München, Bayerische Staatsoper, IL RITORNO - DAS JAHR DES MAGISCHEN DENKENS, IOCO Kritik, 13.05.2023
IL RITORNO / DAS JAHR DES MAGISCHEN DENKENS - Claudio Monteverdi und ....
„Das Leben ändert sich schnell“
von Hans-Günter Melchior
Die Kamera schwenkt in den Zuschauerraum und jemand aus dem Ensemble sagt, nach dem Tod eines Ehepartners könne man ja nochmal heiraten. Ein Video zeigt das Gesicht einer Zuschauerin, die kommentierend und offensichtlich spontan den Kopf schüttelt: nochmal heiraten? nee, wirklich nicht. Allgemeines Gelächter im Cuvilliés Theater.
Überhaupt schwappt der Text zuweilen, wie von der Spiellust aufgeheizt, über den Bühnenrand; die Schauspieler verlassen die Bühne und wandern durch den Zuschauerraum, setzen sich neben eine Besucherin oder einen Besucher, stehen wieder auf und reden vom Rand des Theaters wie persönlich Betroffene: den Text und in den Text hinein. Dies alles schafft Nähe, suggeriert: das, was hier gespielt wird, geht auch dich an und vielleicht bist du es sogar selbst, dessen Schicksal Gegenstand der Aufführung ist.
Oder es wird in der zum „Magischen Denken“ abwechselnd verlaufenden Oper Il Ritorno von Claudio Monteverdi von hinten gesungen, von oben, von den Rängen, wie ins Gewissen.
Ein höchst gelungener Einfall, der Theater zum persönlichen Erlebnis macht. Ein souveräner Regietrick, der die wie unverrückbaren Grenzen zwischen Zuschauer und Bühnengeschehen abbaut, ja einreißt, und Unmittelbarkeit schafft. Man ist dabei und persönlich gemeint. Kunst verliert den Ruch der Künstlichkeit und wird zum persönlichen Erlebnis. Sie, die Kunst, geschieht im Vollzug der Aufführung. Ganz neu ist das freilich nicht, aber selten wird es so konsequent und so einsichtig vollzogen.
Aber nun alles von vorne:
Dass wir alle sterben müssen, ist eine banale Erkenntnis. Aber wenn es soweit ist, ist es ein Drama von der Wucht einer antiken Tragödie. Und das Drama wiederum ist keineswegs selten für die Zurückbleibenden zunächst das Durchleiden einer Phase geistiger Orientierungslosigkeit und Realitätsferne (Verleugnen des Dramas), kurz: des magischen Denkens. Mit anderen Worten: die Vorstellung, der oder die Verstorbene lebe noch und bedürfe unverändert der Fürsorge und Zuwendung, wie eben zu Lebzeiten auch, ist Teil der noch nicht bewältigten Trauerarbeit. Danach aber, im Nachlassen der unmittelbaren psychischen Erschütterung, findet ein Hineinwachsen in eine neue Realität statt.
Für Außenstehende kann sich das höchst merkwürdig, sogar erheiternd ausnehmen. Wenn die hinterbliebene Ehefrau zum Beispiel an der Idee festhält, sie müsse die Schuhe des Verstorbenen aufbewahren, er könne ja wiederkommen und sie benötigen.
Regisseur Christopher Rüping ist es gelungen, ein Stück auf die Bühne zu bringen, das in einer inhaltlichen-opernhaften Verschränkung von Teilen der Odyssee (Rückkehr des Odysseus - Gesänge 13 bis 23) mit Passagen aus dem literarischen Leidensbericht über den plötzlichen Tod des Ehemannes der Schriftstellerin Joan Didion („Das Jahr magischen Denkens“) besteht.
Die Rückkehr des Odysseus nach Ithaka ist Gegenstand der Oper Il Ritorno von Claudio Monteverdi, interpretiert von dem hervorragenden Monteverdi Continuo Ensemble, Bayerisches Staatsorchester. Es gelang ihm perfekt, das Rokkoko - Cuvilliés Theater mit dem Zauber polyphoner Musik zu füllen. Dunkle, zuweilen düster geheimnisvolle Akkorde, die der Singstimme untergelegt sind. Man war klanglich vollkommen im Miterleben der Szene.
Die Aufführung ist Teil der Reihe Ja, Mai. Das Festival für frühes und zeitgenössisches Musiktheater in Zusammenarbeit der Bayerischen Staatsoper mit dem Residenztheater München. Ja mei –, das ist eine typische münchner Redewendung, die fast unübersetzbar ist. Im Grunde meint sie: so ist es eben oder was soll man machen, ist nicht zu ändern – oder so ähnlich.
Rüping hat sich souverän sowohl Monteverdis Musik wie Homers und Didions Literatur bedient und sich aufs Wesentliche beschränkt. Während im Buch naturgemäß nur die Autorin als alleinige Erzählerin auftritt und den Prozess der Verarbeitung des plötzlichen Todes ihre Ehemannes John Gregor Dunne höchst eindrucksvoll als persönliche Erschütterung behandelt, hat Rüping die Erzählung auf drei Personen übertragen: Sibylle Canonica, Wiebke Mollenhauer, Damian Rebgetz. Sie tragen stimmungsvoll in wechselnden Auftritten Texte aus Joan Didions Buch vor:
- „Das Leben änder sich schnell,
- Das Leben ändert sich in einem Augenblick,
- Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben,
- das man kennt, hört auf.
- Die Frage des Selbstmitleids.“
Es geschieht oder widerfährt der Autorin am 30. Dezember 2003, einem Dienstag. Sie sitzt mit ihrem Ehemann, Schriftsteller wie sie Schriftstellerin, beim Abendessen. Sie bereitet ihm ein zweites Glas Scotch, er verlangte danach wie einer, der sein Leben genießt. Dann geschieht, was sie erst nach und nach begreift.
„Meine Aufmerksamkeit galt dem Mischen des Salats. John redete, dann redete er nicht.“ - „Ich habe keine Ahnung, bei welchem Thema wir gerade waren, beim Scotch oder beim Ersten Weltkrieg, als er plötzlich aufhörte zu reden.“ - Und sie erinnert sich, dass sie, als er beharrlich schwieg, sagte: „Hör auf damit.“
Er schweigt, weil er nicht mehr reden kann. Er ist tot. Und sie kann es nicht glauben. Sie ist bei Sinnen, eine rational gesteuerte, kluge, analytisch begabte Frau, aber sie schafft den plötzlichen Übergang ihres Ehemannes vom banalen Leben zum Tod nicht. Sie glaubt, er habe sich verschluckt, klopft ihm auf den Rücken und so weiter, aber auf die naheliegende Möglichkeit, dass er einen plötzlichen Tod gestorben ist, kommt sie erstaunlich lange an diesem Abend nicht.
Und selbst als medizinisch kein Zweifel mehr an seinem Tod besteht, spürt sie seine Anwesenheit: „Ich musste allein sein, damit er zurückkommen konnte. So begann mein Jahr magischen Denkens.“ Und: „Ich konnte seine restlichen Schuhe nicht weggeben. Ich stand dort eine Weile, bevor ich begriff, warum: Er würde die Schuhe brauchen, wenn er zurückkam.“
Das Buch handelt zwar über lange Passagen vom Überlebenskampf der schwerkranken (Adoptiv)tochter Quintana, kommt aber immer wieder auf das kognitive Problem der Verarbeitung des Todes von John zurück.
Erst am Schluss, nach Ablauf eines Jahres, tritt die Autorin, jetzt freilich wohl eher psychisch als rational, in eine Phase – normaler – Distanz zum Tod des Ehemannes ein: „Mir wurde heute zum ersten Mal klar, dass meine Erinnerung an diesen heutigen Tag vor einem Jahr eine Erinnerung ist, die John nicht mit einbezieht.“
Und, auf Seite 250: „ Ich weiß auch, dass, wenn wir selbst leben wollen, irgendwann der Punkt kommt, an dem wir die Toten auslöschen müssen, sie gehen lassen, sie tot sein lassen müssen.Sie zum Foto auf dem Tisch werden lassen, Sie zu Namen auf dem Treuhandkonten werden lassen, Sie loslassen im Wasser…“
Unterbrochen, beziehungsweise im fast übergangslosen Wechsel (historisch) hinweisend aufs unvermeidbare Menschheitsdrama bestätigt, wird das reine Sprechtheatergeschehen bis in den Zuschauerraum, und in die Ränge hinein immer wieder von der Oper. Penelope wird von Freiern belagert, die ihr einreden wollen, Odysseus sei längst, nach 20-jähriger Abwesenheit, gestorben, jedenfalls komme er, sofern er noch lebe, nie wieder. Die Kulisse belebt sich durch bunte Installationen aus Pappornamentik, die einen Palast oder eine Festung imaginieren.
Es tritt Odysseus auf. Von Athene bis zur Unerkennbarkeit in einen alten Mann verwandelt, damit ihn keiner der Freier töte. Er nähert sich unerkannt Penelope, wird verlacht und verhöhnt. Erst als er als einziger den von ihm konstruierten Bogen, eine handwerklich schwierige Arbeit, bedienen kann, wird er als der zurückgekehrte Odysseus erkannt. Das Paar ist wieder glücklich vereint.
Audio Freature - Il Ritorno / Das Jahr des magischen Denkens youtube Bayerische Staatsoper [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Penelopes Konflikt ist – zumindest anfänglich – dem der Ehefrau Joan Didion im literarischen Zustandsbericht „Das Jahr magischen Denkens“ ähnlich. Sie muss nach der langjährigen Abwesenheit des Ehemannes Odysseus von dessen Tod ausgehen. Aber er ist – wie bei Joan Didion der verstorbene John – mental für sie immer noch anwesend, gegenwärtig, keinesfalls bereits in die Vergangenheit abgeschobene Figur ferner Erinnerung. Insofern hält sie, ähnlich wie Joan Didion, an einer Fiktion fest. Und insofern liegt eine Persönlichkeitsspaltung vor, weil rational-logische Einsicht und psychologische Verfassung (Imagination eines partiell wahnhaften Geschehens) auseinanderfallen.
Am Ende wird freilich nur bei Penelope und Odysseus alles gut. Sie sind wieder glücklich vereint.
Anders in der Parallelgeschichte. Man kann das als Schwäche, als Bruch im logischen Zusammenhang, der Aufführung sehen. Denn bei Didion lässt allenfalls nur der Schmerz langsam nach, weil naturgemäß die Erinnerungen schwächer werden. Der Verlust aber bleibt, ein glückliches Ende ist nicht möglich.
Entscheidend ist dies letztlich freilich nicht. Immerhin werden die drei, die die Erzählerin und Betroffene verkörpernden Personen, in einem Video weinend gezeigt. Ihr Teil ist das verbleibende, in der Zeit fortdauernde Tragische. Die Götter würfeln eben. Einhelliger Beifall des Publikums!