München, Bayerische Staatsoper, ORPHEA IN LOVE - Film in der Staatsoper, IOCO Kritik, 18.09.2022
ORPHEA IN LOVE - Film von Axel Ranisch
Antiker Mythos - doch adaptiert : Eurydike rettet Orpheus
von Hans-Günter Melchior
Sind Film und Musik, insbesondere Opernmusik, einander verschwistert? Axel Ranischs Film Orphea in Love bringt uns auf diesen Gedanken. Die Intimität der Kameraeinstellung, bald nahe, bald sich entfernend, interpretatorisch abschweifend aufs Symbolische oder das am Wegrand Liegende Erhellende, oft Übersehene, begleitet und beglaubigt das musikalische Drama mit Gänsehauteffekt. Arien aus Werken Puccinis, Verdis, Berlioz´ u.A. bis hin zu Wagners Tannhäuser und Pop werden zum Geschehen interpretatorisch aufgerufen, sind also nie dem Geschehen nur äußerlich.
Mit einem Satz: ein faszinierender Film ist da gelungen, gescheit und auf hohem Niveau unterhaltsam, ein filmisches Opernereignis, möglicherweise die Geburtsstunde eines neuen Formats für die Opernhäuser. Darüber hinaus spannend. Bevor man zum zweiten Mal Atem holte, war der Film bereits gelaufen.
Dabei ist der Inhalt keineswegs feuilletonistisch ins Übergescheite geschraubt, ist vielmehr eine etwas träumerisch übersteigerte moderne Alltagsgeschichte, die ihren Stoff der Mythologie entlehnt und zugleich ihr Verständnis aus dieser bezieht:
Nele, alias Orphea (Miriam Mesak) ist in einem Call Center beschäftigt, gestresst und ständig angetrieben von ihrer leistungsbesessenen Vorgesetzten. Im Grund ist sie aber fehl am Platze. Denn sie ist eine begnadete Sängerin mit einer Stimme zum "Steine erweichen".
Sie lernt zufällig den kleinen Taschendieb Kolya (Guido Badalamenti) kennen, der ihr die Geldbörse klaut. Aber als sie sich begegnen, verlieben sie sich ineinander. Er ist Tänzer („Turner“), der die begehrte Frau agil, schlangenhaft umschwärmt. Die beiden bewegen sich im U-Bahnhof Prinzregentenplatz in München, oft auch am Friedensengel.
Immer ist ihren Aktivitäten eine Opernarie zugeordnet, die den jeweiligen Sinnzusammenhang stiftet. Besonders eindrücklich und rührend freilich ist jene Szene im Münchner Prinzregententheater: eine Sängerin stockt mitten in der Arie und die Garderobenfrau Nele greift ein und singt die Arie der Butterfly „Un bel di vedremo“ unter dem tosenden Beifall des Hauses zu Ende.
Das Glück der beiden endet jäh, als Kolya von einem Auto überfahren wird und stirbt. Nele / Eurydike mutiert nun gewissermaßen und in Umkehrung der mythologischen Handlung zur Orphea (Orpheus) steigt in die Unterwelt hinab und holt den Geliebten ins Leben zurück, indem sie ihre Stimme verkauft…
Ein tragischer Verzicht selbst von den Zuschauern.
Das Komplexe in Kunst aufzulösen und damit auf eine höhere Ebene des Menschlichen zu heben, gelingt dem Film eindrucksvoll als ästhetisches Exempel. In der Musik beruhigt sich gleichsam das Schreckliche wie in einer anderen Welt. Es wird zum auferlegten Schicksal verallgemeinert.
Kein größerer Verlust freilich als der Verzicht auf die Kunst. Ein kluger Einfall.
Und ein wunderschöner Film. Nicht zuletzt freilich dank der überragenden – vor allem gesanglichen – Leistung von Miriam Mesak, die das gesamte Geschehen dominiert, stimmlich beherrscht. Faszination!
Nach dem umjubelten Ende des Films ruft Regisseur Axel Ranisch die beindruckende Menge der Mitwirkenden auf die Bühne. Dankbarer Beifall.
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