München, Residenztheater, WERTHER - ein theatralischer Leichtsinn, IOCO Kritik, 28.04.2023
WERTHER - ein theatralischer Leichtsinn
- Johann Wolfgang Goethe - mit Texten von Karoline von Günderrode -
von Hans-Günter Melchior
„Und, mein Lieber! Ist nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Veränderung des Zustandes eine innere unbehagliche Ungeduld, die mich überall hin verfolgen wird?“
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Waren Sie schon im Werther im Residenztheater in München?
Nein? Dann wird es aber höchste Zeit. Zeit vor allem, sich selbst zu verstehen.
Es sei denn, Sie sind kein Theaterfreund, und Sie lassen sich auch nicht von dem Ruf erschüttern, der aus dem 18. Jahrhundert in die Neuzeit tönt, immer lauter für den, der zu hören geneigt und fähig ist und der sich weigert, im Lärm und der Betriebsamkeit der Moderne die Gefühle versickern zu lassen.
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Machen Sie sich also auf, wagen Sie die kurze, gedanklich freilich endlos lange Reise über 1 ½ Stunden, in denen es die wunderbare Regisseurin Elsa-Sophie Jach und ihr Ensemble mit Johannes Nussbaum als Werther, flankiert von den Musikerinnen Bettina Maier (Synthesizer und Bassklarinette und Sarah Mettenleiter (Synthesizer und Klavier) schaffen, dass man vor Aufregung den Mund nicht mehr zukriegt.
Das ist zwar schlecht für die Bronchien, doch ist es nicht etwa „der Geist, der sich den Körper schafft“? Na also.
Elsa-Sophie Jach hat den 1774 veröffentlichten Briefroman Goethes auf die Theaterbühne gebracht; und man möchte sie dafür umarmen. Mehr spannender Streit mit dem Zeitgeist, der sich in der Moderne als Ungeist bereits zur gärenden Ideologie auswuchs wie ein Geschwür, ist nicht möglich.
Im Theaterstück vorgetragen wird der Text ausschließlich von Werther, der sich mit Leib und Seele der madonnenhaft-erdnahen Lotte verschrieben hat, die er am Dorfbrunnen bei der Versorgung ihrer kleinen Geschwister kennenlernt. Seine Liebe wird nicht erwidert, kann der Konvention gemäß nicht erwidert werden, weil Lotte bereits verlobt und später verheiratet ist. Mit einem älteren Mann, einem eher trockenen Typen, der der weit hinter den himmelwärts fliegenden Gedanken und Gefühlen des Stürmers und Drängers Werther zurückbleibt. Dem jungen Liebenden also weder folgen kann noch ihn überhaupt versteht und nicht einmal begreift, was da zwischen Lotte und Werther wabert und gärt, unterdrückt wird und aufs Tragische zutreibt. Er kommt in Elsa-Sophie Jachs Inszenierung erst gar nicht vor. Auch Lotte nicht. Werther spielt und leidet ganz allein. Es ist sein Drama. Seine Verzweiflung. Letztlich erschießt sich Werther.
Das Drama hinter dem Drama: Der konzentriert auf das Wesentliche reduzierte Text, verdeutlichend angereichert mit Texten der unglücklichen, im Suizid geendeten Dichterin Karoline von Günderrode, ist doppelbödig und gefährlicher Tiefe. Im Subtext trifft er den Nerv unserer Zeit: als Protest gegen eine gesellschaftliche Entwicklung, die sich immer mehr und fast ausschließlich der – profitorientierten – Rationalität ergibt und damit letztlich das Subjekt selbst zum Objekt macht, zum berechenbaren Faktor einer „Erfolgsidee“ , für die Gefühle und Leidenschaften nichts als Fehlerquellen sind.
Mit gelegentlich feiner Ironie ist die Regisseurin diesem Befund auf der Spur. Und Werther / Johannes Nussbaum folgt ihr mit bald zappeliger, bald verzweifelter, bald sich der Musik anschmiegender, bald sich verhaspelnder Nervosität
Nach leichtsinnigen Gedanken war mir freilich nicht zumute. Zu Recht stürmischer, lang anhaltender Beifall.