München, Cuvilliéstheater, DIE WILDENTE - Henrik Ibsen, IOCO

DIE WILDENTE: Ausgerechnet der versoffene Arzt Relling darf zumindest diese verschlagene und dreckige Wahrheit sagen, in der die Menschen sich einrichten: „Gebrauchen Sie doch nicht das Fremdwort Ideale. Wir haben ja das gute einheimische Wort Lügen.“ .....

München, Cuvilliéstheater, DIE WILDENTE - Henrik Ibsen, IOCO
Cuvilliés Theater München © Wikimedia Commons

Die Wildente - von Henrik Ibsen - aus dem Norwegischen von Peter Zadek und Gottfried Greiffenhagen

 von Hans-Günter Melchior

Das „einheimische Wort Lügen“

Ausgerechnet der versoffene Arzt Relling darf zumindest diese verschlagene und dreckige Wahrheit sagen, in der die Menschen sich einrichten: „Gebrauchen Sie doch nicht das Fremdwort Ideale. Wir haben ja das gute einheimische Wort Lügen.“

Wie modern das anmutet, wie zeitgeistig und längst bekannt, und wie notwendig ist deshalb so ein Stück wie die „Wildente“, die uns mit der Nase in den Dreck stößt, in dem wir uns einrichten, als lebten wir zumindest in erträglichen, gerechten, sozialidealen Verhältnissen.

Freilich bedarf es einer Umdeutung. Einer Transformation des Stücks in die Neuzeit.

DIIE WILDENTE - hier Anna Drexler, Simon Zagermann © Birgit Hupfeld

Ibsen hat uns – zumindest methodisch – vorzuführen versucht wie man glücklich sein könnte. Die Menschen sind bei ihm, wenn sie sich selbst belügen, und sie werden erst unglücklich, wenn sie die Wahrheit erfahren oder sich die Wahrheit eingestehen. (Unbestritten ist diese These nicht. Es gibt, dies nebenbei, auch Menschen, die erst glücklich werden, wenn sie sich von einer schweren, belastenden Lüge befreien…)

Man kann, ja man muss diese Weisheit heute aus der relativen Harmlosigkeit der Umstände, in die es Ibsen stellte, herausholen und ins grelle Licht der Umstände unserer Gegenwart stellen. Dann wird freilich etwas anderes daraus und aus der Lebenslüge, die Ibsen noch als eine Art soziale Therapie pries, wird eine infame gesellschaftliche Lüge, eine politische, ideologische Krankheit, die sich nicht zuletzt als soziale Gerechtigkeit tarnt und die Ungerechtigkeit verschleiert.

Nun ja, zugegeben – man muss die sozialen Implikationen, worauf uns das Stück heute stößt (ohne dass dies zum Zeitpunkt der Niederschrift offensichtlich in der Absicht des Autors lag), schon ein wenig ins Rampenlicht rücken.

Ist das erlaubt? Tut man dem Stück und seinem Autor ein Unrecht an, wenn man ihn, sein Stück, umdeutet, übersetzt und der Aufdeckung der Lüge, der sogenannten Lebenslüge das Wort redet? Ist es sogar erlaubt, das Stück umzudeuten, nämlich aus dem Stillschweigen, ja sogar aus der Lobpreisung der Lüge als sozial-therapeutisches Friedensangebot ein gesellschaftspolitisches Versagen zu machen?

Es ist erlaubt. Es ist notwendig. Und es ist nicht zuletzt das Verdienst des Stücks, dass es sukzessive die Protagonisten lächerlich macht. Oder leidet etwa das Kind Hedwig (berührend Naffie Janha) Tochter von Hjalmar Ekdal (Simon Zagermann) und Gina Ekdal (Anna Drexler) nicht weniger an seiner Abstammung als vielmehr an der Herzlosigkeit des Vaters, dessen brüske Ablehnung der Tochter nach Zweifeln an seiner Vaterschaft die bisherige „Liebe“ als reine Konvention zu entlarven scheint? Er ist ein einziger Versager.

DIE WILDENTE - hier Florian Jahr, Oliver Nägele (Ekdal), Naffie Janha (Hedwig), Simon Zagermann (Hjalmar Ekdal) © Birgit Hupfeld

Und ist etwa dem alten Vater Ekdal (Oliver Nägele), siehe Foto oben, der einer lächerlichen Illusion nachhängt, indem er zusammen mit dem mehr verlogenen als sich selbst belügenden Sohn Hjalmar auf dem Dachboden, wehrlose Hasen jagt und sich eine Wildente hält, mit der Darstellung als Narr etwa Ehre angetan? Man lacht, wenn der Alte im alten Militärhut herumirrt wie ein Gespenst. Ernst nimmt man ihn jedenfalls nicht, nicht einmal Mitleid verdient er. Überdies hat er uns nichts mehr zu sagen.

Und weiter: Sind denn nicht die einzigen Menschen, die der Wahrheit die Ehre geben und daraus zumindest finanzielle Konsequenzen ziehen, indem sie die notleidende Familie Ekdal unterstützen bzw. die Unterstützung befürworten (Sörby), also der Großhändler Werle (Oliver Stokowski) und seine künftige Frau Berta Sörby (Nicola Kirsch) noch die sozialsten Figuren, diejenigen, die objektiv Gutes tun? Sei es auch aus Reue. Oder aus Hoffnung auf Stillschweigen. Während der Schwurbler Gregers Werle (Florian Jahr), Werles Sohn, nichts als Sprechblasen ablässt, die nichts lösen und nur alles verwirren, indem sie einem verblasenen Gutmenschentum und der Moral das Wort reden?

Fest steht: Schützenswert ist das wahre Leben. Das soziale, immer noch zu oft notleidende Leben zumal. Das ist das wahre Glück. Es wird in der politischen Praxis, die es mit Wortbarrikaden und Ideologieschutzwällen verstellt, so verzerrt, dass es aussieht, als gebe es die – keineswegs beruhigende oder einschläfernde, sondern oft aggressive – Lüge nicht, nicht die Vorspiegelung der allgemeinen sozialen Gerechtigkeit. Als lebten wir alle in Saus und Braus und in der schönsten aller Welten, in der die ungeheure Anhäufung von Kapital und die daraus resultierende faktische, demokratisch nicht legitimierte Macht nichts als eine böswillige Behauptung von Leuten sei, die schon immer am Umsturz und der Revolution arbeiteten und nichts weiter als Rabauken und zwielichtige Aufrührer seien.

Wo die Lüge, die Lebenslüge zumal, als Therapeutikum für eine politische Krankheit benutzt wird, ist sie unmoralisch und alles andere als der Garant für Glück.

DIE WILDENTE - hier Oliver Stokowski, Nicola Kirsch (Frau Berta Sörby), Simon Zagemann © Birgit Hupfeld

Zugegeben: Das ist nicht das, was uns Ibsen eigentlich sagen wollte. Es ist eine Umdeutung des Stücks, eine Übersetzung ins Gegenteil am Maßstab der Gegenwart.

Ja, die Einwände, schon verstanden, nur ganz ruhig bleiben, nicht gleich aufregen. Wo es in diesen Bemerkungen um die Aufdeckung der Lüge geht, ging es Ibsen um deren sozial zweckhafte Verfestigung im vordergründig Familiären. Der Mensch brauche sich nur einzureden, er sei gut und tüchtig, fleißig und arbeite an einer besseren Welt oder zum Beispiel an einer epochemachenden Erfindung, die ihn als das Genie ausweise, schon lebe es sich einfach und konfliktlos. Während die Entlarvung der Illusionen als Lüge, als sorgsam gehütete „Lebenslüge“, ins Unglück führe, in den familiären Zwist und den Zweifel an der Wahrhaftigkeit zum Beispiel der Ehefrau, deren Kind Hedwig vom alten Werle stammt oder stammen könnte oder zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit dessen Tochter ist. Ach, Ibsen.

Und weil, wie der versoffene Arzt Relling (ganz hervorragend Max Mayer) sagt, die Wahrheit den „Durchschnittsmenschen um sein Glück“ bringe, d.h. wenn man seine Lebenslüge als solche entlarve. Ach, Relling.

Nun ist dieses Glück, das Ibsen meint, ein kleinbürgerliches, sehr begrenztes. Es ist das Alltagsglück. Wir Heutigen dürfen durchaus ein wenig weiter denken und dazu auch dieses Stück zum Anlass der Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen nehmen. Wir dürfen auch die Lebenslüge hinterfragen, entlarven und sie in der politischen Auseinandersetzung (zu der das Stück durchaus reizt) das nennen, was sie ist: eine gesellschaftliche Lüge, die sich als politisches idealisches Geschwafel tarnt, das Wohlergehen der Allgemeinheit vorschützt, wo es in Wahrheit um Geldgier und die Festigung und Ausweitung der Macht der wahren Herrscher (z.B. der märchenhaft reichen Industriellen in den USA und anderswo) geht. Sie bestimmen, was zu geschehen hat: nämlich die unbegrenzte, meist steuerfreie Anhäufung von Kapital. Und wenn man es so sieht, ist die Lebenslüge, das Stillhalten und Schweigen, alles andere als ein auf das familiäre Zusammenleben begrenztes soziales Sedativum, sie ist Ungerechtigkeit und Ausbeutung und weit mehr als eine Art Lüge, die ein ruhiges Leben verspricht.

Warum aber gibt es sie dennoch faktisch die Lebenslüge? Die zum Allgemeinen, ins sozial Anliegen gesteigerte Lüge? Das Unbehagen daran?

Es ist nicht zu leugnen, dass die offizielle Politik die allgemeine Ruhe als politisches Sedativum und als Friedenswillen verbrämt. Und besonders ein langes Schweigen der Arbeitskämpfer unter Verzicht auf gerechtere Löhne als sozialen Frieden feiert.

Ibsens Glücksversprechen (die Lebenslüge) verfängt hier nicht mehr.  So ist das vom Ensemble glänzend gespielte Stück nur noch ein Beispiel für ein zur Unglaubwürdigkeit verurteiltes Glücksversprechen.

Ach und Hedwig, die kleine, arme Hedwig. Sie ist in der Tat die tragische Figur des Geschehens. Denn in dem Kampf der Eltern oder der vermeintlichen Eltern um die „Ehre“, die gesellschaftliche Reputation des düpierten Vater, bleibt das Kind auf der Strecke.  Stattdessen versteigt sich Hjalmar zu der verlogenen und eitlen Versicherung, dass vom alten Werle erhaltene Geld zurückzuzahlen.

Ganz am Schluss öffnet sich im Hintergrund der Bühne eine Tür, aus der Hedwig mehr schwebt als geht. Nichts weiter mehr als eine verblasste Illusion vom gelingenden Leben.

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