München, Staatsoper, KÁŤA KABANOVÁ – Leoš Janáček, IOCO
Es ist eine enge Welt. Voller Ressentiments, festgefahrenen Sitten. Vorurteilen und Misstrauen. Káťa will da heraus. Ach ja, diese Káťa. Sie war allein diesen Abend wert.

Die Liebe als Schicksal
von Hans-Günter Melchior
Eine große Leinwand nimmt den Hintergrund der Bühne ein. Ein bürgerlich eingerichtetes Zimmer. Alles da oder fast alles, was die Moderne manchmal braucht. Links sitzt einer, der wie ein Aufpasser aussieht. Vielleicht kassiert er auch nur Eintrittsgelder. Er singt nicht, er spielt kaum merkbar, er sitzt an einem kleinen Tisch, wie einer, bei dem man eben Eintrittskarten kaufen könnte. Eine zweifelsfreie Zuordnung ist nicht erkennbar. Es ist auch nur eine Nebensache in einer insgesamt gelungenen, sehr authentisch wirkenden Inszenierung. Russische Seele pur, an die Wolga verlegt. Scheinhaftes. Glücksvorspiegelung. Auch eine Tanzszene gibt es.

Ein Bild fast ungetrübter Freude. Wechsel. Als käme eine Kamera immer näher an die Realität heran, so nahe, dass sie auch den einzelnen Personen und nicht nur dem eher anonymen Geschehen, dem Allgemeinen, auf den Leib rückt, wird aus dem Glück aus der Ferne sehr bald der Konflikt in der Nähe. Aus der Vielzahl werden Individuen. Konflikte, Missgunst, Streit, Zweifel. Man merkt sofort: Da stimmt etwas nicht. Zugegeben: Vielleicht weiß man es auch von vornherein und denkt es hinein, weil man eben das Leben kennt, die Verbohrtheit, den Neid, das Misstrauen gegenüber dem Anderssein. Nur dass die innere Kamera des Zuschauers eben selten so nahe heranfährt und die Idylle als bloßes Glücksversprechen entlarvt, wie es Krysztof Warlikowsky tut. Später gibt es noch einmal so eine Szene, die beklemmend wirkt. Sie spielt erneut auf der riesigen Leinwand, die den Hintergrund der Bühne bebildert, eher einnimmt: Eine riesige Wiesenlandschaft, unendliche Weite. Und ganz unten rechts zwei sehr kleine Menschen, fast kleine Tiere zunächst, das Liebespaar Boris und Káťa, die erst zu richtigen Menschen werden, wie in die Szene hineingepresst, wenn sie sich aus dem Leinwandbild lösen: eben wie aus einem zwanghaften Zusammenhang. Das Andere, das Fremde und die Natur (auch die Menschennatur) herrschen und erst langsam lösen sich die Menschen aus ihr heraus und werden zu Handelnden. Überhaupt die Landschaft. Kudrjás (James Ley) besingt sie, rühmt ihre Schönheit. Russland als Landschaft. Auch als Seelenlandschaft. Als wäre die Welt in Ordnung. Zumal die russische. Könnte man es doch wieder einmal? Wodka-selig. Dabei wabert es (auch) auf der Bühne im Hintergrund. Es ist eine enge Welt. Voller Ressentiments, festgefahrenen Sitten. Vorurteilen und Misstrauen. Káťa will da heraus. Ach ja, diese Káťa. Sie war allein diesen Abend wert. Wunderbar, wie zwingend, betörend Corinne Winters (noch einmal: der unbestrittene Star des Abends) ihr Schicksal besingt.

Ihre Schuldgefühle und die Liebe zu Boris (Pavel Černoch), für den sie innerlich längst den Ehemann Tichon (John Daszak) verlassen hat. Mit Recht, denn Tichon ist ein Schwächling, einer, der lieber trinkt als sich um Geschäfte und die Ehefrau zu kümmern. Und vor allem seiner Mutter Kabanicha (Violeta Urmana) hörig ist. Missgünstiges Kleinbürgertum gegen das Hohe, Erhabene. Káťa wäre gern ein Vogel. Wer wäre es manchmal nicht auch? Träume. Wie Seide gegen grobkörniges, Bodenständig-Borniertes. Das alles ist eindrucksvoll gemacht, einleuchtend und höchst beklemmend, sofern man sich darauf einlässt. Krzysztof Warlikowskis, des brillanten und ebenso anerkannten, ja bewunderten Bekannten an der Staatsoper, gelingt, freilich längst bewährte Regiekunst. Dagegen das Falsche –, Kleinlich-Missgünstige, die Enge beschränkten und stehen gebliebenen Kleinbürgertums. Zu Vieles ist falsch an der Ehe von Káťa mit Tichon, fast alles. An einer Ehe, die insgeheim von Tichons Mutter, der intriganten Schwiegermutter Káťas beherrscht wird. Káťa steht allein einer geradezu feindlichen oder zumindest willensschwachen Macht gegenüber. Hier gärt der kleinbürgerliche Widerstand. Einzig Vavara, wunderbar verkörpert von Emily Sierra, steht Káťa als Vertraute mit Rat zur Seite. Sie rät ihr, was Káťa nicht schaffen kann und will; Boris aufzugeben. Die bürgerlichen, kleinbürgerlichen Fesseln. In ihrer Ratlosigkeit, Ausweglosigkeit stirbt sie den Freitod in der Wolga …

Als ob Janáček an sein eigenes Schicksal gedacht hätte. Auch er war unglücklich verheiratet, angeblich „platonisch“ verliebt in Kamila Stösswald. Und als ob er in seiner Musik daran gedacht hätte? Wer weiß. Alle Kunst ist vom Leben infiziert, welches schlecht läuft. Und beglückt, wenn das Leben gelingt. Jedenfalls ist Janáček mit dieser Oper ein bemerkenswertes Werk emotionaler Kunst gelungen. Diese kleinteilige, manchmal spitze, zuweilen emphatisch aufschäumende Musik nimmt gefangen. Und manchmal lässt sie die Gefühle des Hörers ins Ungefähre davon treiben. Sie zieht sich durch das gesamte Werk, wie ohne Zweifel, ohne ein Innehalten. Aber auch ohne sich zu Arien wie zu konstruierten Höhenpunkten aufzuschwingen. Es ist ein stetiger, von einer glühenden Emotion getriebener musikalischer Strom, aufbrausend, mahnend, nachdenklich und manchmal glühend. Neu. Man wird von Anfang bis zum Ende bald getragen, bald getrieben, bald aufgewühlt und bald nachdenklich. Das Neue an dieser Musik ist das Strömende, das nicht etwa in einer Arie innehält und sich im Gefühl eingräbt. So vergeht die Zeit, ohne dass man es im Davontreiben im musikalischen Strom merkt. Man muss den Abend loben. Man tut es gern. Das bekannt großartige Bayerische Staatsorchester stand unter der musikalischen Leitung von Marc Albrecht. Enthusiastischer Beifall, vor allem für die großartige Káťa von Corinna Winters. Vergessen wir darüber aber nicht die höchst gelungene Inszenierung.