München, Residenztheater, PRIMA FACIE - Suzie Miller, IOCO

PRIMA FACIE: Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit. Bei Gericht bekommt man allenfalls Recht. Im Glücksfall stimmt das Recht mit der Gerechtigkeit überein. Es ist aber nicht Bedingung des Strafprozesses, Gerechtigkeit herzustellen.

München, Residenztheater, PRIMA FACIE - Suzie Miller, IOCO
RESIDENZTHEATER München @ Matthias Horn

Vom Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit

 

von Hans-Günter Melchior

Also nunmal ganz langsam. Ganz ruhig bleiben. Nicht ereifern. Nicht zornig werden. Nicht aufschreien: da sieht man es wieder … und so weiter.

Um das gleich am Anfang klarzustellen: es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit. Bei Gericht bekommt man allenfalls Recht. Im Glücksfall stimmt das Recht mit der Gerechtigkeit überein. Es ist aber nicht Bedingung des Strafprozesses, Gerechtigkeit herzustellen. Vielmehr soll Recht gesprochen werden, nicht mehr und nicht weniger.

Prima Facie - Lea Ruckpaul - Residenztheater © Birgit Hupfeld

Das mag manche auf die Palme treiben. Verständlich. Freilich könnte man Gerechtigkeit erzwingen. Zum Beispiel durch Anwendung der Folter. Damit der Kerl es endlich zugibt.

Wollen wir das?

   Die Folter ist verboten. Mit guten, nicht zuletzt humanitären Gründen.

Es gibt auch andere verbotene Mittel zur Erzwingung der Wahrheit. Die Drohung, die Verschärfung der Haft, Nahrungsentzug, Täuschung, Tricks, Lügen bei der Vernehmung – und so weiter.

Also: Man muss sich aus wohlerwogenen Gründen damit begnügen, nur zivilisatorisch anerkannte Mittel zur Ermittlung der Wahrheit anzuwenden. Was herauskommt ist das Recht. Der Strafprozess dient der Herstellung des Rechts unter Anwendung erlaubter, in der Strafprozessordnung (StPO) genau und bis in die kleinsten Details definierter Mittel. Unter Umständen unter schmerzlichem Verzicht auf die Gerechtigkeit.

Zugegeben: es ist auch schmerzlich, einer brillanten jungen Frau wie Lea Ruckpaul, die in dem von Nora Schlocker inszenierten Stück Suzie Millers Prima Facie die Geschädigte (Vergewaltigte) spielt, nicht Recht zu geben. Dennoch wäre es schwer, den Angeklagten Julian Brookes zu verurteilen.

Wobei prima facie, der Beweis des ersten Anscheins, in der Rechtspraxis kaum eine Rolle spielt. Im Stück auch nicht erkennbar herangezogen wird, jedenfalls nicht entscheidend ist. Gut so. Da muss schon viel zusammenkommen, um ein Urteil drauf zu stützen. Schneidet etwa ein Mörder auf Grund eines Ticks seinen Opfern immer die Ohren ab und findet man so eine Leiche, könnte man auf die Täterschaft dieses bestimmten Straftäters eine Vermutung stützen.

Hier liegt aber eine Zeugenaussage vor: die als Geschädigte auftretende Tessa Ensler, ehemalige Geliebte des der Vergewaltigung an ihr angeklagten Julie Brookes, belastet ihn. Allein auf diese Aussage muss es ankommen, der Gesichtspunkt des prima-facie-Beweises ist demgegenüber bedeutungslos. Die entscheidende Frage: Ist die Zeugin glaubwürdig oder nicht? Kann auf ihre Aussage eine Verurteilung wegen Vergewaltigung zweifelsfrei gestützt werden? Die Verhängung einer hohen Freiheitsstrafe?

Prima Facie - Lea Ruckpaul - Residenztheater © Birgit Hupfeld

Der Sachverhalt ist so einfach wie zugleich komplex. Wie fast alle Vergewaltigungsverfahren, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich das Geschehen fast immer (aus gibt seltene Ausnahmen: s. z.B. das Wüten der Hamas am 7. Oktober 2023) zwischen zwei Personen abspielt. Nämlich zwischen Täter und mutmaßlichem Opfer, ohne weitere und vor allem unbeteiligte Zeugen. Zudem hier: keine erkennbaren Verletzungen.

Das strafrechtlich relevante Geschehen spielt in einer nicht näher bezeichneten Stadt in den USA. Das dortige Rechtssystem, insbesondere das Verfahrensrecht, unterscheidet sich vom deutschen insofern, als über die Schuldfrage eine sogenannte Jury zu entscheiden hat.

Im Stück wird die Rechtsanwältin Tessa Ensler zunächst als eine äußerst effiziente, sehr erfolgreiche Strafverteidigerin vorgestellt, die mit Eloquenz und Brillanz das „Spiel der Gesetze“ betreibt. Sie begreift offenbar den Strafprozess als eine Art Sportkampf, in dem es um Erfolg oder Niederlage geht, die Entscheidung und Verantwortung letztlich jedoch nicht bei ihr,  sondern bei der Jury und dem Richter liegt: „Am Ende entscheiden der Richter und die Jury, welcher Geschichte sie glauben. Sie übernehmen die Verantwortung.“ Wobei sie mit einem gewissen Zynismus der an sich zutreffenden These huldigt, dass es letztlich auf die mit den rechtlich zutreffenden Mitteln festgestellte Wahrheit ankommt: „Es gibt keine wirkliche Wahrheit, nur die juristische.“ Und durchaus zutreffend, wenn auch ausschließlich aus der Verteidigerperspektive und etwas zu schnoddrig rein – nicht zuletzt finanziell – erfolgsorientiert: „Es geht um die juristische Wahrheit. Man muss nicht beweisen, ob sie zugestimmt hat, man muss beweisen, der ER NICHT WUSSTE, dass es KEIN EINVERNEHMEN gab, er also davon ausgehen musste, alles wäre in Ordnung.“ (rechtlich ein Vorsatzproblem: Kenntnis bzw. Unkenntnis des Täters vom entgegenstehenden Willen des Opfers; eine schwierige Beweisfrage)

Tessa arbeitet in einer renommierten Anwaltskanzlei. Sie lernt dort den in derselben Kanzlei arbeitenden Kollegen Julian Brookes kennen. Sie freunden sich an. Die beiden verkehren einmal geschlechtlich in der Kanzlei. Einvernehmlich. Tessa ist freilich nicht schlüssig, ob sie Brookes wirklich liebt.

Prima Facie - Lea Ruckpaul - Residenztheater © Birgit Hupfeld

Später, nach einem alkoholreichen Lokalbesuch, gehen Brookes und Tessa in deren Wohnung. Ob dort weitergetrunken wurde, bleibt offen. Sie gehen ins Bett. Berühren sich, küssen sich. Schließen die Augen. Plötzlich wird es Tessa schlecht. Sie stößt Julian Brookes von sich, eilt auf die Toilette, übergibt sich. „Kotze mir die Seele aus dem Leib. Ich fühle mich grässlich.“ Er fragt, ob es ihr gut geht. Sie sagt (Zitat aus dem schriftlich vorliegenden Text des Stücks): „Ja, ja, alles ok, das ist nur der Rotwein.“ Und weiter/Zitat: „Er flüstert mir ins Ohr: „Geht es dir gut?“ Und sie: „Ja, klar, nur etwas…bäh“. Andererseits sagt sie, Brookes habe Gewalt angewendet. Gegen ihren Willen mit ihr verkehrt. Ihre Hände festgehalten. Mit beiden Händen. Gleichzeitig ihr den Mund zugehalten. Ein Widerspruch, weil er nicht eine Hand frei gehabt kann. Sie habe ihr Gesicht weggedreht., sich gewunden, gesagt, er solle aufhören.

Was ist wahr? Zwar hat der Bundesgerichtshof entschieden, aus dem Umstand vorausgegangenem einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs ergebe sich noch keine Einwilligung im konkreten Einzelfall. Andererseits bedarf es sorgfältiger Prüfung. Jede Person ist souverän in der Entscheidung, ob sie sich jeweils auf einen Geschlechtsverkehr einlassen will.

Andererseits: die Alkoholisierung der Zeugin. War ihre Wahrnehmungs- und Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt? War ihre Weigerung eindeutig genug und für Brookes erkennbar?

Am Ende machen es sich die Autorin und die Regie doch etwas zu leicht. Tessa breitet über die Kartons mit den  – verstaubten? – Akten ein Bett, verkriecht sich kurz. Sie hängt Porträts alter Männer an die Wand, die wohl signalisieren sollen, wie vermodert die überkommenen Ansichten sind. Leicht hüpft sie, die Geschädigte, über Podeste/Klippen bis in die Mitte des Zuschauerraums. Spielt ein wenig Cello. Aber was ist ein Systemfehler wie es am Ende heißt? Natürlich ist die Wahrnehmungsfähigkeit der Opfer regelmäßig getrübt. Dann sollen sie es aber auch sagen: ich weiß es nicht; ich hatte Angst, ich war betrunken usw. Und nicht unglaubwürdige Theorien aufstellen, sich in Widersprüche verwickeln. Und wie anders als rational soll ein gesetzlich relevanter Sachverhalt aufgeklärt werden? Durch Fantasien etwa? Man hätte sich Vorschläge der Autorin gewünscht. Sind die Opfer denn generell glaubwürdig. Es gibt andere Erfahrungen.

Etwas mühsamer ist die forensische Realität also schon. Vor allem: Man muss beurteilen können, ob die Beteiligten auch meinen, was sie sagen. Ob sie lügen oder werten oder schönen. Dazu muss man sie zumindest in Strafverfahren sehen, ihnen in die Augen schauen können. Zögern sie, schauen sie an die Decke oder zum Fenster hinaus? Stottern sie? Sind sie weitschweifig, kommen nicht zur Sache? Schwitzen?

Noch einmal: Es wäre schmerzlich, wenn gerade hier – vielleicht – die Gerechtigkeit hinter dem Recht wie zurücktreten müsste. Anderseits ist Suzie Miller doch nicht ganz vor der Parteilichkeit gefeit. Viel zu schnell.

Es gibt grausame Männer, schreckliche, die Frauen regelrecht massakrieren. Es gibt aber auch Frauen, die Männer in die Haft lügen.

Was ist die Wahrheit? Die Beweisanforderungen sind hoch. Ich hätte auch, mit Schmerzen, freigesprochen. Ein Denkanstoß ist das Stück immerhin. Großes Lob vor allem für Lea Ruckpaul. Was für eine Leistung! Ovationen im Stehen!

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