München, Residenztheater, SANKT FALSTAFF - Ewald Palmetshofer, IOCO

Im ersten Teil, also vor der Pause, treten eher Teilnehmer als Agierende des Stücks auf, mehr stilisierte Figuren als ins Geschehen Eingreifende. Sie haben, um die Stilisierung z. „überdeutlichen“, Namen, die eigentlich Begriffe sind

München, Residenztheater, SANKT FALSTAFF - Ewald Palmetshofer, IOCO
Residenztheater © Sandra Then


„Materie und Wollen, mehr gibt es nicht“

 Von Hans-Günter Melchior

 Na ja, man gewöhnt sich dran, je länger das Geschehen auf der Bühne wogt und zu verdeutlichen sucht, was es offenbar sein will: ein Stückchen Lebensweisheit, ein Stückchen Verrat und die Demaskierung einer Gesellschaft. Deren oberen, herrschenden Schichten sich wohldosierte Abwechslungen in den Niederungen verschaffen, sich mit dem Volk gemein machen, um danach in die alten Herrschaftsstrukturen zurückzukehren. „Ein wenig Demokratie“, verspricht Harri (Johannes Nussbaum), der Königssohn, nachdem er sich ziemlich weit unten ausgetobt hatte und sich anschickt, den Vater als König („Quasi-KönigSteffen Höld) abzulösen. Und nachdem der Bruder ausgeschaltet wurde. Ewald Palmetshofer hat ShakespearesKing Henry IV.“ gründlich umgeschrieben. Oder, um genau zu sein, Shakespeares Stück allenfalls als Anregung benutzt, daraus einen rundum dystopischen Theatertext zu machen, der nicht nur den Teufel an die Wand malt, sondern ihn zeigt, wie er leibt und lebt. Mit allem Drum und Tran, einschließlich der Zoten und einer heruntergekommenen Sprache aus der unteren Schublade des Jargons. Mehr als einmal ist das Stück auf seiner Fahrt auf einer Bühne voller Buntheiten, einer stilisierten Bar (oder was das auch sein soll) auf einer offenbar öffentlichen Toilette angekommen, wo nach links und rechts Dialoge stattfinden, die es in sich haben. Grundsätzliches wird erörtert. Die Umgangssprache ist freilich verroht. Sie ist ganz unten gelandet, wo das Elementare waltet und wütet und der Geist, deutlich verdünnt zur Wörterbrühe, über dem Vorgang schwebt. Vor allem im ersten Teil, also vor der Pause. Dort treten eher Teilnehmer als Agierende des Stücks auf, mehr stilisierte Figuren als ins Geschehen Eingreifende. Sie haben, um die Stilisierung zu „überdeutlichen“, Namen, die eigentlich Begriffe sind. Und generell vertreten sie sogar mehrere Begriffe. Es sind Stilisierungen, Verdeutlichungen der obwaltenden Denkstrukturen und Einflüsse:

Der Vorsitz/Frau Flott (Wirtin einer Kneipe, der Begegnungsstätte der Protagonisten: Myriam Schröder, hervorzuheben, großartig, bemerkenswert, die lebenserfahrene Frau aus der Unterschicht, der man nichts vormacht)
Das Mundwerk/Franz (Vincent Glander)
Das Hirn/Ed (Lukas Rüppel)
Hitzkopf (Niklas Mitteregger)
Kate/Puppe (Isabell Antonia Höckel)
Dazu die Live Musik: Benedikt Brachtel und Sven Michelson. Mehrere Live-Kamera-Abschnitte: Oliver Rossol.

Steven Scharf, Johannes Nussbaum © Sandra Then

So weit, so gut und lobenswert. Weniger freilich: die in der Aufführung erster Teil, also vor der Pause, eingebaute oder vielleicht unvermeidliche Schwierigkeit zu erkennen, wer wen jetzt vertritt, wer jeweils spricht und agiert. Dies ist eher ein Einwand an die Adresse des Regisseurs: Alexander Eisenach. Denken Sie an die armen Zuschauer, die gedanklich im Stoff herumwühlen und sich zurechtfinden wollen … wer ist das schon wieder und wer jener, muss mal nachblättern, verdammt, ist aber zu dunkel, kenn zwar den Typen, weiß aber nicht, wie er heißt … Der zweifellos bedeutende Autor Ewald Palmetshofer sagt im Programmheft, dass das Stück „zwischen den Welten springt“, weshalb sich das Ensemble „unterschiedliche Figuren und Machtpositionen überstreift“. Aha, also man streift sich auf der Bühne, eben als Darsteller, Machtpositionen über. Interessant. Dem Zuschauer fällt es freilich relativ schwer, sich gleichzeitig entsprechende Erkenntnisse überzustreifen. Ist ja klar, nicht verwunderlich. Zuschauer sind blöd, Mea culpa … gewöhnliche Zuschauer stürzen auf den Gedankenflügen des Regisseurs gewöhnlich aus großer Höhe ab. Manche meiden es gar. Andere kommen mit leichten Hirnschäden davon. Aber was ist ein Theater ohne Zuschauer? Verzeihung. Muss ich mir jetzt vorkommen wie ein Fußballer, der einen falschen Einwurf macht? Werde trainieren. Ach – und das Versmaß. Zweihebig, sagt man, glaubt man zu wissen.  Oder ist das falsch? Egal. Halten zu Gnaden, Herr Palmetshofer: Mir fiel jedenfalls ein Spruch aus der frühen Jugend dazu ein: Da kannste machen nix, da musste gucken zu. Wenn es nicht zweihebig ist, was so analphabetisch daherkommt, dann ist es jedenfalls umständlich. Dem Rezensenten zumindest hat es nicht eingeleuchtet. Soll es archaisch sein? Befremdlich oder befremdend? Egal. Jedenfalls mutete es nicht gerade wie ein Gipfelpunkt der Sprache an.

Lukas Rüppel, Johannes Nussbaum © Sandra Then

Seien wir mal rückhaltlos/rücksichtslos ehrlich. Die eigentliche Aufführung begann im Grunde nach der Pause. Da löste der Autor Palmetshofer sprachlich und inhaltlich erfreulich tiefsinnig und sehr bedenkenswert ein, was er uns Zuschauern eigentlich sagen wollte: Dass die Demokratie zur Farce, zum bloßen Machtspiel herunterzukommen droht. Dass der Königssohn und designierte König (!) gefahrlos den Clown spielen kann, der in der Kneipe mit einem Saufbruder (Falstaff) herumhängt, weil er eine sichere Position hat. Er streitet sich zwar beim Pinkeln (!) mit einem Bruder als offensichtlichen Konkurrenten, sein Anspruch ist allerdings kaum gefährdet. Und der noch regierende Vater ist ohnehin von Natur aus ein Narr, kraftlos, ein „Quasi-König“. Die sichere Existenz des Nachfolgers also. Trotz der Saufereien und dem dolce vita. Während der kraftvolle, aus dem vollen Leben schöpfende John (Falstaff) auf eigene Gefahr agiert, säuft und – vielleicht – auch hurt (er ist ja wohl queer, macht aber auf der Bühne sparsamen Gebrauch davon; sieht man einmal von der Nacktszene und einer Umarmung mit Harri ab; Trump hätte trotzdem voller Empörung das Theater verlassen). Der wahre Held ist also Sankt - Falstaff. Der den Lebenskampf aufnimmt, der besonnene Betrachter des Staates aus der Entfernung, leidend an der Abkehr des Staates von verheißenen Idealen und der Arbeit am Wohlergehen des Volkes. Falstaff also ist einer, den man in diesem Schauspiel, das Sankt Falstaff genannt wird, bedauert. Denn er ist am Ende ganz allein, scharfsinnig, aber nicht wehleidig, traurig, aber prinzipienfest. Palmetshofers Held. Der Zuschauer weiß, was er an diesem Falstaff hat. Die Metamorphose von Shakespeares Falstaff zum Leidenden an unserer kapitalbesessenen Zeit. Mit Recht fliegt ihm die Sympathie zu. Die Ideale der Demokratie kommen in zerschlissenen Klamotten daher. Mal ist man Säufer, mal Regierender. Aber existenziell verantwortlich ist man nicht. Das Amt schützt, nicht das Gewissen. Allenfalls gibt es ein wenig guten Willen, wo es nicht wehtut. Das ist die Erkenntnis des Abends. Schade, dass einige in der Pause davongelaufen sind. Wären sie geblieben, hätten sie etwas gelernt.