Paris, Saint-Eustache, THE INDIAN QUEEN - Henry Purcell, IOCO
Was diese Aufführung auf so faszinierende Weise zu etwas wahrlich Denkwürdigen werden ließ, war die durchgehende, aufmerksame und dadurch unmittelbar hör- und erlebbare Bezogenheit aller Beteiligten aufeinander.
![Paris, Saint-Eustache, THE INDIAN QUEEN - Henry Purcell, IOCO](/content/images/size/w1200/2025/02/Jeanine-De-Bique--Teculihuatzin_Do-a-Luisa----Kirill-Nifontov--Don-Pedro-De-Alvarado---Alexey-Kostromin-1.jpg)
Bei der konzertanten Voraufführung Henry Purcells The Indian Queen erfüllten Teodor Currentzis und Utopia die Pariser Kirche Saint-Eustache mit Klängen mystisch befreiender Schönheit. Solistisch virtuos sowie in Bezug auf Orchester und Chor voller gestalterischer Brillanz überzeugte ein weiteres Mal diese kluge Adaption der Semi-Oper in der Fassung von Peter Sellars.
Von Marcel Bub
Bereits im Jahr 2013 brachten Currentzis und Sellars ihre Interpretation von The Indian Queen auf die Bühne des Teatro Real in Madrid – damals mit dem Ensemble musicAeterna. In Auftrag gegeben wurde diese radikale Neudeutung von Gerard Mortier. Weitere Aufführungen folgten in den vergangenen Jahren, zuletzt mit Utopia bei den Salzburger Festspielen 2023. Purcells lediglich etwa 50-minütige Komposition, bestehend aus fünf Akten und einem Prolog aus dem Jahr 1695 wurde auf bis zu dreieinhalb Stunden erweitert. Zur Anwendung kamen dafür einzelne, teilweise in den Archiven ruhende Vokalstücke des Komponisten selbst. Neben der Komposition zahlreicher Anthems widmete sich der bereits im Jahr der Uraufführung verstorbene Purcell immer wieder der Vertonung heidnisch Rituale und schuf damit Werke äußerster emotionaler Tiefe. Ein komplexer Bogen spannt sich nun anhand dieser Einzelwerke, und eine zusammenhängende Tragödie bildet sich heraus.
![](https://www.ioco.de/content/images/2025/02/Dennis-Orellana--Hunahp----Jeanine-De-Bique--Teculihuatzin_Do-a-Luisa----Andrey-Nemzer--Ixbalanqu----Alexey-Kostromin.jpg)
An die Stelle des Original-Librettos, basierend auf Schauspieltexten von John Dryden und Robert Howard, tritt eine gänzlich andere Handlung. Ursprünglich in der Zeit vor der spanischen Eroberung Mexikos verortet und von Auseinandersetzungen der Azteken mit den Inka handelnd, widmen sich Sellars und Currentzis in ihrer Version nun der Kolonialisierung Mittelamerikas durch die Konquistadoren. Die vom Roman La niña blanca y los pájaros sin pies (1992) von Rosario Aguilar ausgehende Erzählung nimmt dezidiert die Perspektive der Frauen ein, deren gewaltvolles Leben und leidvolle Erfahrungswelt sich dem Publikum auf radikal-befreiende Weise eröffnen. Die Gesangs- und Orchesterpartien immer wieder mit produktiven Brüchen durchziehend, beinhaltet diese feministische und emanzipative Lesart reflektierende Narrationen über die innerliche Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonist·innen. Die eindringlich die Tiefenstruktur menschlicher Psyche adressierende Rolle der Sprecherin übernahm auch an diesem Abend die Schauspielerin Amira Casar.
Im Zentrum der Handlung steht die Prinzessin Teculihuatzin, die mit dem Konquistador Don Pedro de Alvarado verheiratet wird. Als fortan Doña Luisa soll sie die Eindringenden ausspionieren, verliebt sich jedoch in ihren Ehemann. Ein Kampf um Identität, Verlangen und Ehre bricht sich in aller Ambivalenz und Gewalt Bahn. Abermals verkörperte Jeanine De Bique die Rolle der mit sich und der Welt auf so kraftvolle und herzzerreißende Weise ringenden Liebenden. Dem Publikum bot sich eine Darbietung, die von faszinierender Präsenz in Gesang und Spiel sowie einer bis ins Äußerste filigran nuancierter Stimmgestaltung geprägt war. Im zugewandten Austausch gestalteten Currentzis und De Bique jede einzelne Passage dieser anspruchsvollen Sopranpartien mit dem unbedingten Anspruch, Großes zu schaffen. Jene klangliche Schönheit auf höchstem Niveau trat hier zu Tage, die in der Bereitschaft aller Beteiligten gründet, volles Risiko einzugehen, und sich dabei in Gänze aufeinander verlassen zu können.
![](https://www.ioco.de/content/images/2025/02/Natalia-Smirnova--Do-a-Isabel----Teodor-Currentzis--Alexey-Kostromin.jpg)
Diese kommunikative Kompetenz und kompromisslose Direktheit, welche die künstlerische Arbeit von Currentzis seit je her prägt und zu etwas so Außergewöhnlichem macht, setzten sich auch in den Gestaltungen der anderen Solist·innen fort, die teilweise auf eine jahrelange Zusammenarbeit mit dem Dirigenten zurückblicken können. So durchzogen den nächtlichen Kircheninnenraum die kristallklaren, voll Präzision gestalteten Partien des Countertenors Andrey Nemzer (Ixbalanqué) sowie die kraftvoll, leidenschaftlichen Passagen des Bassbaritons Nicholas Newton (Maya-Schamane). Dennis Orellana überzeugte als der Krieger Hunahpú und
Mingjie Lee als der spanische General Don Pedrarias Dávila. Dessen Frau, Doña Isabel, die den Wandel ihres Mannes vom „Gentleman und wahren Christen“ hin zu einem gewalttätigen Despoten miterleben musste, wurde von Natalia Smirnova mit einem fast mystisch erstrahlenden Sopran verkörpert. Hervorzuheben ist ferner der Tenor Kirill Nifontov, dessen Darbietung des Don Pedro De Alvarado, als Bezugspunkt Teculihuatzins Zerrissenheit, komplex und machtvoll im Spiel sowie den Raum gesanglich intelligent ausfüllend sich in die durchgehend hohe Leistung der Solist·innen einreihte.
Was diese Aufführung auf so faszinierende Weise zu etwas wahrlich Denkwürdigen werden ließ, war die durchgehende, aufmerksame und dadurch unmittelbar hör- und erlebbare Bezogenheit aller Beteiligten aufeinander. Bereits zu Beginn des Abends, welcher auf Wunsch der Orchesterleitung ohne Applaus und in Ruhe verbracht werden sollte, begaben sich alle Musiker·innen in Stille auf ihre Positionen. In die andächtige Atmosphäre der beeindruckend einnehmenden Gotik von Saint-Eustache trat die erst nur schemenhaft erkennbare und dann behutsam angestrahlte Gestalt von Currentzis. Mit ganzer Präsenz im Zentrum von Klang und Aufmerksamkeit stehend, leitete er den so wunderbar komponierten Prolog des Werks ein. Was in den nächsten Stunden von Utopia geleistet wurde, gehört sicherlich zum Besten, was derzeit musikalisch erlebbar ist. Orchester und Dirigent bildeten einen sich im Klang windenden und energetisch bebenden Organismus voll leidenschaftlicher Präzision, atemberaubender Dynamik und einem hochkompetenten Gespür für Raum, Inhalt und Form. Auf teilweise im Stehen gespielte risikoreiche Passagen in mitreißendem Tempo, folgten Abschnitte im träumerisch melancholischen Pianissimo. Als rote Linie durchzog diese gewaltige Klangarchitektur dabei das höchst virtuose Spiel von Maria Shabashova am Cembalo. Im vertrauten Austausch befindlich verliehen sie und Currentzis dem Fundament von Klang und Stimmung einen ganz besonderen Zauber.
Der Utopia-Chor unter der Leitung von Vitaly Polonsky stellte schließlich eine weitere zentrale Komponente dieser außergewöhnlichen Gesamtleistung dar. Sich auf den sakralen Raum perfekt einlassend, präsentierten die Sänger·innen die Chorpartien im höchsten Maße ausdifferenziert und gestalterisch innovativ. Selten lässt sich ein dynamisch so komplexer und atmosphärisch so dichter Chorklang erleben. Eben dieses Zusammenspiel aus individueller Meisterklasse und kollektiver Präsenz machen die besondere Qualität von Utopia aus.
„Utopia is something that is impossible,
and that´s what attracts us – making the impossible.”
(Teodor Currentzis)
Als einer der facettenreichsten und spannendsten Klangkörper unserer Zeit begeisterte Utopia seit seiner Gründung durch Currentzis im Jahr 2022 als Projektorchester bereits auf den großen Bühnen Europas. So traten die internationalen Musiker·innen – meist handelt es sich um Solist·innen oder Stimmführer·innen anderer bedeutender Orchester und Ensembles – unter anderem bereits in Berlin, Hamburg, München, Wien, Rom und Athen auf. Bei den Salzburger Festspielen sind sie mittlerweile regelmäßige Gäste und kehren auch in diesem Jahr mit Werken von Dmitri Schostakowitsch, Gustav Mahler und Jean-Philippe Rameau zurück. Das gefeierte Debüt an der Opéra national de Paris fand im Januar dieses Jahres in ähnlicher Besetzung mit Rameaus Castor et Pollux statt. Auch hier erarbeiteten Currentzis und Sellars eine Inszenierung, die durch einfühlende Interpretation und choreografisch-ästhetische Zugänglichkeit befreiende Räume von Ausdruck und Kunsterfahrung schaffen konnte. De Bique überzeugte abermals auf ganzer Linie und interpretierte die Rolle der Télaïre voll sanfter Zerbrechlichkeit und zugleich virtuoser Stärke. Bei der nächsten Tour des Orchesters im April wird Currentzis wieder mit dem Pianisten Alexandre Kantorow zusammenarbeiten und das Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83 von Johannes Brahms zur Aufführung bringen. Ferner wird Mahlers Sinfonie Nr. 4 G-Dur zu erleben sein. In einer ersten Albumveröffentlichung auf dem neu gegründeten Label Theta wird zudem die Sinfonie Nr. 9 d-Moll von Anton Bruckner erwartet.
![](https://www.ioco.de/content/images/2025/02/Utopia--Jeanine-De-Bique--Teculihuatzin_Do-a-Luisa---Teodor-Currentzis----Amira-Casar---Alexey-Kostromin-1.jpg)
In Paris schufen die Musiker·innen und Sänger·innen an diesem Abend im Februar tiefe Kunst voller Berührung und Zugewandtheit. Kreative Offenheit in Interpretation und Ausdruck sowie nuancierte Gestaltung jeder einzelnen Passage boten einen Blick auf die Tiefenstruktur Purcells Werk. Als nach etwa dreieinhalb Stunden reiner Musik De Bique behutsam fein und zugleich voller Stärke die letzten Worte ihrer Rolle darbot, ruhte der Kirchenraum in mystischer Dunkelheit.
„There’s joy in my grief and there’s freedom in chains.
If I were divine he cou’d love me no more,
And I in return my adorer adore,
O, let his dear life then, kind gods, be your care,
For I in your blessing have no other share.”
(aus: The Indian Queen)
Die Zeilen aus der Passage „They tell us“ stellen Fixpunkt und Herzstück Purcells Komposition dar. Chor und Orchester führten die tragische Schönheit dieses Endes ausklingend fort und verabschiedeten das Publikum in Stille in die Pariser Nacht.
Utopia und Currentzis werden The Indian Queen am 17. Februar in der Berliner Philharmonie und am 21. Februar in deSingel in Antwerpen aufführen. Ferner kann Castor et Pollux noch bis zum 23. Februar im Pariser Palais Garnier erlebt werden sowie in zwei konzertanten Aufführungen bei den Salzburger Festspielen