München, Residenztheater, UNSERE ZEIT - Simon Stone, IOCO Kritik, 29.05.2022

München, Residenztheater, UNSERE ZEIT - Simon Stone, IOCO Kritik, 29.05.2022
Residenztheater München
Residenztheater München © Matthias Horn
Residenztheater München © Matthias Horn

UNSERE ZEIT - Simon Stone, nach Ödön von Horváth

- Die akribische Aufzählung der Erzübel unserer Zeit -

von Hans-Günter Melchior

Das Stück UNSERE ZEIT von Simon Stone (*1984 in Basel), es dauert immerhin sechs Stunden (mit Pausen), spielt in München. Abgehandelt werden, fast gewissenhaft nacheinander, gleichsam die Probleme abhakend, die Erzübel unserer Zeit: die zum Himmel schreiende soziale Ungerechtigkeit, der Rassismus, der männliche Chauvinismus und die Auslieferung der Frauen an soziale und gesellschaftliche Vorurteile.

Ort der Handlung ist eine Tankstelle mit der Aufschrift: Edeka–Tanken; Bühne: Bianca Anón; großartig, höchst eindrucksvoll die Vorgänge verdichtend, in den Fokus rückend und so genau nachbildend, dass man sich in die Handlung hineingezogen fühlt.

Das Überangebot an Waren, die Überflutung, wird noch verstärkt durch seitlich angebrachte Videoaufnahmen, die Reklametafeln ähneln, manchmal jedoch einige Schlüsselszenen im Innern der Tankstelle, insbesondere an der Kasse, herausheben. Es entsteht der Eindruck der Allgegenwart der Ware, ihre geradezu sakrale Ausrichtung und stoische Unerschütterlichkeit, inmitten des Kosmos´ zerrütteter Existenzen, die hier die Gesellschaft der Neuzeit repräsentieren.

Trailer -  UNSERE ZEIT youtube Residenztheater München [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Und natürlich gibt es auch Alkohol, Bier verschiedener Sorten, über die Marken wird diskutiert, da sind auch die Armen pingelig. Sie stehen an Tischen und erzählen sich ihre Geschichten von gescheiterten Ehen, Armut und den Diebereien und Betrügereien, mit denen sie sich über Wasser halten.

Gemeint ist die Zeit zwischen 2015 und 2021. Zwei Krisenzeiten. Der – zuweilen unkontrollierte oder schwer zu kontrollierende – Zuzug der Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens. Und dann die Pandemie. Noch nicht der Krieg.

Gleichsam wie von den Krisen und dem sozialen Abstieg in die Zange genommen agieren die Personen des Stücks, allesamt Bürger in sozial prekären Verhältnissen, die, regelmäßig aus Not ohne moralische Skrupel, ja ohne sich moralische Skrupel überhaupt leisten zu können, den kleinen Tricks am Rand der Legalität widmen oder gar kriminell werden.

Akademietheater München / UNSERE ZEIT © Birgit Hupfeld
Akademietheater München / UNSERE ZEIT © Birgit Hupfeld

Die Darsteller sind typisiert. Die gesamte „unterprivilegierte Gesellschaftsschicht“ ist unter der Lupe. Ein Tableau:

Da ist der örtliche Kriminalhauptkommissar (Oliver Stokowski), der (was freilich in der Praxis ungeachtet der berufsbedingten Affinität von Verfolgern und Verfolgten alles in allem doch untypisch ist) keine Bedenken hat, sich als Zuhälter zu betätigen, weil er sich unterbezahlt fühlt und seine Frau teure Ansprüche hat, die er mit seinem Gehalt nicht finanzieren kann.

Oder die Sozialarbeiterin Ruth (Barbara Horvath), die streng und – regiegemäß – ein wenig zu streng und prinzipientreu, den Standpunkt der Resozialisierung von Personen mit prekärem gesellschaftlichem Status vertritt. Die Praxis sieht da manchmal anders aus, da kommen sich „Probanden“ und Sozialarbeiter recht nahe, sind miteinander vertrauter, und manchmal bleiben „Unregelmäßigkeiten“ ungeahndet.

Und es gibt die souveräne Menschenrechtlerin Thea (hinreißend Yodith Tarikwa), klug, mit vollem Durchblick und anklagendem Hinweis auf die gesellschaftliche Diskriminierung. Am stutzt am Schluss den Rechtsradikalen Martin (Max Rothbart) mit dem Hinweis auf ihren überlegenen Intellekt so zurecht, dass er ausrastet.

Oder es gibt den spinnerten Fußballmanager (Florian Jahr), der mit dicken PKWs vorfährt, ebenso so dumm wie eitel. Die clevere Tankgehilfin Uli (Antonia Münchow) lässt sich ohne Widerstand mit dem Tankwart (Simon Zagermann) ein. Vor allem aber und herausragend die Edelprostituierte, eine Escort-Dame, Julia (Liliane Amuat), die  souverän die These zu vertreten scheint: Moral hin oder her, man muss sehen, wo bleibt in schwieriger Zeit.

Genug. Das alles bleibt im Milieu. Auf der Grenzlinie, sozial wie politisch scheint der Bauführer Georg (Michael Wächter) zu wandeln. Er ist der Einzige,  dem man zutrauen könnte, auf der sozialen Leiter nach oben zu kommen. Aber er ist zu schwach, ein labiler Typ, der sich für keine Frau so richtig entscheiden kann und seine Zeit auf der Tankstelle mit Labern und Biertrinken vertrödelt.

Überhaupt die Männer: sie sind Trottel, Versager, Räuber – und am Schluss sogar Mörder (Max Rothbart als um sich schießender faschistischer Wüterich, der in einem Anfall von Fanatismus unter den vermeintlichen Feinden aufräumt). Selbst der bewaffnete Überfall auf die Tankstelle ist im Grnd reiner Dilettantismus, bei den Typen reichte es nicht mehr einmal zum Verbrecher. Bei allem stecken sie voller Vorurteilen, er mag keine Frauen, die ihm nicht zuhören, sagt einer von ihnen und die anderen  nehmen solche Sprüche hin wie Bibelworte. Und der schwule LKW-Fahrer (Thiemo Strutzenberger) scheint überhaupt keine Meinung zu haben. Während die Frauen zu machen scheinen, was sie wollen und wonach ihnen der Sinn steht. Überlegen und selbstbestimmt, bald lesbisch, bald hetero, bald Prostituierte (Massiamy  Diaby) immer auf der Hut vor den dummen Männern, auf Selbständigkeit bedacht und auf das Überleben und die Sorge für die Kinder aus.

Erst im dritten Akt kommt auf verschneitem Gelände so etwas wie Schicksal  zur Sprache. Hawai (Delschad Numan Khorschid) entpuppt sich als Juraprofessor, der sich mit Juraprofessor aus dem Irak, der als Tankwart seinen Lebensunterhalt in Deutschland verdient und Schauspieler werden will, auf den Charme nichtweißer Leute setzend. Und Massimo (Nicola Mastroberardino) berichtet ergreifend vom Tod seiner Tochter, die er bei sommerlicher Hitze im PKW einfach vergessen hat. Da reiht sich Tragisches an Unglückliches, Misslungenes an enttäuschte Hoffnungen…

Dennoch gibt es auch Enttäuschungen an diesem langen Abend. Nicht dass das Spiel dieser glanzvollen Truppe der Faszination entriete. Das war über weite Strecken eindrucksvoll und sogar fesselnd. Doch es konnte nicht die Schwachstellen des Stücks völlig ausräumen:

Akademietheater München / UNSERE ZEIT © Birgit Hupfeld
Akademietheater München / UNSERE ZEIT © Birgit Hupfeld

Zunächst die Übersetzung. Dass die sozialen Missstände in unserer Gesellschaft inzwischen zum Himmel schreien und der Widerstand nur noch mit Mühe vor der Gewalt zurückzuhalten sein wird, wenn nicht schleunigst, zumal in der gegenwärtigen Krise, etwas zugunsten der Armen geschieht, ist evident.  Dass aber alles, restlos alles mit dem ebenso nichtssagenden wie doch reichlich zotigen Ausdruck „verfickt“ charakterisiert werden muss, ist nicht einsichtig. Auch sonst begnügt sich die Sprache – mit einigen echt literarischen Ausnahmen – der allzu einfachen Vokabeln.

Das hat Ödön von Horváth (1901 -1938), zugegeben ein Apologet der Verständlichkeit, auf den sich der Autor Simon Stone beruft und der die Übersetzung seiner Schwester Brangwen Stone überließ, nicht verdient. Schließlich ist dies ein Stück auf der Bühne eines der renommiertesten Theater Deutschlands. Ganz abgesehen davon, dass die Bezugnahme auf Horváth ziemlich weit hergeholt erscheint.

Und: manchmal glitt das Stück ins rein Deklamatorische ab. Zum reinen Thesentheater, das einem die Schauspieler ein wenig leidtun konnten. Thesen müssen durch einen Handlungsablauf, durch das Spiel auf der Bühne beglaubigt werden. Wer Armut, Elend, Ungerechtigkeit und Trotteltum, Schwäche, männliche Überheblichkeit und Me-Too anprangert, muss dies im Spiel auf der Bühne zeigen und nicht einfach wie auf einer Wahlveranstaltung behaupten, um überzeugen zu können. Das heißt freilich nicht, dass die Bühne immer noch eine moralische Anstalt im Sinne der Klassiker sein muss. Aber es heißt: ein Theaterstück kann nicht darin bestehen, dass sich einer hinstellt und einen politischen Vortrag über soziale Missstände hält oder Thesen aufstellt, sondern dass der Zuschauer durch das Spiel als Mitdenkender zu diesen Schlüssen kommt. Daran fehlte es streckenweise.

Dennoch keine Krittelei: eine verdienstvolle Aufführung in der Krisenzeit und eine riesige Anstrengung, die keinen Aufwand scheute und letztlich den Beifall des Publikums verdiente.

UNSERE ZEIT am Akademietheater München; keine weiteren Termine zur Zeit geplant

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