Plattl mit Herz - Monika Jaroš -Alexandra Stockert, IOCO Buch-Rezension, 21.11.2019
Plattl mit Herz: Jürgen E. Schmidt - Ein Leben für die Schallplatte
von Michael Stange
In dem Buch Plattl mit Herz erinnern die Herausgeberinnen Monika Jaroš und Alexandra Stockert sowie dreizehn weitere Autorinnen und Autoren an Jürgen E. Schmidt. Die Sammlung erinnert an die tiefen Spuren, die er als wichtigster österreichischer Schallplattenproduzent auf seinen Feldern hinterlassen hat und beschreibt die Gründe seines menschlichen und beruflichen Erfolges.
Fesselnde Neuerscheinung über den Wiener Tonproduzenten - Böhlau Verlag
Das Buchcover zeigt den 2010 im Alter von 73 Jahren Verstorbenen beim Betrachten einer Schellackplatte. Erinnert wird in der oberen Buchhälfte durch die variierenden Lila-Farbtöne an die Cover seiner der Schallplatten-Serie „Lebendige Vergangenheit“. So nannte Schmidt seine mehr als 500 Titel umfassende Portraitreihe historischer Sängerlegenden. Sie war seine Herzensangelegenheit, die er unter Verwendung von über 8000 Schellackplattenseiten seit 1966 herausgab. Mit diesen Recitals setzte er ihnen und sich durch seine archäologischen Ausgrabungen bleibende tönende Denkmäler. Heute erklingt die Serie nahezu vollständig auf den einschlägigen digitalen Streamingdiensten wie Spotify und YouTube.
Vier Kapitel mit den Titeln „Jürgen E. Schmidt“, „Kabarett aus Wien“, „Lebendige Vergangenheit“ und „Ausblick- Was bleibt?“ stellen Schmidt und seine Welt vor. Begebenheiten, Anekdoten, Würdigungen von Sammlern, Freunden sowie Geschäftspartnern zeichnen ein umfassendes und faszinierendes Bild. Ergänzt wird das Buch durch einen Anhang mit den Katalogen der Schallplattenserien „Kabarett aus Wien“, „Lebendige Vergangenheit“ und „Court Opera Classics“.
Wer war Jürgen E. Schmidt? Sein Berufsweg führte ihn vom Kaufmannsgehilfen, Schauspieler, Aufnahmeleiter einer großen Schallplattengesellschaft zum Geschäftsführer der Tonträgerfirma Preiser Records in Wien. In Europa nahm er mit seinen Produktionen eine herausragende Stellung unter den unabhängigen Schallplattenproduzenten ein. Gleichzeitig war er selbst ausgebildeter Opernsänger und Gesangsliebhaber.
Schon als Jugendlicher sammelte er - angeregt durch seinen Vater und einen Freund - Schallplatten. Die mangelhafte Qualität der Langspielplatten der fünfziger Jahre bewog ihn häufig zum Umtausch der gerade gekauften Platten. Der verzweifelte Schallplattenhändler bat ihn schließlich, sich mit seinen häufigen Reklamationen unmittelbar an den Hersteller zu wenden und sich dort fehlerfreie Stücke auszusuchen. Als Schmidt dies tat und mit seinen Reklamationen dort eintraf, führte seine Fachkompetenz nicht nur zum gewünschten Umtausch sondern auch zu seiner Einstellung bei der Wiener Filiale des Schallplattenlabels Columbia. Mit zwanzig Jahren war er dort bereits Aufnahmeleiter und wenige Jahre später Geschäftsführer des Labels Preiser Records.
Seine Kollegen der Kaufmannslehre beschrieben ihn mit 18 Jahren in ihrem humorvollen Abschlusszeugnis wie folgt: „Nach mit Ach und Krach überstandener Lehre hat sich Herr Schmidt durch besondere Kenntnis aller Stoffe in Komik und Dramen ins beste Neonlicht zu setzen gewusst. Durch seine unvergleichliche Redekunst hat er es bestens verstanden, sich nicht nur bei uns sondern bei der ehrenwerten Milchfrau höchstes Vertrauen und uneingeschränkten Kredit zu verschaffen.“
Sein Lebenselixier bestand aus zwischen 1900 und 1950 aufgenommenen, seltenen Schellackplatten mit Arien, Opernauszügen und Liedern. In Schmidts ersten Berufsjahren waren sie rar, öffentlich unzugänglich und dadurch unbekannt und nahezu vergessen. Er war nicht nur Sammler, der Schätze für sich bewahrte. Die Stimmen der Vergangenheit machte er durch seine Transfers auf das damalige Medium Schallplatte einem breiten Publikum zugänglich. So leistete dieser unabhängige Produzent ab den sechziger Jahren den wichtigsten Beitrag in diesem Sektor, bewahrte diesen Zauber der Vergangenheit, schuf die Möglichkeit, ihn neu zu entdecken und bewahrte eine akustisch versunkene Gesangstradition. Seine Schallplatten vermitteln auch durch ihre tontechnische Qualität noch heute die Bedeutung der Portraitierten.
Jürgen E. Schmidt begann seine Gesangsserie „Lebendige Vergangenheit“ mit Aufnahmen von Wiener Opernlieblingen der Jahre nach 1920. Mit Geschmack und Spürsinn ergänzte er die Serie später um verklungene Sängerinnen und Sänger aus der ganzen Welt. So war er auch einer der ersten, der gesanglich den „Eisernen Vorhang“ hob und westlichen Gesangsliebhabern Zugang zu vielen, zumeist akustisch unbekannte oder unterrepräsentierten, Operngrößen Russlands bot, lange bevor sie im Internet zu hören waren.
Das Buch verdeutlicht, welche Bedeutung Jürgen E. Schmidt allein durch den Katalog und die überragende Qualität seiner hinterlassenen Produktionen hatte. Erinnert wird an viele Etappen, die ihn als Manager und Motor vieler Projekte zeigen, der wie ein Spitzendirigent mit verschiedene Orchestergruppen das fertige Kunstwerk Schallplatte formte. Wie mit ihm als Produzent aus Ko-Produzenten, Künstlern, Technikern, und Vertriebspartnern ein Spitzenensemble wurde, das mehr als dreißig Jahre eine treue Käuferschaft mit qualitativ hochwertigen Tonträgern beglückte, ist plastisch, amüsant und mit Herz in den unterschiedlichen Beiträgen beschrieben. Schmidts Tatkraft, Ausdauer, sein Charme und das Knüpfen eines weltweiten Sammlernetzwerkes von Schallplattenlieferanten, Stimmenliebhabern und Unterstützern, die ihn bei neuen Veröffentlichungen unterstützten, füllen die Seiten und lassen sein Leben und Werk kurzweilig Revue passieren.
Peter Jarolin erklärt den Erfolg seiner Serie „Lebendige Vergangenheit“ wie folgt: „Es wurden lukrative Kaufangebote für wertvolle Platten-Unikate ausgeschlagen und sie stattdessen Schmidt anvertraut, einzig aus dem Grund, weil jeder merkte: Hier ist einer, der macht das nicht für seinen persönlichen Profit sondern um der Sache willen. So entstand das Lebenswerk eines Sammlers, der durch Sammler für Sammler wirkte und den geliebten Stars vergangener Zeiten ein bleibendes Denkmal setzte.“
An den Produzenten von neuen Aufnahmen erinnert sich im Buch der Bass Robert Holl wie folgt: „Unsere Aufnahmen bei Preiser gehören zu meinen schönsten künstlerischen Erlebnissen. Ich bekam die Freiheit, auch die unbekanntesten Lieder aufzunehmen, und wenn der wunderbare Tonmeister Josef Kamykowski mal bemerkte: Sie Herr Schmidt, das ist nun wieder so ein Lied, weshalb ich die Platte nicht kaufen würde!“, so antwortete Jürgen: „Aber Herr Ingenieur, Sie kaufen sich doch eh keine Platte, sondern lassen sich alle schenken!“ Und zu mir sagte Jürgen beruhigend: „Burli, wir wollen doch keine Geschäfte machen, sondern Kunst!“
Ausführlich dokumentiert wird auch, wie er durch die Zusammenarbeit mit Künstlern wie Helmut Qualtinger und vielen anderen heute noch fesselnde Wortaufnahmen produzierte. Neben dem Bild des Menschen und seines Einsatzes, seiner Kreativität, Vitalität und seines Kunstsinnes für seine künstlerischen „Kinder“ ist das Buch für Interessierte an Schallaufzeichnung und die Sammler seiner Tonträger zudem eine Fundgrube über die Geschichte der Schallplatte..
Schmidts Findigkeit beim Auffinden seltener Aufnahmen, wie er alte Aufnahmen remastert hat oder Neuproduktion und den Verkauf seiner Erzeugnisse anging, sind zugleich Lehrbücher für Tonträgerarchäologen und künftige Musikproduzenten.
Für Liebhaber Ton- und Wortaufnahmen sind allein die Anhänge eine sprudelnde Fundgrube, um Neues zu entdecken oder sich an Bekanntes zu erinnern. Die Kataloge "Lebendige Vergangenheit", "Court Opera Classics" und „Kabarett aus Wien“ vermitteln Sänger, Gesangsfans und Kleinkunstbegeisterten neben der Lebensbeschreibung reiche Discographien von Ton- und Wortaufnahmen sowie Tipps für hörenswerte Aufnahmen. Gerade für die Nutzer von Streamingdiensten und für Neueinsteiger in historische Aufnahmen wird das Buch dadurch zu einem praktischen Leitfaden bei der Sänger- und Titelwahl.
Der Böhlau Verlag Wien hat mit diesem Buch dem Menschen und Tonträgerproduzenten Jürgen E. Schmidt ein einzigartiges, wichtiges und verdientes Denkmal gesetzt. Nicht nur für Tonträgerbegeisterte ist es eine faszinierende Biografie und ein reicher Katalog.
Höchst lesenswert und als Nachschlagewerk unverzichtbar
---| IOCO Buchbesprechung |---