Salzburg, Salzburger Festspiele, DER IDIOT - Mieczysław Weinberg, IOCO

Krzysztof Warlikowskis Inszenierung dieses 1986/87 entstandenen und 2013 in Mannheim uraufgeführten Werks bei den Salzburger Festspielen 2024 überzeugte durch interpretatorische Dichte, kluge Narration und hervorragende Charakterstudien.

Salzburg, Salzburger Festspiele, DER IDIOT - Mieczysław Weinberg, IOCO
Blick vom Mönchsberg Hofstallgasse bei Nacht © TSG Breitegger

Von Liebe, Leid und Befreiung in einer erkrankten Welt

Warlikowskis psychologisch komplexe Lesart Weinbergs Meisterwerk berührte mit solistischer Meisterklasse und klanglicher Tiefe

von Marcel Bub

Möglichkeit und Unmöglichkeit menschlicher Zuneigung, die Gewalt gesellschaftlicher Rollen und der tiefe Wunsch nach Zugehörigkeit kamen in Mieczysław Weinbergs Oper Der Idiot radikalisiert zur Geltung. Liebe als Vehikel treibend-befreiender und zugleich zerstörerischer Kraft brach sich unerbittlich Bahn. Am Ende all jener teils individueller, innerlicher oder auch öffentlich artikulierter Befreiungsversuche standen melancholische Weltflucht, Mord, Femizid. Krzysztof Warlikowskis Inszenierung dieses 1986/87 entstandenen und 2013 in Mannheim uraufgeführten Werks bei den Salzburger Festspielen 2024 überzeugte durch interpretatorische Dichte, kluge Narration und hervorragende Charakterstudien. Ergänzt um ein auf allen Ebenen stimmiges Bühnenbild von Małgorzata Szczęśniak bot sich dem Publikum am 18. August 2024 ein bewegendes Erleben ästhetisch-theatralen Ausdrucks. Musikalisch geleitet wurde die Produktion von der Weinberg-Expertin Mirga Gražinytė-Tyla. Am besagten Aufführungstag übernahm Oleg Ptashnikov gesundheitsbedingt das Dirigat der Wiener Philharmoniker.

Bogdan Volkov (Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin) © SF/Bernd Uhlig

Nur im Mitleid ist Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, genannt „Der Idiot“, zur Liebe fähig. Die tragische Titelfigur Fjodor Dostojewskis Roman verbrachte auf Grund von Krankheit weite Teile seiner Jugend in einem Schweizer Sanatorium, einem Ort der Künstlichkeit, fernab von Realität. Unerbittlich brach jene nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg herein. Gewalt, Leid und Unglück trafen auf einen quasi nackt und unbedarft in die Welt geworfenen Menschen. Auf sein reines, unmittelbares Wesen reagierte sein Umfeld sowohl mit Faszination als auch mit Entsetzen. Im Programmheft hieß es in einem Gespräch mit dem Regisseur: „Er ist der nackte Mensch. Und seine Nacktheit entlarvt die lächerliche und groteske Feigheit derer, denen er begegnet. Es ist die Nacktheit, die sich in den Schmutz der Welt begibt.“

Vladislav Sulimsky (Parfjon Semjonowitsch Rogoschin), Bogdan Volkov (Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin) © SF/Bernd Uhlig

Der Fürst und Idiot Myschkin trat in die Welt und ein komplexes Spiel leidenschaftlich-tragischer Verwirrungen und Liebeskämpfe entfaltete sich. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass diese beiden Titel und Zuschreibungen nicht unmittelbar vor dem Hintergrund eines eher westlich geprägten Sprachgebrauchs zu verstehen sind. So konnten im historisch-strukturellen Umfeld der Handlung, dem Zarenreich, Fürstentitel auch von Personen militärischen Rangs oder Staatsdiensts vererbt werden. Ferner beinhaltet die Bezeichnung Idiot im Russischen weniger eine dezidiert negative Bedeutung, sondern bezieht sich eher auf einen Außenseiter. Eben dieses Hereintreten von außen, dieses Daneben und nie ganz Dabei macht den tragischen und auf sein Umfeld zugleich transformativen Charakter des Idioten aus. Der lyrische Tenor Bogdan Volkov füllte diese Rolle auf berührende Weise aus. Er präsentierte dem Publikum in der Felsenreitschule einen Charakter voller naiver Zerbrechlichkeit und melancholischer Tiefe. Stimmlich nuanciert und ausdifferenziert durchzog seine Darstellung dieses erschütternden Charakters den Abend. An seiner Seite brillierte Ausrine Stundyte mit intensiver Klarheit und Schärfe. Mitten ins Herz traf ihre Interpretation der Nastassja Filippowna Baraschkowa – Bezugs- und Angelpunkt vielen Strebens in diesem Werk. Sich windend zwischen Selbstzweifel, Manipulation und dem Wunsch nach echter Liebe, manifestierten sich an dieser Figur all jene gesellschaftlichen Machstrukturen, die letztendlich zu ihrer Tötung führten. Mit der Einsicht, lediglich im Fürsten habe sie die Möglichkeit gehabt, einem echten Menschen zu begegnen, kulminierte ein weiteres Mal jene Gewalt, die das ganze Werk durchzog. Einen Ausdruck fand jene zudem in der Rolle des Parfjon Semjonowitsch Rogoschin, eindrucksvoll und mit dunkler Intensität dargestellt vom Bariton Vladislav Sulimsky. Mit unerbittlicher Kraft und zugleich sensible trieb er in der Rolle des Rogoschin die Handlung voran.

Insgesamt zeichnete sich diese Produktion durch eine durchgehend starke Besetzung aus. Besonders hervorzuheben ist dabei zudem Iurii Samoilov als Lukjan Timofejewitsch Lebedjew. Mit stimmlicher Komplexität und einem theatralen Spiel mit den Ebenen bracht sich das Groteske im Zuge seiner Darstellung Bahn. Von Myschkin als Lichtgestalt bezeichnet, ist Aglaja Iwanowna Jepantschina sicher eine der spannendsten Figuren des Stücks. Ihr Drang nach Sinn, Emanzipation und emotionaler Bindung trotz aller Hindernisse wurde auf erstrahlende Weise von Xenia Puskarz Thomas verkörpert. Voll tragischer Schönheit in Klang und Spiel erinnerte sie an das, was denkbar aber dann doch unmöglich zu sein scheint.  An ihrer Seite überzeugten ferner Jessica Niles als Alexandra Iwanowna Jepantschina und Margarita Nekrasova als Jelisaweta Prokofjewna Jepantschina.

Vladislav Sulimsky (Parfjon Semjonowitsch Rogoschin), Bogdan Volkov (Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin), Iurii Samoilov (Lukjan Timofejewitsch Lebedjew) © SF/Bernd Uhlig

Weinbergs motivische Musik durchzog die Handlung mit einnehmender Tiefe und melancholischer Tragik. Man wurde eingesogen in einen narrativ-kommentierenden Strom kompositorischer Fülle. Ptashnikov schuf mit seinem souveränen und präsenten Dirigat eine komplexe Klangarchitektur. Wenngleich die Extreme und Dynamiken teilweise noch etwas radikaler hätten herausgearbeitet werden können, fügte sich diese Lesart stimmig in die getragene Erzählweise der Handlung ein. Dem Publikum bot sich ein zugewandt kommunikatives Zusammenfügen der Ebenen von Bühne und Orchestergraben. Ergänzt wurden die Wiener Philharmoniker durch die Herren der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor unter der Leitung von Pawel Markowicz.

Mit Der Idiot schufen der Komponist Weinberg und der Librettist Alexander Medwedew eine anspruchsvolle Charakter- und Gesellschaftsstudie voller psychologisierender Zugänge. Im Programmheft wurden diesbezüglich insbesondere zwei Aspekte hervorgehoben: So war ein Ausgangspunkt der Arbeit an diesem Werk des Fürsten Ausspruch, „Die Welt ist krank. Sie muss geheilt werden.“ Von den beiden ergänzt wurde diese Diagnose um, „Barmherzigkeit ist die einzige leitende Kraft menschlichen Daseins!“ In Myschkin wurde all jene Krankheit manifest, von der auch die Welt selbst befallen ist. Freundlichkeit und Zuneigung wurden verunmöglicht, und lediglich Gewalt und Niedertracht kamen zur Geltung.

Ausrine Stundyte (Nastassja Filippowna Baraschkowa) © SF/Bernd Uhlig

Warlikowskis Lesart fokussierte sich auf eben jene tragischen Ambivalenzen und existentiell-gewaltvollen Parallelitäten. Alle Figuren waren den individuellen und strukturellen Mächten auf definierende Weise unterworfen und erreichten in ihrem unerbittlichen Aufbäumen doch immer wieder Momente der Klarheit und Wahrheit. Die Befreiung musste letztendlich scheitern – existentiell radikalisiert in der patriarchal eingeleiteten Tötung von Nastassja. Im Verlauf des Stücks eröffnete sich ein Blick auf die tragische Brutalität aber auch die tiefe Schönheit menschlicher Existenz. Am Schluss legten sich Myschkin und Rogoschin neben die Ermordete und flohen innerlich in groteske Melancholie. Tosender Applaus setzte ein in der Felsenreitschule, nachdem ein abermals großes Opernereignis der diesjährigen Festspiele seinen produktiv erschütternden Abschluss fand.

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