfender Kreaturen. Verschiedene Konzeptionen und Dimensionen von Weiblichkeit wurden in dieser Inszenierung angespielt und im engen Dialog mit Mozarts Komposition und Lorenzo Da Pontes Libretto interpretiert. Inhaltlich dicht und ästhetisch anspruchsvoll rieb diese Inszenierung das Publikum auf. So erhielt das Regieteam sowohl Jubel als auch einzelne Buhrufe.
Neben den Reizen und Virtuositäten auf der Bühne, stellte auch der Orchestergraben während dieser Opernaufführung eine ganz eigene Erfahrungswelt dar. Die Musiker·innen von Utopia bildeten eine Art bebenden Organismus. Immer wieder neu angetrieben vom Dirigat, sich in alle Richtungen bäumend, mal stehend, mal sitzend, loteten sie die Extreme musikalischen Ausdrucks aus. Im Zentrum dieser komplex ausdifferenzierten Klangarchitektur stand stetig modellierend und vermittelnd Currentzis. Jedes musikalische Detail, jede klangliche Nuance, jede einzelne Note fand sich in der unmittelbaren Bezüglichkeit und kompromisslosen Direktheit seiner Leitung wieder. Selten lässt sich eine so präzise Ausgestaltung von Klang und Dynamik erleben. Orchester und Dirigent bildeten eine kommunikative Einheit, in der es gelang, sich radikal und kompromisslos aufeinander zu beziehen. Jede noch so kleine Geste und Mimik war direkt hör- und erlebbar. Solche Musik, eine solche Kunst trifft direkt und ist in diesem Sinne radikal nahbar und dicht.
Auf das Höchste hervorzuheben ist zudem Maria Shabashova, die am Hammerklavier ganze Welten klanglicher Schönheit schuf. Ihr energetisches, dynamisch brillantes und so liebevolles Spiel zog sich als wunderbare Linie künstlerischer Meisterklasse durch den Abend. Bereits seit vielen Jahren arbeiten sie und Currentzis zusammen. Jedes Mal faszinieren sie dabei neu.
Auch die Sänger·innen leisteten Großes. Federica Lombardi als Donna Elvira und Anna El-Khashem als Zerlina überzeugten sowohl stimmlich als auch im theatralen Spiel. Von der Regie mal als (scheiternder) Glücksritter, mal als melancholischer Clown inszeniert, interpretierte Julian Prégardien den Don Ottavio als herzzerreißend tragische Figur, die zwar immer mehr gebrochen wird, an sich selbst zerbricht, aber doch irgendwie ganz viel zusammenhält. Nachdem Prégardien bereits im letzten Jahr in The Indian Queen mit Utopia und Currentzis gearbeitet hat, sang er nun neben Don Ottavio in Don Giovanni auch den Evangelisten in der Matthäus-Passion – eine erfolgreiche Zusammenarbeit, die auf mehr hoffen lässt. Davide Luciano verkörperte auch in diesem Jahr den Don Giovanni als eine vielschichtige Figur atemberaubender Gestaltung und Transformation. Die Kraft der Zerstörung kam dramatisch zur Geltung und manifestierte sich schließlich in einer von Luciano meisterhaft dargebotenen Höllenfahrt. Nicht zuletzt jene wird perfekt ergänzt durch den eindringlichen Bass von Dmitry Ulyanov als Il Commendatore. An der Seite von Don Giovanni begeisterte Kyle Ketelsen als Leporello voller groteskem Witz und energiegeladenem Spiel. Ein wahres Ereignis war schließlich Nadezhda Pavlova als Donna Anna. Mit virtuoser Leichtigkeit im Gesang, atemberaubender Präzision in der Phrasierung und zugleich dramatischer Intensität in der Darstellung verkörperte sie die existentielle Zerrissenheit ihrer Rolle auf berührendste Art und Weise. Diese Donna Anna ist eine Persönlichkeit unglaublicher Stärke in all dem zerstörerischen Chaos um sie herum. Es ist ein Genuss, das perfekt abgestimmte Zusammenspiel zwischen Pavlova und Currentzis zu erleben, welches sich in permanenter Kommunikation zwischen Orchestergraben und Bühne bewegte. Jede Nuance von Musik und Gesang wurde präzise moduliert. Sopranistin und Dirigent sprachen hier dieselbe Sprache künstlerischen Anspruchs und Ausdrucks.
Der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis ist bereits seit vielen Jahren regelmäßig bei den Salzburger Festspielen zu Gast. Als Gründer und Leiter der Ensemble musicAeterna mit Sitz in St. Petersburg und Utopia ist er auf den großen Bühnen der Klassikwelt präsent. Bis zum Ende der Spielzeit 2023/24 war er zudem Chefdirigent des SWR Symphonieorchester. Neue Maßstäbe setzte Currentzis insbesondere mit Aufführungen der Werke von Gustav Mahler, Dmitri Schostakowitsch, Anton Bruckner und Mozart.
Als Projektorchester 2022 von Currentzis gegründet gehört Utopia zu den spannendsten Klangkörpern unserer Zeit. In ihm versammeln sich Musiker·innen verschiedener Nationen und Kontexte. Meist sind es Künstler·innen, die selbst Orchester leiten, Stimmführer·innen sind oder bereits allein Konzertsäle füllen. Man trifft sich hier, um mit den Logiken des Alltäglichen zu brechen und gemeinsam große Kunst zu schaffen. In jeder einzelnen Person dieses Ensembles ist dies so auschlaggebende mehr zu erkennen. Musik voller Hingabe, Leidenschaft und Schönheit ist das Ergebnis einer komplexen Arbeit zwischen Individualismus, Kollektivität und Vermittlung. Immer wieder neu fasziniert, wie lebendig, kommunikativ und dynamisch sich das Zusammenspiel als dieser Persönlichkeiten gestaltet. An der Seite von Currentzis steht insbesondere Vitaly Polonsky, Leiter des Chores von Utopia, um welchen das Ensemble 2023 ergänzt wurde. Polonsky leitet zudem den musicAeterna-Chor. Im Jahr 2023 hatte Utopia sein gefeiertes Debüt bei den Salzburger Festspielen mit Henry Purcells The Indian Queen und Mozarts Messe in c-Moll. Nachdem das Ensemble bereits mit mehreren Touren die großen Bühnen Europas bespielte, folgen nun im Oktober diesen Jahres Auftritte mit der fünften Sinfonie von Mahler unter anderem in Hamburg, Berlin, München und Athen sowie im Frühjahr 2025 eine große Produktion Jean-Philippe Rameaus Oper Castor et Pollux an der Opéra national de Paris in der Regie von Peter Sellars. Weitere Gastspiele führen Currentzis und Utopia unter anderem nach Stuttgart, Baden-Baden, Antwerpen und Rom.
Mozarts Komposition mit dem Libretto von Da Ponte gehört sicher zum Besten, was je an Kunst geschaffen wurde. Jedes Mal neu fasziniert die Dichte und Komplexität dieses Werks. Auf wunderbar anspruchsvolle Weise ist hier alles umgeben von der produktiven Spannung zerstörerischer Tragik und herzzerreißender Schönheit. Am Ende verschwindet mit Don Giovanni „das Prinzip des Chaos, jene spaltende Energie, die zugleich eine Quelle von Dynamik ist. Sobald er fort ist, erstarrt alles,“ so Castellucci. Regie, Dirigat und Orchester ließen sich auf die Komplexität all dieser Ebenen ein und erschufen Großes. Das Publikum feierte die Mitwirkenden mit stehenden Ovationen und brach insbesondere bei Currentzis und Utopia in frenetischen Jubel aus.