München, Münchner Kammerspiele, Effingers - Uraufführung nach Gabriele Tergit, IOCO Kritik, 28.09.2021
Großprojekt zu Schleuderpreisen - Die industrielle Revolution frisst ihre Kinder
von Hans-Günter Melchior
Die Münchner Kammerspiele haben dankenswerterweise die Spielsaison eröffnet. Eintritt gegen Vorzeigen des Impfausweises oderTest. Während der Vorstellung Maskenpflicht. Dafür volles Haus ohne Sitzbeschränkung.
Selten hat man in den letzten Jahren die Kammerspiele so zum Bersten voll gesehen. Die Eintrittspreise waren extrem niedrig: von 9 bis maximal 20 Euro. Ein dankenswertes Unterfangen, sozial und verdienstvollerweise kulturelles Aufsehen erregend, mit anderen Worten: den Blick auf die beklagenswert vernachlässigte und leidende Kultur, auf die Kunst, insbesondere die Theaterkunst lenkend.
Die auf Vergnügen eingestellte Jugend überwog unter den Zuschauern. Sie wurde belohnt. Ein Umstand, der („naturgemäß“ hätte Thomas Bernhard gesagt) freilich auch – zumindest nach Meinung des Rezensenten – an manchen falschen Stellen zu Gelächter führte. Aber wer weiß. Vielleicht ist es wirklich eher eine Lachnummer als eine traurige Feststellung, wenn es an einer Stelle im Roman und im Stück süffisant heißt, Karl Effinger habe seine aus dem Geldadel kommende Frau bereits geliebt, bevor er sie kannte (d.h.: überhaupt gesehen hatte). Ist es denn heute selbstverständlich und allenfalls ein Gelächter wert, dass der Mensch auf sein Vermögen reduziert wird?
Effingers ist ein Familienroman von Gabriele Tergit. Tergit ist ein Pseudonym für Elise Reifenberg. Der Roman schildert in allen Facetten und bis in die letzten Einzelheiten das menschliche und geschäftliche Schicksal der Brüder Karl und Paul Effinger, Juden, die es, aus dem süddeutschen Kragsheim kommend, in Berlin durch geschickte Eheschließungen und von den Wellen des technischen Fortschritts gehoben zu Industriellen brachten und später dem Nazi-Terror zum Opfer fielen.
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Das Buch ist äußerst differenziert, leuchtet bis in die letzten gesellschaftlichen und politischen Erscheinungen hinein das Dunkel einer Zeit aus, es spannt einen weiten Bogen von der Jahrhundertwende bis zu den Weltkriegen und reflektiert insbesondere an vielen Stellen das dialektische und – nur für hartnäckige Verteidiger des Kapitalismus scheinbar unaufhebbare Dilemma – zwischen technischem Fortschritt und Benachteiligung der Mehrheit der Bevölkerung. Mit anderen Worten: Tergits Roman prangert an zahlreichen Stellen die soziale Ungerechtigkeit an. Und er beschreibt eindringlich den Wandel der Auffassungen in den – marxistisch ausgedrückt – Kreisen der Eigentümer von Produktionsmitteln. Der Profitgedanke hat weitgehend das abgelöst, was dazumal noch als unternehmerische Moral galt.
Sehr charakteristisch ist in diesem Zusammenhang eine Stelle im Buch: Paul besucht nach dem Scheitern seines Schraubenunternehmens auf der Suche nach einer neuen Existenz den Industriellen Schlemmer, den er auf der Zugfahrt nach Berlin kennengelernt hatte. Er befragt Schlemmer nach gewissen Einzelheiten der Wirtschaftlichkeit, den Selbstkosten eines Maschinenteils etwa oder den Kilokosten des Dampfes usw. Schlemmer weicht aus. Im Buch heißt es: „Hier irgendeine Frage nach dem Geld zu stellen wäre Zeichen einer niedrigen Gesinnung gewesen…Sicher verdiente Schlemmer sehr gut, aber nie hätte er zugegeben, daß er irgend- etwas um des Erwerbes willen tat.“ Schlemmer wollte um des Fortschritts, letztlich um der „Menschheit“ willen produzieren.
Tempora mutant. Hat etwa VW im Dieselskandal um der Menschheit willen oder ausschließlich des Profits willen produziert, unter Vernachlässigung der Qualität der verkauften Ware? Dies soll gerade gerichtlich geklärt werden.
Der den Kammerspielen seit langem verbundene Regisseur Jan Bosse hat sich unterfangen, das Riesenwerk Gabriele Tergits als Theaterstück auf die Bühne zu bringen und er und seine Dramaturgin Viola Hasselberg sind damit – immerhin ehrenvoll und bei aller schwungvollen Unterhaltsamkeit der Aufführung – nicht ganz beim eigentlichen Thema angekommen. Zu sehr wird auf einen etwas schal anmutenden Humor gesetzt, zu offensichtlich auf die Lacher gezielt.
Davon abgesehen tut man sich schwer, die sich immerhin auf fast 4 Stunden! (eine halbstündige Pause) erstreckende Aufführung zu verarbeiten, also durch die Stoffmasse zu finden, wenn man zuvor nicht das Buch gelesen hat. Da helfen auch einige Slapsticks wie Pferdeparodien, Gewieher und Gehopse, ein paar lustig gemeinte Bemerkungen und Videos nicht viel weiter. Die sich an die Jahrhundertwende anlehnenden Kostüme zielen auf Authentizität, retten aber das an Einzelheiten überfüllte Stück letztlich doch nicht. Und selbst das glänzend disponierte und brillante Ensemble kann die Schwächen des dem wichtigen und sehr viel besseren Buch abgewonnenen Stücks nicht „überspielen“. Hervorzuheben ist freilich der glänzend aufgelegte André Jung als Waldemar Goldschmidt, der einen kritischen Kopf repräsentiert und manchmal ein wenig Dystopie in den Bühnenoptimismus bringt. Hervorragend auch Katharina Marie Schubert, Foto, als Lotte Effinger und insbesondere Lucy Wilke, Foto, als die Sängerin Susanna Widerklee, die im Buch die Jugend betört. Nicht zu vergessen die souveränen Christian Löber als Paul Effinger und Bekim Latifi als Karl Effinger, als Repräsentanten und zugleich Opfer der zur Industrialisierung aufbrechenden Zeitalters. Umwerfend Katharina Bach als Sofie Oppner.
Noch einmal: Der Humor im Roman ist eher gedämpft, es sind ihm Essenzen der Resignation und des Bedauerns, ja der Trauer über die verlorenen Chancen der Zeit beigemischt. Der sehr moderne und immer noch oder gerade durch das aktuelle Zeitgeschehen enorm verstärkte Blick Tergits auf die Entartungen der kapitalistischen dominierten Gesellschaft findet im Buch seinen Ausdruck in Reflexionen, nur manchmal in parodistischen Einlagen. Er lässt sich nur schwer oder gar nicht, zumindest nicht vollständig in Dialogen und umtriebigem Bühnengewusel auflösen. Formal ist Buch also aus Reportagen, Betrachtungen, eingeschobenen Kommentaren und Reflexionen – und freilich auch Dialogen konstruiert, es ist ungeheuer differenziert und übervoll an Beispielen der Fehlentwicklung, entfaltet einen Kosmos nachwirkenden und sich zum Schlechten entwickelnden Zeitgeistes, der heute im schrankenlosen Profitdenken eine „Blüte“, erreicht hat, einem Denken zur Herrschaft verhalf, das sich geradezu ideologisch als unanfechtbar gibt und bis in die letzten menschlichen Beziehungen eindringt. Das alles geht letztlich, zieht man Bilanz, leider verloren in den rasch abwechselnden Szenen, die das Grundthema zugunsten der Unterhaltung vernachlässigen.
So droht das Stück letztlich, je länger es dauert, in Einzelheiten zu zerfasern. Manchmal müssen dann doch wie aus Reue und um des thematischen Fortgangs und des Verständnisses willen aus dem Dialog herausfallende und kommentierende Textstellen einfach so dahingesprochen werden, auch wenn sie aus dem Dialog herausfallen. So fällt es mit wachsender Dauer des Abends schwer, noch den großen Zusammenhang beim Zuschauen herzustellen. Immer mehr löst sich das Ganze in unruhigen Einzelheiten auf. Auch akustisch hat man seine Schwierigkeiten, wenn man nicht weit vorne sitzt. Manchmal wird zu leise, nebenbei und ins Private hinein gesprochen.
Freilich soll nicht unerwähnt bleiben, dass immerhin, sofern man genau hinhört, auch einiges, freilich wie nebenbei deutlich wird: das Aufbegehren eines Teils der Jugend im beginnenden industriellen Zeitalter, die sich der Anpassung verweigert. Wie schön wäre es gewesen, um das Hauptanliegen des rebellierenden jungen Theodor (André Benndorff) herum eine kritische Gesellschaftsbetrachtung in den Mittelpunkt des Stücks zu stellen. Statt so manche Szene ins Clowneske zu verzerren und zu verharmlosen.
Und wo war der Raum für eine Kritik am Schicksal der Frauen aus dem Arbeitermilieu, die den Parvenus lediglich als eine Art Überbrückungshilfe dienten, bis eine „adäquate“ Verbindung gefunden wurde? Am Ende dann doch noch eine kritische Szene bezüglich des (heute leider schon wieder erstarkten) Antisemitismus.
So ist das Stück einerseits zu lang, andererseits etwas zu kurz. Alles in allem hat man sich an dem komplexen Stoff etwas verhoben.
Am Ende freilich brandete zum Teil übermütiger Jubel auf. Manche älteren Zuschauer in der Umgebung übten sich eher in nachdenklicher Zurückhaltung
Effingers - Münchner Kammerspiele, die nächste Vorstellung 2.10.2021, 19.30 Uhr
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