München, LMU-Universität, Musikakademie Lviv, Ukraine - Konzert, IOCO Aktuell, 18.02.2023

München, LMU-Universität, Musikakademie Lviv, Ukraine - Konzert, IOCO Aktuell, 18.02.2023
Ludwig-Maximilians-Universtät, München © Wikimedia Commons
Ludwig-Maximilians-Universtät, München © Wikimedia Commons

Musikakademie Lviv, Ukraine - Konzert an der LMU,  München

- "Musik für das Leben" - denkwürdiges Konzert an einem denkwürdigem Ort -

von  Bernd Edelmann

„Unglücklich das Land, das Helden nötig hat,“ schreibt Bert Brecht 1939 im dänischen Exil (Leben des Galilei). Wie kann man in Zeiten eines Krieges über ein Konzert schreiben, das es ohne diesen Krieg, in Friedenszeiten, nie gegeben hätte? Beschädigt der Krieg auch die Musik, die doch immateriell ist und nur im Augenblick des Erklingens real wird, die weder Bomben noch Iskander-Raketen zerstören können? Sind die ukrainischen Musiker, die trotz – und wegen – des Krieges konzertieren, Helden? Schließlich kämpfen sie mit ihren Instrumenten für den Rang und die Eigenständigkeit der ukrainischen Kultur, die man ihnen böswillig abspricht. Das machte das Konzert des Kammerorchesters der Musikakademie Mykola Lysenko, Lviv, im November 2022 in der Großen Aula der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) so ungeahnt denkwürdig.

LMU, München / Lviv Chamber Orchestra ”Akademia”, Konzertmeister Prof. Artur Mykytka (links); Dirigent – Prof. Ihor Pylatiuk (rechts) © Ukrainische Freie Universität
LMU, München / Lviv Chamber Orchestra ”Akademia”, vorne Konzertmeister Prof. Artur Mykytka (links); Dirigent – Prof. Ihor Pylatiuk (rechts) © Ukrainische Freie Universität

Das Konzert kam zustande, weil vier Institutionen zusammengewirkt haben: das Institut für Musikwissenschaft der Universität München, die Münchner Musikhochschule, die Ukrainische Freie Unversität München sowie die Landeshauptstadt München, die seit 1989 Partnerstadt von Kyiv ist. Prof. Hartmut Schick, Vorstand des Musikwissenschaftlichen Instituts dankte in seinem Grußwort Frau Prof. Adelina Yefimenko, die nicht nur die Idee zu diesem Konzert hatte, sondern auch tatkräftig alles organisierte. Kurze Ansprachen hielten auch Frau Prof. Maria Pryshlak (Ukrainische Universität München) sowie der Rektor der Musikakademie Lviv, Prof. Ihor Pylatiuk, der das Konzert leitete; er war sichtlich bewegt schon von der Erwartung, in dem vollen Saal, geheizt, ohne Stromsperre oder Luftangriffe, einfach musizieren zu können.

Prof. Schick hatte einen kurzen Abriss der ukrainischen Musikgeschichte gegeben. Bereits das erste Stück war überraschend: Eine vierstimmige Motette „Unser Vater“ des ukrainischen Komponisten Maksym Berezovsky (1745-1777), in einer Orchesterfassung von Myroslav Skoryk, dem langjährigen Leiter der Musikakademie von Lviv. Der Chorsatz wurde mit dem offensichtlich originalen deutschen Text noch lange nach Berezovskys Tod bei Breitkopf & Härtel in Leipzig gedruckt. Die ausgedehnte Schlussfuge, im Chorsatz über „Und die Kraft und die Herrlichkeit“, war kontrapunktisch auf der Höhe der Zeit. Berezovsky hatte als Sänger an der Hofoper in Sankt Petersburg begonnen, wo italienische Opera Seria gespielt wurde. Er ging dann nach Bologna zu dem berühmten Padre Martini, seine Oper Demofoonte wurde in Florenz aufgeführt. Zurück in St. Petersburg fand er jedoch keine Stelle bei Hofe und starb verarmt und krank mit 31 Jahren. Nur wenige seiner Werke sind erhalten, aber als Vermittler von slawischer und italienischer Musikkultur hätte er einen Ehrenplatz im exklusiven Club der Frühvollendeten verdient.

Mykola Lysenko vor dem Opernhaus Kiew © Wikimedia Commons
Mykola Lysenko vor dem Opernhaus Kiew © Wikimedia Commons

Mykola Lysenko (1842-1912) hat ebenfalls „im Westen“ studiert, nämlich Klavier und Komposition am Leipziger Konservatorium. Er hatte früh begonnen, ukrainische Volkslieder zu sammeln, und kämpfte für die Anerkennung der ukrainischen Kultur, was ihm die Russen in Kyiv übelnahmen. Er verdiente es, in Deutschland besser bekannt zu werden. Seine Elegie op. 39 (1901) war ursprünglich ein Klavierstück mit dem französischen Untertitel „La tristesse“. Die schwermütige Melodik des Klavierstücks kam in der Bearbeitung für Cello und Kammerorchester erst recht zur Geltung. Der Solist Bohdan Havrylov spielte ausdrucksvoll, mit sanftem Ton. Ob Lysenko sich dabei von ukrainischen Volksmelodien anregen ließ? Die Elegie wäre ein ideales Zugabenstück für das beschränkte Cello-Repertoire. Wichtiger scheint mir, dass das Publikum überhaupt den Namen Lysenko kennenlernte, der zu einer Zeit, als man in Osteuropa nationale Musikstile entwickelte, für die Ukraine dieselbe Rolle gespielt hat wie Smetana für Tschechien und Mussorgsky für Russland. Immerhin ist die effektvolle Ouverture zu Lysenkos Oper Taras Bulva – sie handelt von einem Kosaken, der gegen die Polen kämpft – öfters im Rundfunk zu hören; das Orchester Kyiv hatte sie im Programm seiner Europatournee.

LMU, München / Lviv Chamber Orchestra ”Akademia”. Konzertmeister Prof. Artur Mykytka und Solist Nazar Pylatiuk (Violine) © Ukrainische Freie Universität
LMU, München / Lviv Chamber Orchestra ”Akademia”. Konzertmeister Prof. Artur Mykytka und Solist Nazar Pylatiuk (Violine) © Ukrainische Freie Universität

Einige Werke stammten von zeitgenössischen ukrainischen Komponisten, ein witziges Orchestra rehearsal von Wiktor Kaminskyi, Kreis von Yevhen Petrychenko und – besonders eindrucksvoll – La belle musique von Olga Kryvolap (* 1951). Die sieben Miniaturen versuchen, in immer neuen Anläufen, mit musikalischen Pathos-Gesten, Seufzermotiven und schmerzlich-dissonanten Akkorden die gute alte „romantische“ Musik heraufzubeschwören. Doch die Schönheiten von früher sind abgegriffen. Der exzessiv zelebrierte Wohlklang der Streicher glaubt sozusagen nicht mehr an sich selbst. Man könnte das Stück auch nennen: Die unmögliche Streicherserenade, oder La „belle“ musique. Man hört dem Stück die Wehmut an, dass eine Komponistin heutzutage nicht einfach mehr „schön“ komponieren kann.

Das Kammerorchester der Musikakademie Lviv spielte alle Stücke des ukrainischen Repertoires souverän. So konnte es eigentlich nicht überraschen, dass die jungen Musiker auch den Tonfall der argentinischen Tangos von Astor Piazzolla (Meditango) und Richard Galliano (Tango pour Claude) stilgerecht trafen: diese beiläufigen rhythmischen Unschärfen, die Atempausen und die „sinnliche“ Tongebung. Es war ein reines Vergnügen, dem virtuosen Violinsolisten Nazar Pylatyuk beim Tango pour Claude zu hören. Das Konzert schloss mit der Melody von Myroslav Skoryk. Man hat sie schon oft gehört, nun wissen wir auch, dass Skoryk der verdienstvolle Direktor der Musikakademie Lviv war. Es war ein denkwürdiges Konzert: Musik als Friedensbotschaft!

LMU, München /  Lviv Chamber Orchestra ”Akademia” in der Aula der LMU München © Ukrainische Freie Universität
LMU, München / Lviv Chamber Orchestra ”Akademia” in der Aula der LMU München © Ukrainische Freie Universität

Warum aber ein denkwürdiger Ort? Bei diesem Konzert der Lviver Studenten weckte die Große Aula der Universität München alte, fast verschüttete Erinnerungen an die Münchner Nachkriegszeit. Die halbrunde Apsis hinter dem Bühnenpodest ist für einen Festsaal ungewöhnlich. Man denkt an Kirchenbauten. Die Aula hatte aber ein anderes Vorbild, nämlich das seit 1828 bestehende und für seine Akustik berühmte Odeon. Im Odeon traten alle großen Komponisten der Zeit auf: Wagner, Brahms, Bruckner, Strauss, Mahler – bis Strawinsky. In den oberen Geschoßen des Odeongebäudes lagen die Räume der Münchner Akademie der Tonkunst. Im 2. Weltkrieg wurden die Musikstudenten zur Brandwache abgeordnet, damit bei Bombenangriffen frühzeitig die Feuerwehr alarmiert wurde. 1944 zerstörten Bombenangriffe das ganze Gebäude. Der Odeonssaal wurde nicht wieder aufgebaut.

In der Apsis des Odeons waren die Büsten großer Komponisten aufgereiht, Fresken zeigten Apollo und die Musen. In der 1911 erbauten Aula der Universität stehen statt der Komponisten die Büsten der bayerischen Könige auf den Wandkonsolen. Das zentrale Mosaik zeigt Phoebus Apollo, der die vier Rosse des Sonnenwagens lenkt. An den Seitenwänden sind griechische Göttinnen dargestellt: Athene als Schutzherrin der Wissenschaft und Weisheit, Aphrodite für Schönheit. Diese monumentalen Mosaiken ziehen den Blick der Zuhörer magisch nach vorne, die Musiker werden gewissermaßen überstrahlt von den ungestüm nach vorne galoppierenden Rossen des Sonnenwagens. Die Textzeile unterhalb der Mosaikmitte scheint das zu bestätigen: „Strahl des Helios, (du) schönstes Licht.“ Wird hier also der Jugendstil des Saales nur mit humanistischem Bildungsgut aufgehübscht? Keineswegs. Denn mit diesen Worten beginnt das erste Chorlied in der Tragödie Antigone von Sophokles. Nachdem die Thebaner den Angriff des Argiver-Heeres abgewehrt haben, begrüßen sie den morgendlichen Sonnenaufgang. Es ist also ein Siegesgesang. „Musik für das Leben“ war das Motto unseres Konzertes. Die Sophokles-Worte sind noch konkreter: Jeder im Saal wünschte sich, dass der menschen- und völkerrechtsverachtende Aggressor möglichst bald besiegt würde. Dann könnte die Sonne wieder im Frieden aufgehen.

LMU, München /  Publikum  vrnl - Organisatoren des Konzerts: Prof. Dr. Maria Pryshlak - Rektorin der Ukrainischen Freien Universität, Prof. Dr. Adelina Yefimenko –  © Ukrainische Freie Universität
LMU, München / Publikum von rechts nl - Organisatoren des Konzerts: Prof. Dr. Maria Pryshlak - Rektorin der Ukrainischen Freien Universität, Bezirksrat Dieter Rippel, Prof. Dr. Adelina Yefimenko, Prof. Dr. Hartmut Schick. Lehrstuhl für Musikwissenschaft Institutsleiter, Sibylle Picot, Stiftung Offene Chance © Ukrainische Freie Universität

Die Aula der Universität ist überdies ein „Ort der Demokratie“ in Bayern. Denn 1946 tagte darin der Konvent, der die Bayerische Verfassung erarbeitete, und auch die Sitzungen des frei gewählten Bayerischen Landtags fanden bis 1947 dort statt. Es war der einzige große Saal in München, der den Krieg fast unzerstört überstanden hatte. Als im Sommersemester 1946 der Universitätsbetrieb wieder begann, waren die Studenten verpflichtet, Schutt zu räumen und Holz und Kohlen mitzubringen. Da nicht nur das Odeon, sondern auch der zweite große Konzertsaal in München, die Tonhalle, zerbombt war, spielten die Münchner Philharmoniker ihre Konzerte in der Großen Aula der Universität. So ist dieser Saal ein doppeltes Symbol für den Frieden nach 1945: politisch für den Aufbau einer demokratischen Staatsordnung und kulturell für den Wiederbeginn des durch den Bombenkrieg radikal unterbrochenen Musiklebens.

Wer die Große Aula betritt, spürt, wie einen der Raum empfängt und umfängt; er wirkt menschenfreundlich, protzt nicht. Bei der Eröffnung 1911 rühmte man ausdrücklich seine „Harmonie“. Phoebus Apollo, hauptberuflich Chef der neun Musen, und Athene, die antiken Schutzgötter für Kunst und Wissenschaft, sind mehr als Jugendstilmosaiken auf Goldgrund. Sie können auch als Friedensbotschafter gesehen werden.

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