München, Residenztheater, Der Kreis um die Sonne - Roland Schimmelpfennig, IOCO Kritik, 14.02.2022
Der Kreis um die Sonne - Uraufführung - Roland Schimmelpfennig
Das Kreisen um das Leben - Alle Fragen sind offen
von Hans-Günter Melchior
Der bedeutende Dramatiker Roland Schimmelpfennig (*1967, Göttingen) hat ein Stück mit bedeutenden Fragen geschrieben, das zu kurz ausfällt. Eine Stunde und zwanzig Minuten sind für das, was in Pandemiezeiten – und nicht nur in diesen – die Welt bewegt, zu wenig.
Da reicht es nur für Andeutungen, hingeworfene Sätze über Einsamkeit, Isolation, Angst. Und es gibt nur Ausschnitte des Scheiterns, hinter dem manchmal so etwas wie Liebe aufleuchtet, klimmt – oder der Zuneigung; Versuche, Türen der Erkenntnis und Hellsicht zu öffnen. Und wenn am Ende Dunkel die Bühne einhüllt, wartet man noch ein wenig auf Erklärungen, auf Hinweise für das Nachdenken und Hilfe bei der Nachdenklichkeit, mit der man das Theater verlässt –, aber das Stück ist beendet, „der Vorhang“ ist zu und die meisten Fragen sind „offen“ wie beim Guten Menschen von Sezuan.
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Sieben Schauspieler: Carolin Conrad, Katja Junge, Thomas Reisinger, Max Rothbart, Thiemo Strutzenberger, Yodit Tarikwa und Ulrike Willenbacher spielen Party in der Krisenzeit, der Coronazeit. Sie kommen aus verschiedenen Milieus und kreisen wie Planeten umeinander, als suchten sie den Ort, wo ein Sinn haftet, Sinnhaftigkeit in einer Zeit, in der der einzige Sinn darin zu bestehen scheint zu überleben. Sich durch die Krise zu lavieren, in der – so eine der Aussagen – „plötzlich – innerhalb einer Sekunde“ – „das ganze Leben“ auseinandergebrochen ist. Die Sonne einkreisend nach ihr suchend.
Da haben es die Bienen besser, von denen anfangs die Rede ist. Ihre gefestigte Hierarchie teilt die Zuständigkeitsbereiche unaufhebbar zu, es gibt oben und unten, Arbeiter und Herrscher, während die Menschen zumindest in dieser Hinsicht nach ihrer Ordnung suchen und angeblich darin gleich sind.
Wirklich?
"Es ist so voll hier", wird wiederholt auf der Bühne geklagt, geradeso als befinde man sich auf einer Massenveranstaltung, die man sich mehr vorstellen muss als dass sie naturgemäß erkennbar sein könnte. Obwohl immerhin sieben Darsteller verschiedener Couleur miteinander reden und sogar zu agieren scheinen, jedenfalls kommt einer mit einem Tablett voller Gläser wie ein Kellner daher, er stößt mit einer anderen Person zusammen, so dass die Gläser zu Boden fallen und zu Scherben werden. Die Szene wird am Ende wiederholt - ein Kreis scheint sich zu schließen - schicksalhafte Verstrickung und Festlegung im Immergleichen, Unentrinnbarkeit wohl auch hier im Menschenreich wie bei den Bienen.
Oh ja, das Schicksal. Zumal einer aus dem Kreis mit einer Flinte agiert und sich erschießt. Offenbar nicht überzeugt von der Utopie einer Welt ohne Ausbeutung. Auch dieses Thema wird angerissen.
Und manchmal wird auch Klavier gespielt, anfangs wie zur Übung, danach in zusammenhängenden Ideen, Tonfolgen, Versuche freilich auch hier.
Sogar von der UNO soll die Rede sein, sie, die Rede nämlich, ging leider unter im komplizierten, formal und inhaltlich höchst anspruchsvollen Diskurs, in der Erörterung der Dialektik der Begriffspaare, die von realen Personen vertreten wurden wie von Trägern der Ideen.
In der Tat: Von Gegensatzpaaren ist im Programmheft die Rede, dem Versuch, das Vorher/Nachher, das in der Pandemie mitschwingt, dialektisch auf das Theater zu übertragen. Das alles soll in der kurzen Zeit begriffen, miterlebt und verstanden werden. Ein fast unmögliches Unterfangen, zumal eine richtige Handlung, eine durchgehende Geschichte den hohen Diskurs nicht beglaubigt.
Und so bleibt das von Nora Schlocker inszenierte Stück, Bühne Irina Schicketanz, Kostüme Vanessa Rust, dessen Text man unbedingt vorher gelesen haben sollte, um die Komplexität des Stoffes, die Themenvielfalt miterlebend nachvollziehen zu können, letztlich ein Versuch, um nicht zu sagen: es bleibt notwendig mit seiner akademischen Anlage im Versuch stecken. Ein gedankliches Experiment, auf die Bühne gebracht, krisenhaft in der Krise.
Ein schwieriger Abend trotz seiner Kürze. Eher nachdenklicher, zögerlicher Beifall. Schon fertig? Als sagten sich viele Zuschauer: das muss mir mal einer in Ruhe erklären!
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Der Kreis um die Sonne - Residenztheater; weitere Termine sind zur Zeit nicht geplant; bitte rufen Sie an: +49 (0) 89 2185 1940, Telefonischer Kartenvorverkauf, MO bis SA 10–19 Uhr
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