Orchesterwerke in Bearbeitungen des Komponisten für Klavier zu vier Händen - Mendelssohn- Bartholdy, IOCO
In einem beeindruckenden Spannungsbogen fasst das Klavierduo die nahtlos aufeinanderfolgenden Sätze dieser fast vierzig minütigen Sinfonie und erreicht eine große formale Geschlossenheit.
von Uschi Reifenberg
FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY (1809–1847)
Orchesterwerke in Bearbeitungen des Komponisten für Klavier zu vier Händen
Erstaufnahmen
Sontraud Speidel & Franziska Lee, Klavier
Ein besonderes Juwel ist die jüngst erschienene CD des Klavierduos Sontraud Speidel und Franziska Lee mit Orchesterwerken von Felix Mendelssohn Bartholdy in dessen eigenen Bearbeitungen für Klavier zu vier Händen.
Die CD gewährt einen vielfältigen Einblick in Mendelssohns Schaffen, populäre Orchesterwerke wie die „Hebriden“ Ouvertüre oder die „Schottische“ Sinfonie werden mit Raritäten kombiniert wie die Ouvertüre zum komischen Singspiel in einem Akt „Soldatenliebschaft“ (1820), die „Ouvertüre für Harmoniemusik op. 24“ (1824/1838) oder die Ouvertüre zur komischen Oper in zwei Akten „Die Hochzeit des Camacho“ op.10 (1824/25/27).
Die vierhändigen Transkriptionen sind von Mendelssohn selbst und unterstreichen die Bedeutung dieser Gattung. Gleichermaßen sinfonisch und pianistisch gedacht erscheinen die Werke in einem neuen klanglichen Licht und sind als eigenständige, poetisch-virtuose Klavierwerke von großem Reiz.
„Mendelssohn, der Mozart des 19. Jahrhunderts“, wie ihn Robert Schumann einst bezeichnete, war nicht nur ein Wunderkind und einer der universellsten Künstler seiner Zeit, er zählte darüber hinaus auch zu den bedeutendsten Pianisten, wie seine anspruchsvollen Klavierparts beweisen.
Als Komponist ließ er fast kein musikalisches Genre aus, in seinem nur 38 Jahre währendem Leben erreichte er eine ähnlich hohe Produktivität wie Mozart.
Die Übertragung sinfonischer Werke und Opern auf das Klavier war im 19. Jahrhundert eine beliebte und meist die einzige Möglichkeit der Verbreitung sowie des Kennenlernens von Kompositionen größerer Besetzungen. Man konnte die Darstellung komplexer Orchesterpartituren in verschiedenen Aufführungskontexten darbieten, sich diese in Form von Klavierauszügen in den heimischen Salon oder ins Wohnzimmer holen und als Dirigent und Orchester in Personalunion das Werk zwei- oder vierhändig am Klavier lebendig werden lassen.
Heutzutage ist ja bekanntlich jede Musik über diverse Streaming-Anbieter mit einem kurzen Klick sofort und überall verfügbar.
Dass sich hier zwei herausragende Solistinnen zu einer pianistischen Einheit zusammengefunden haben, ist auch dem besonderen Umstand zu verdanken, dass die renommierte Karlsruher Professorin und Pianistin Sontraud Speidel nun gemeinsam mit ihrer ehemaligen Meisterschülerin Franziska Lee musiziert, die mittlerweile selbst als Professorin an der Stuttgarter Musikhochschule lehrt.
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Das Spiel des fabelhaften Duos ist geprägt von hoher Synchronität, die sich auf fast allen musikalischen Ebenen ausdrückt. Speidel und Lee faszinieren durch Perfektion, große Harmonie, gemeinsamem Atmen und technische Brillanz, was sich in ihren perfekt durchleuchteten Interpretationen zeigt. Rhythmische Verve, artikulatorische Finesse und bestens ausbalancierte Stimmführung begeistern und lassen die Hörer tief in die Gedanken - und Gefühlswelt Mendelssohns eintauchen.
Da hört man Frauen-Power „at her best“.
Die „Hebriden -Ouvertüre“ (oder Fingals Höhle) von 1833
ist - ebenso wie „Die Schottische Sinfonie“ - inspiriert durch Mendelssohns Reise nach Schottland, wo er nach einer stürmischen Schiffsüberfahrt auch die sagenumwobene Insel „Staffa“ erreichte. Ein Erlebnis, das ihn zur Skizzierung der „Hebriden Ouvertüre“ bewog, die zu einem seiner beliebtesten Werke avancierte.
Die düster bewegte Grundstimmung der Ouvertüre mit ihren lautmalerisch-romantischen Naturschilderungen lässt eine mystische Atmosphäre entstehen, die gleich zu Beginn mit der Wellenbewegung des absteigenden Hauptthemas einsetzt.
Die Pianistinnen musizieren mit großer dynamischer Bandbreite, Punktgenauigkeit in den crescendo Aufschwüngen und kantabler Linienführung. Das eingängige Thema erfährt unterschiedliche Färbungen, die delikate Artikulation und die fein abgestimmte Stimmenverteilung von Primo und Secondo sorgen für ein transparentes und schlankes Klangbild von fast klassischer Prägung.
Im zarten Alter von 11 Jahren schrieb Mendelssohn das komische Singspiel in einem Akt „Soldatenliebschaft“, das als Geburtstagsgeschenk an seinen Vater die erste groß besetzte Komposition darstellt und noch deutlich Mozartschen Geist atmet. Den Weg eines Musiktheaterkomponisten sollte Mendelssohn zukünftig allerdings nicht einschlagen.
Die nur dreieinhalb Minuten dauernde Ouvertüre besticht mit Spielfreude und sensibler Phrasierung, federnde Begleitfiguren und glitzernde Läufe geben der Klavierpreziose bereits die jubilierende Mendelssohnsche Prägung.
Die Ouvertüre für Harmoniemusik gehört zu den meist
gespielten und mitreißendsten Blasorchesterwerken des 19. Jahrhunderts. Mendelssohn konzipierte die Ouvertüre in C-Dur, Op. 24 im Alter von 15 Jahren zunächst als Notturno für 11 Bläser und erweiterte die Instrumentation 1838 zu einer umfangreichen Ouvertüre für Harmoniemusik für 23 Bläser und Schlagzeug. Diese Fassung liegt der vierhändigen Klaviertranskription zugrunde, die er 1839 erstellte.
Für die langsame Einleitung wählen Speidel und Lee ein recht flüssiges Tempo, in welchem die anschließenden melancholisch grundierten Kantilenen mit lyrischer Feinheit ausgestaltet werden. Mit packendem Zugriff und markanter Tongebung bildet der Allegro-Teil einen wirkungsvollen Kontrast, im üppigen Klaviersatz verweisen akzentuierte signalartige Themen auf den militärischen Charakter.
Ein weiteres Frühwerk des 16-Jährigen ist „Die Hochzeit des Camacho“, eine Spieloper in zwei Akten, die als einzige seiner sechs Singspiele zu seinen Lebzeiten aufgeführt wurde.
Schwungvoll und mitreißend präsentiert das Duo vielfältige pianistische Facetten, prägnante Themen, präzise Verzierungen und Triller, die Läufe perlen mit viel Empfindsamkeit, auch im üppiger werdenden Klaviersatz bleibt der Klang durchhörbar.
Sinfonie Nr. 3 a-Moll, Opus 56 (Schottische)
In einem beeindruckenden Spannungsbogen fasst das Klavierduo die nahtlos aufeinanderfolgenden Sätze dieser fast vierzig minütigen Sinfonie und erreicht eine große formale Geschlossenheit. Die nebelverhangene Stimmung wird in der langsamen Einleitung mit weichen Akkordverbindungen und sprechenden elegischen Melodielinien transportiert. Wechsel zwischen kammermusikalischer Feinheit und dramatischer Klangfülle legen Strukturen frei, loten den Kosmos der Klavier-Farben aus und schärfen die Aufmerksamkeit für die musikalische Substanz. Die Pianistinnen gestalten die Wasser- und Wellenmusik in homogenen dramatischen Steigerungen, mit aufwühlenden chromatischen Basslinien; dabei bewahrt der Klaviersatz immer Transparenz. Mit federnder Rhythmik, frisch und klar artikuliert, wird der Scherzo-Charakter mit seinen volksliedhaften Themen dargestellt. Klangballungen von großer Intensität erreichen orchestrale Wucht, immer bestens balanciert und vom Duo in einen spektakulären sinfonischen Klavierklang gefasst. Die thematischen Verschränkungen im Finale entwickeln eine große Dichte und steigern sich zum hymnischen Finale.
Die gelungene Aufnahmetechnik und das hervorragende Booklet (Hartmut Becker) vervollkommnen die hohe Qualität dieser CD.
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SONTRAUD SPEIDEL, Klavier
wurde von der „Neuen Zeitschrift für Musik“ als „eine Art Clara Schumann unserer Tage“ bezeichnet, konzertiert weltweit als Solistin und Kammermusikerin. Auftritte bei Festivals, Aufnahmen für Rundfunk und CDs, Fernsehauftritte und Meisterklassen an Musikuniversitäten führten sie durch viele Länder Europas, in die USA, nach Kanada, Israel, Russland, Japan, Korea, Taiwan, Brasilien und Marokko; auch als Jurymitglied bei nationalen und internationalen Klavierwettbewerben ist sie sehr gefragt.
Sie hat über 50 CDs eingespielt, von denen einige mit Preisen ausgezeichnet wurden, zuletzt 2019 mit dem Echo-Klassik-Preis.
Ihr Studium absolvierte SONTRAUD SPEIDEL bei Irene Slavin und Yvonne Loriod-Messiaen in Karlsruhe, bei Branka Musulin in Frankfurt, Stefan Askenase in Brüssel und Géza Anda in Luzern. Schon früh gewann sie nationale Wettbewerbe (u.a. im Alter von 16 Jahren den 1. Preis sämtlicher Schulen der Bundesrepublik) und internationale wie den 1. Preis beim Johann Sebastian Bach Competition in Washington D.C. und den Jackson Prize für neue Musik des Boston Symphonie Orchestra.
SONTRAUD SPEIDEL ist Professorin für Klavier an der Hochschule für Musik Karlsruhe. Sie wurde mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und dem Silbernen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien ausgezeichnet. Sie ist Steinway Artist sowie Ehrenmitglied des Tonkünstlerverbandes BW, der Werner-Trenkner-Gesellschaft und von Inner Wheel Nordschwarzwald. Sie engagiert sich intensiv und nachhaltig für die Förderung des musikalischen Nachwuchses.
FRANZISKA LEE, Klavier
wurde im südkoreanischen Seoul geboren und schloss ihr Musikstudium in der Klasse von Prof. Hee-Sung Joo an der Seoul National University als Jahrgangsbeste ab. Daraufhin absolvierte sie ihr Master Studium und ihr Solistenexamen im Fach Klavier in der Klasse von Sontraud Speidel an der Hochschule für Musik in Karlsruhe. Weitere künstlerische Impulse erhielt Franziska Lee von Prof. Peter Lang am Mozarteum Salzburg und von Prof. François Thinat in Paris.
Sie ist Preisträgerin zahlreicher internationaler Wettbewerbe, u.a. beim internationalen Wettbewerb in Treviso, beim internationalen Wettbewerb Premio Città di Padova. 2013 gewann sie den 1. Preis beim Dr. Hermann Büttner -Klavierwettbewerb der Hochschule für Musik Karlsruhe und errang 2016 den 1. Preis beim Grand Prize Virtuoso International Music Competition London.
Ihre künstlerische Persönlichkeit und ihr musikalisches Engagement wurden mit dem Musikpreis des Kulturfonds Baden e.V. ausgezeichnet. Die in der Presse als „lyrisches Juwel“ bezeichnete Pianistin trat bereits als Solistin, Kammermusikerin, auch mit Orchester in verschiedenen Ländern Europas, Südkorea und den USA auf.
Als Interpretin widmet sich FRANZISKA LEE besonders den Klaviersonaten von Franz Schubert, sie gab Schubert Abende in Paris, Mailand, Lugano, Seoul, Wien sowie u.a. in Mannheim, Heidelberg und Karlsruhe. Zusammen mit Prof. SONTRAUD SPEIDEL begeisterte sie das Publikum mit einem Zyklus sämtlicher Werke für Klavier zu vier Händen von Franz Schubert.
2023 wurde FRANZISKA LEE als Professorin für Klavier an die Staatliche Hochschule für Musik Stuttgart berufen.
Die CD (UPC/EAN:4260052386651) ist um ca. EUR 20,00 im Fachhandel erhältlich.