München, Residenztheater, Graf Öderland - eine Moritat - Max Frisch, IOCO Kritik, 26.10.2021
Graf Öderland - eine Moritat - Max Frisch
- Die ewige Wiederkehr des Immergleichen -
von Hans-Günter Melchior
Dem Regisseur und dem Bühnenbildner sei Dank. Stefan Bachmann und Olaf Altmann haben die Zuschauer intellektuell ernst genommen. Sie nicht zu staunenden Nichtverstehern verrätselter Einfälle gemacht, von Fantasien, die nachtschwarzen Albträumen oder clownesken Ausschwitzungen entsteigen.
Das ist keine Kleinigkeit bei einem Stück, mit dem der Autor Max Frisch tapfer und mehrfach ändernd gerungen hat und das – oh ja, zugegeben – auch seine Schwächen hat. Warum nicht?
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Man merkt freilich die Absicht. Aber man ist keineswegs verstimmt. Weil die Absicht, meist unterdrückt, eben nach einem Ausdruck verlangt. Max Frisch gab seinem Leiden an der für ihn sinnentleerten Wiederholung immergleicher und durch die verrostete Mangel der gesellschaftlichen Ordnung gedrehten Praktiken in der Person des Staatsanwalts eine Stimme. Herausgekommen ist aus dem leidvollen Grübeln, wie das – übrigens ausgezeichnete, äußerst informative, die Problematik erhellende – Programm hervorhebt, „eine Moritat in zwölf Bildern“. Sie beschreiben das – gut nachvollziehbare – Lebensgefühl eines Intellektuellen, der sich nicht nur radikal aus der Klammer der Alltagszwänge befreit, sondern auch die diesen zugrundeliegende Ordnung zu demontieren beabsichtigt. Und der dabei genau in den Zuständen ankommt, die er bekämpft.
Da ist so manches im Handlungsablauf ein wenig gewaltsam auf die Theorie hin konstruiert. Fast unvermeidlich wird mit dem Zaunpfahl gewunken. Etwa wenn der revolutionäre Staatsanwalt in den Untergrund geht und dabei sich und seine Anhänger ausgerechnet in der städtischen Kanalisation versteckt. Oder wenn eine alte Öderland-Sage dafür herhalten muss, die revolutionäre Idee zu befördern. Und dann das Axtsymbol, das wohl in den Inszenierungen der Vergangenheit Anlass zu Verwechslungen mit den Kitschmythen der Nazis gab.
Die Nähe zu Brechts epischem Theater ist bis in Zitatanklänge unverkennbar (das Schiff mit den drei Masten). Auch Wagners „Holländer“ scheint vorzukommen (Fahrt des Schiffes „Kreuz und quer. Ohne Ziel und Zeit“).
Das äußere Geschehen ist insgesamt märchenhaft, schlicht, verfremdet und eher praxisfern. Es handelt sich eben um eine Moritat mit lehrhaftem Fingerzeig. Ein Staatsanwalt (hervorragend nachdenklich, strauchelnd, ratlos suchend Thiemo Strutzenberger, Foto oben) die Anklage gegen den Mörder (fast fröhlich, jedenfalls wie bedenkenfrei und ohne erkennbare Skrupel gespielt von Steffen Höld) vor dem am nächsten Tag verhandelnden Gericht vertreten. Der Mörder klingelte kurz vor Mitternacht am Hintereingang seiner ehemaligen Arbeitsstätte (er verwaltete die Kasse) der Bank-Union. Der ihm gut bekannte Hauswart öffnete ihm, sie unterhielten sich kurz, der Mörder schaute dem Hauswart zu, wie er den Heizkessel bediente, ging auf Toilette, holte danach eine mitgebrachte Axt hervor und erschlug den ihm sympathischen Mann. Nur so. Ohne Motiv, freilich mit dem Mordmerkmal der Heimtücke, wahrscheinlich auch der Grausamkeit. Aber eben grundlos, ohne Verfolgung einer konkreten Absicht.
Sein Verteidiger Dr. Hahn (sachlich Simon Zagermann; später auch der Sträfling) müht sich ab, seinem Mandanten gerade dies, nämlich ein Motiv, für die Tat zu entringen, bleibt aber erfolglos. Der Mörder weiß nicht, warum er gemordet hat.
Nicht nur der Verteidiger, auch der Staatsanwalt leidet an der Sinnlosigkeit der Tat. Eine Peripetie in seinem Berufsleben, im Leben überhaupt. Er entschließt sich, die Anklage nicht zu vertreten, sondern sich abzusetzen. Er flieht aus seinem bisherigen Leben in den Wald, wo er in eine Köhlerfamilie kommt (Vater, auch später Innenminister und ein Boy Moritz von Treuenfels; Mutter, auch Fahrer und Direktor: Nicola Mastroberardino; deren Tochter Inge, auch Hausangestellte beim Staatsanwalt und mondäne Dame im Ministerium: Linda Blümchen).
Inge macht den Staatsanwalt mit der Sage vom Grafen Öderland bekannt, der mit einer Axt bewaffnet mordend durch das Land zog. Der Staatsanwalt übernimmt die Identität des Grafen und mit diesem dessen Grausamkeit und Radikalität, er schwärmt von einem Leben auf der sagenhaft verklärten Insel Santorin, erschlägt an der Grenze drei Männer und landet schließlich mit einer Armee von 7000 Anhängern in der städtischen Kanalisation (was für ein Santorin!), von wo er die Revolution vorbereitet.
Die Versuche von Elsa, Frau des Staatsanwalt (Barbara Horvath, die auch den Gendarm und den greisen Staatspräsidenten spielt), des Revolutionärs habhaft zu werden, scheitern. Graf Öderland, alias Der Staatsanwalt, opfert seine Anhänger, die er in der Kanalisation dem Tod durch Ertrinken ausliefert, um sich selbst zu retten. Er dringt in die Residenz ein, wo die Regierung feiert.
Es schließt sich der Kreis. Der Sträfling meldet die Fertigstellung eines Stacheldrahtzauns, der Präsident fordert Graf Öderland/den Staatsanwalt auf, die Ordnung wiederherzustellen und eine Regierung zu bilden. Alles im Staatsanwalt sträubt sich gegen die Zumutung, genau das, was er bekämpft hat, wovor er geflohen ist, erneut zu errichten: die auf die Macht gestützte staatliche Ordnung und deren eintönigem Leerlauf. Der Präsident: „Wer um frei zu sein, die Macht stürzt, übernimmt das Gegenteil der Freiheit, die Macht…“
Der Staatsanwalt rettet sich am Ende in den Traum: „Man hat mich geträumt – Erwachen – jetzt rasch – jetzt erwachen – erwachen!...“
Der Grundwiderspruch im menschlichen Leben: man vernichtet das, worum man kämpft, gerade indem man es bekämpft.
Der Träumer reflektiert seinen Traum oder das, wozu ihn der Traum anderer macht. Er ist im Kreis gelaufen. Die Realität überholt den Traum, alles ist Illusion. Der Gendarm: „Er selbst zu sein, das ist das Leben, und wir anderen sind der Traum davon.“
Sehr einsichtig realisiert das die Bühne Olaf Altmanns. Ein riesiger Trichter, dessen Öffnung, der Trichterhals, weit nach oben, während das eigentliche, weite Trichtergefäß nach unten bis fast zum Bühnenrand reicht. Die Protagonisten schlüpfen, zwängen sich durch die kleine Trichteröffnung von oben in die Weite des geräumigen Trichtergefäßes wie in die ersehnte Freiheit hinein. Eine großartige Idee, einleuchtend und eindrucksvoll, die zu manchen bizarren Effekten wie Schattenrissen, verrenkten Körpern und dergleichen Gelegenheit gibt.
Die Sprache ist lapidar, unpathetisch, hinweisend. Dazu die Musik, das Stakkato eines Klaviers, hämmernd auf der Stelle tretend, dazu eine E-Gitarre, eine Bassklarinette/Klarinette und eine Geige/E-Geige: Seven Kaiser, musikalische Leitung, Tobias Weber, Julia Bassler.
Fesselnde 100 Minuten. Einhelliger Beifall - Zu Recht kein einziges Buh für die Regie
Graf Öderland am Residenztheater, München; die weiteren Termine 3.11.; 4.11.; 10.11.; 21.11.; 28.12.2021
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