München, Bayerische Staatsoper, LES TROYENS - Hector Berlioz, IOCO Kritik, 23.05.2022
LES TROYENS - Hector Berlioz
- Der Auftrag der Schatten -
von Hans-Günter Melchior
Muss man den Mut und die Entschlossenheit der Intendanz der Bayerischen Staatsoper lobend hervorheben, ja bewundern, ein Riesenwerk wie Les Troyens mit dieser Opulenz in einer Zeit der Doppelkrise (Pandemie, Krieg in der Ukraine) auf die Bühne zu stellen? Man muss. Unbedingt.
Es ist der Trotz der Kultur, ihr Dennoch gegen die widrigen Umstände. Große Musik macht nicht Halt vor dem Niedrigen und den Mühsalen, sie überschwemmt sie mit dem Optimismus, der der Schönheit innewohnt, mag diese noch sehr oder gerade in die Depres-sion gesenkt sein, wo kein Halt zu sein scheint. Denn Schönheit ist Hoffnung. Mit der Aufführung des vielschichtigen Werks von Hector Berlioz ist der Oper ein großer Abend gelungen. Weit wird man sich umschauen müssen, um Vergleichbares zu erleben.
Bevor man in die inhaltlichen Einzelheiten geht – man kann sie im Rahmen einer Rezension ohnehin nur streifen – sind das brillante Bayerische Staatsorchester und sein großartiger Dirigent Daniele Rustioni her-vorzuheben. Für den Rezensenten die eigentlichen Stars des Abends. Sel-ten erlebt man eine innigere, in die emotionalen und thematischen Einzel-heiten der Musik gleichsam eindringende und sie entwickelnde Interpreta-tion einer großen Oper wie an diesem Abend. Es ging keine Note verloren, keine Stimmung verlor sich im Nebensächlichen, souverän beherrschte der noch junge Dirigent die Partitur, mehr noch: er verstand sie. Nur was man selbst schön findet, kann man letztlich schön darbieten. Darf man also begeistert sein? Man darf.
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Die Geschichte ist komplex. Vergil hat an der Aeneis, der Vorlage für das Libretto, eine ganzes Leben lang geschrieben. Die mehrfach gebrochenen Einzelheiten – bald treten die Personen als solche auf, bald ihre mahnenden Schatten, bald herrschen die Götter, bald sind sie nur Mahner, Einforderer der Pflichten, bald die Herrscher und Gestalter selbst – alle zu schildern, würde zur Wiederholung des Textes zwingen.
Stark vereinfacht lässt sich der in die Höhen und Tiefen des Menschlichen eindringende, sich an die Odyssee und die Ilias anlehnende Text wie folgt darstellen: Aeneas, im Libretto Enée, erhält nach der Zerstörung, dem Untergang Trojas durch die listenreichen Griechen (Das Pferd, groß steht die Schrift im Hintergrund der Bühne) vom Geist des im Kampf getöteten Hectors den Auftrag, ein neues Troja in Italien zu errichten. Cassandra, die von Anfang an misstrauisch war und das hölzerne Pferd für eine Finte der Griechen hielt, wählt den Freitod, nachdem die Griechen aus dem Pferd krochen und die Gegner niedermetzelten.
Enée rüstet eine Flotte aus und verlässt Troja. Nach langen Irrfahrten kommt er nach Karthago, wo die Königin Dido (Didon) herrscht. Dido, die ihrem verstorbenen Gatten eigentlich die ewige Treue halten will, verliebt sich, anfangs widersprechend und dann doch den Gefühlen nachgebend in Enée. Und dieser wieder die Liebe. Alles scheint auf Dauer und Glück eingestellt, zumal Trojas Helden den Karthagern gegen deren afrikanische Feinde erfolgreich beistehen.
Doch wieder fordern die Toten, beziehungsweise deren Schatten, die Erfüllung des Auftrags ein: nämlich ein neues Troja in Italien zu errichten. Enée entschließt sich schweren Herzens zur Abreise, Dido wählt aus Enttäuschung oder Trauer den Freitod. Sie empfindet Enées Entschluss als Verrat an ihrer Liebe.
Regisseur Christophe Honoré hat sich – teilweise – Spektakuläres einfallen lassen. Während das erste Bild (Bühne Katrin Lea Tag) noch den Erwartungen entspricht– kahle Mauern, rissige Steinplatten, im Hintergrund eine gerahmtes Foto von der aufgewühlten See –, ist Didos Reich als Ferienparadies ausgestattet, in dem nackte Männer sich lasziv sonnen oder – es laufen auch Videos – es miteinander treiben. Einige Buhs quittieren den Einfall.
Was solls. Man könnte jetzt tiefsinnige Kommentare über Freuds These vom Widerstreit zwischen Aggression und Todestrieb anstellen. Denn tatsächlich erscheinen auch Videos mit blutrünstigen Szenen, die die Verwandtschaft zwischen entfesselter Sexualität und Aggression nahelegen könnten. Letztlich bleibt aber der Eindruck von einer gefährdeten Idylle am Meer, die Enée aufgibt, weil er dem Auftrag der Schatten, also der ins Leben hineinwirkenden Toten, willfährt.
Das Sängerensemble brilliert. Viel umjubelt ist der Enée des Gregory Kunde. Man will ja nicht pingelig sein. Aber hatte er in der Höhe, fast unmerklich freilich, doch ein wenig Mühe? Die Zuhörer waren jedenfalls hingerissen.
Stark die Frauen: Marie-Nicole Lemieux als Cassandra / Schatten der Cassandra. Eindrucksvoll auch die Dido (Didon) der Ekaterina Semenchuk, eine Persönlichkeit mit starker Ausstrahlung. Um nur einige zu nennen. Insgesamt hinterließ das Ensemble, angefeuert vom Dirigenten, einen starken Eindruck, der mitriss und die Zeit vergessen ließ. Es waren ja immerhin nicht viel weniger als 4 Stunden.
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Nicht zu vergessen natürlich der mächtige Chor. Eine Stütze der Grand Opéra. Kommentierend, gleichsam objektiv die Handlung beobachtend in der Großszene. Ernst und mahnend zuweilen. Der Rolle entsprechend waren die Chormitglieder nicht als Mitagierende und Handlungspersonen gekleidet, sondern ins feierliche, ernste Schwarz gewandet. Wenn ihr Gesang anschwoll, ging es unter die Haute.
Und was bleibt, wenn man sich durch den improvisierten Nahverkehr Münchens nach Haus quält? Welche Musik wird man so schnell nicht los? Vor allem die vom 4. Akt. Was für eine reife, tief empfundene musikalische Ausgestaltung der Gefühle. Schöner kann man das, was zwei Menschen füreinander empfinden, nicht ausdrücken. Liegt man falsch, wenn man sich an das Liebesduett im 2. Akt von Tristan und Isolde erinnert fühlt? Dann müsste sich – vielleicht – Wagner, der Spätere, an Berlioz angelehnt haben. Und wenn schon…
Großer, stürmischer Beifall
Les Troyens an der Bayerischen Staatsoper; die weiteren Termine 26.5.; 29.5.; 6.7.; 10.7.2022; link HIER!
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