München, Cuvilliés-Theater, GÖTZ VON BERLICHINGEN - nach J.W. von Goethe, IOCO Kritik, 01.04.2023
GÖTZ VON BERLICHINGEN - nach Johann Wolfgang Goethe
- Kabarett mit Tiefgang - von Alexander Eisenach -
von Hans-Günter Melchior
Man muss bei allem Ernst oft lachen. So leicht, witzig und pointiert kommt das vom Residenztheater inszenierte Stück über weite Passagen daher.
Es fängt schon mal damit an, dass ein Ritter sich lächerlich macht. Er versucht mit einem sperrigen Klappstuhl und in voller Rüstung durch eine viel zu kleine Tür auf die Bühne zu gelangen. Als er sich endlich durchzwängt und ihm der Helm heruntergefallen ist, entpuppt er sich als Frau. Sie verweist in einem kurzen Vortrag und gleichsam zur Einführung auf die Unzahl der Fehden („nicht Fäden“), die damals zwischen Adelshäusern das zersplitterte Deutschland aus den nichtigsten Anlässen beherrschten. Und auf das Grundproblem: die Freiheit.
„Jeder versucht seine Freiheit durchzusetzen, alle liegen darüber im unversöhnlichen Kampf, denn was des einen Freiheit, ist des anderen Einschränkung. So ist es und so war es. In Deutschland. Im Mittelalter.“
Also auch heute noch. Ein Grundproblem der Gesellschaft: die Freiheit. Gemeint ist die Freiheit der Unterprivilegierten. Auch und vor allem: die Freiheit als Befreiung. Von der Armut, von der sozialen Ungerechtigkeit.
Man ist also schon mal vorgewarnt. Der Vorhang geht auf und lenkt den Blick auf ein ungewöhnlich buntes, vielfältiges und vor Sinneneindrücken betörendes Bild. Der Digitalkünstler Oliver Rossol hat unter Einsatz eines KI-Bildgenerators „durch konkrete Stilvorgaben Fotografien mit der Verwendung von Stichwörtern verändert“ und abgewandelt. So entsteht aus dem Gesicht des Schauspielers Lukas Rüppel, der zunächst mit zeitgenössischer Physiognomie erscheint, die mittelalterliche Erscheinung des Götz von Berlichingen. Oder aus Vincent Glander wird der Bischof von Bamberg, verfremdet und filmisch so echt, als sei er aus der Jetztzeit zurückgetreten in die Vergangenheit. Das geschieht in wenigen Minuten. Freilich ist das Verfahren, so der Künstler, „limitiert“: es ist nicht möglich, das Bild zu erzeugen, „das ich vor meinem geistigen Auge sehe.“
Das sind zwei der fesselnden Sinneseindrücke, die auf den Zuschauer warten und ihn derart in den Bann ziehen, dass man zuweilen kaum noch weiß, wo man hinschauen und hinhören soll.
Es geht natürlich vor allem um Götz von Berlichingen. Wenn auch nicht oder nur ganz am Rande um denjenigen Götz, den Goethe im Auge haben mochte und zu kennen glaubte. Goethes Götz ist – notwendig, möchte man sagen – gegen jenen des Autors und Regisseurs Alexander Eisenach ein wahrer Waisenknabe. Denn Eisenachs Stück hat das Thema der Freiheit und in Sonderheit dasjenige der Freiheit in einer sozial ungerechten Gesellschaft zum zentralen Thema.
Der äußere Handlungsablauf ist dabei von eher untergeordneter Bedeutung. Der Ritter mit der eisernen Hand – er trägt so eine Art Manschette bis zum Ellenbogen – hat sich den Vertrauten des Bischofs von Bamberg (Vincent Glander), den wendigen und fast schon staatsmännisch auftretenden Adalbert von Weislingen gekapert / an sich gebunden (ob er gefangengenommen oder abgeworben wurde, ist m.E. nicht ganz klar geworden, auch nicht ob er „nur“ geistig abhängig ist, ansonsten frei: Weislingen: „Ich bin der Gefangene“; Götz: „Herrgott, wenn du willst, bist du frei,“), angeblich ein „freier Rittersmann“ (so Götz), der dem Bischof nicht mehr verpflichtet ist und nun so eine Art Ideologe ist.
Götz hingegen ist einer jener Ritter, die sich als frei begreifen. Freilich auf eine Art, die der Gesetzlosigkeit ähnelt. Im Grunde ist damit gemeint, dass Leute seines – durchaus problematischen – Schlages, also die Ritter, sich weder moralischen noch ideologischen noch gesetzlichen oder ordnungspolitischen Zwängen unterwerfen. Es gilt das sogenannte Faustrecht. Die Ritter dürfen so gut wie alles, was dem Lebensunterhalt dient. Also Kaufleute überfallen, ausrauben oder von ihnen Lösegeld verlangen, ohne dabei Skrupel zu haben. Götz selbst fühlt sich nur dem Kaiser verpflichtet, der als guter Mann geschildert wird und Recht und Gesetz einfordert. Freilich ohne es durchzusetzen. Denn was die Ritter auf der einen Seite, sind die privilegierten Adeligen auf der anderen Seite. Nach heutiger Anschauung Ausbeuter, die nur eines im Auge haben: die Mehrung ihrer Güter und damit ihrer Macht.
Und so geht es in diesem von Eisenach auch inszenierten Stück dem Götz und seiner Clique, der der v. Sickingen (Simon Zagermann), Götzens Schwester Maria, ein Burgfräulein Liebetraut (Hanna Scheibe), Adelheid von Walldorf (Myriam Schröder) und der Jurist Olearius (Nicola Krisch) angehören, im Grunde immer um die Frage, wo das Gesetz, irgendein Gesetz wohl, anfängt und wie es zu definieren ist. Dass der Weislingen wieder zum Bischof zurückkehrt, ist da zwar für Götz schmerzlich, hat aber auf den Lauf des Geschehens, auf die Entwicklung der sozialen Grundfrage, keinen entscheidenden Einfluss.
Im Hintergrund wirbeln freilich herrliche, bunte Bilder, Videos und übergroße, fast drohende Köpfe senken sich von hoch oben herab, eine Art Säulenruine dreht sich und ein Ensemble bestehend aus den hervorragenden Musikern Benedikt Brechtel und Sven Michelsen heizt die manchmal akustisch schwer verständlichen, flüchtigen Diskussionen der Protagonisten an. Das alles erzeugt eine Dichte, in der die oft flapsig dahingeworfenen, bald ins kabarettistisch Tiefsinnige, bald witzig-kalauernden und wie eher nur eingeflochten wirkenden Dialoge eine Atmosphäre von Tempo und Atemlosigkeit erzeugen. Als wolle der Autor bei allem Ernst des Themas letztlich doch nicht allzu ernst genommen werden. Viele Lacher.
Dabei wird im Grunde – immer vor vielfältig und fesselnd variierendem Bühnenbildgeschehen – doch heftig diskutiert. Manchmal sogar zotig und trivial, manchmal eben doch allzu kalauernd (s. die lange und uferlose Rede des Bischofs: „Sie wissen schon…sich einen hinter die Rüstung römern, sich die Rinne verzinken…“). Wenn ein hoher Ton angeschlagen wird, bewegt er sich, wie bei dem Juristen Olearius an der Grenze zum juristischen Gemeinplatz („Sie irren sich zu glauben, beim Recht ginge es um Gerechtigkeit. Beim Recht geht es um die Ordnung, es geht darum, das Chaos im Zaum zu halten, das uns droht, wenn die Ordnung kollabiert.“) Anmerkung: um was denn sonst. Denn die Gerechtigkeit wäre bereits das Chaos. Weil sie oft nur mit verbotenen Mitteln, etwa der Folter, erzwingbar wäre. Und weil sie die Diktatur der Gerechtigkeit über das Recht errichtete. Man will das Recht nicht um jeden Preis. Soweit sind wir immerhin. "Allein der Kaiser hingegen", behauptet Olearius, "wolle den Frieden, Recht und Gesetz."
Na ja.
Am Ende spitzt sich das gesellschaftliche Problem, das jetzt vollends Alexander Eisenachs Werk ist, auf die viel mehr als bei Goethe (bei ihm freilich auch) erörterte Frage zu, ob die Macht der Herrschenden und die damit die soziale Ungerechtigkeit nur mit Gewalt zu brechen ist. Weil alle anderen Mittel versagen. Im Mittelpunkt steht dabei das Postulat der Freiheit. Vor allem die Freiheit vom Elend, der Armut und sozialen Unterdrückung.
Eisenachs Befund ist pessimistisch. Er misstraut nicht nur der sich an ihre Güter und Privilegien klammernden der besitzenden Klasse, deren Lippenbekenntnisse für die Freiheit leicht als Lügen zu entlarven sind.
Der Autor misstraut aber auch selbst den Unterdrückten, die die Freiheit an läppische Scheinerrungenschaften verkaufen. Adelheid von Walldorf lässt er vorschlagen: „Wir geben ihnen eine kulturelle Identität und etwas, auf das sie herabschauen können. Ausländer, Veganer, Homosexuelle…, was weiß ich. Nur so halten wir sie davon ab, unsere Schlösser zu stürmen.“
Andererseits aber dieselbe adelige Dame an anderer Stelle: „Von mir aus schmeißt alles um, zerschlagt Unterdrückung und Aberglaube, entmachtet den Klerus und den Adel, aber zerstört nicht die emotionale Gemeinschaft, die jeder sozialen Ordnung zu Grunde liegt. Das Geflecht von menschlichen Beziehungen, das kein politisches System reproduzieren kann. Vielleicht sind wir allein, aber wenn es keinen Gott gibt, uns zu retten, keinen Kaiser, um uns zu beschützen, keinen Fürsten, der uns regiert und keinen Pfarrer, der uns behütet, können wir versuchen, aufeinander aufzupassen. Wir wissen, dass das möglich ist, weil wir es immer schon gemacht haben.“
Wie ist das zu verstehen? Als späte Einsicht? Als Quintessenz des Autors? Glaubwürdig ist es jedenfalls nicht. So wenig wie Liebetrauts, wohl auch nicht ernst gemeinte Vision: „Wir werden in ein neues, helles Zeitalter einbrechen. Eines der Klarsicht und der Unmittelbarkeit. Ein Zeitalter, in dem man skrupellose Intrigantinnen wie Sie, Adelheit, ausrotten wird.“
Selbst der sich dem Kampf, der Revolution überantwortende Götz ist am Ende resigniert und gibt auf: „Ich bin ein Aussätziger geworden. Könnt ich mit Ehren davonkommen.“ Wie frohlockend dagegen der verheuchelte Bischof: „Der Freiheitswunsch in diesem Land ist doch nicht mehr als ein Rülpser der Besitzstandswahrung.“
Und der neunmalkluge Olearius: „Eure sogenannte Revolution ist nichts als ein respektloser Gewaltausbruch gegen die Ordnung der Dinge…Ich schlage also vor, dss ihr euren kleinen niedlichen Aufstand hier wieder zusammenpackt, einmal schön sauber macht, einmal feucht durchwischt und nach Hause geht.“
Götz rettet sich am Ende in Allgemeinplätze. „Versöhnung und Liebe und Erlösung... Die Bäume knospen und alle Welt… hofft.“
Bei allen kleineren Schwächen im Literarischen ein großer, verdienstvoller Abend. An dem gesagt wird, was gesagt werden muss. Sind das die späten Tränen eines Alt-68ers? Wenn schon. Es sind auch diejenigen, der einmal Strafrichter war und weiß, wo gesellschaftliches Unrecht in Kriminalität umschlägt.
Und der neunmalkluge Olearius: „Eure sogenannte Revolution ist nichts als ein respektloser Gewaltausbruch gegen die Ordnung der Dinge…Ich schlage also vor, dass ihr euren kleinen niedlichen Aufstand hier wieder zusammenpackt, einmal schön sauber macht, einmal feucht durchwischt und nach Hause geht.“
Götz rettet sich am Ende in Allgemeinplätze. „Versöhnung und Liebe und Erlösung... Die Bäume knospen und alle Welt… hofft.“
Großer verdienter Beifall, vor allem der zahlreichen jungen Besucher im herrlichen Cuvilliés Theater