München, Bayerische Staatsoper, HAMLET - Oper von Brett Dean, IOCO Kritik, 30.06.2023
HAMLET - Oper von Brett Dean
- Ein gelungenes Wagnis -
Von Hans-Günter Melchior
Genaugenommen verbietet es sich, einer Oper den Text Hamlet zugrunde zu legen. Dann nämlich, wenn man sich dem literarischem Schwergewicht sprachlich und dem philosophisch verpflichtet fühlt und jeden Gedanken nachbuchstabiert.
Noch mehr freilich veranlasst es Literaturpuristen zum Protest, wenn der Text zwar grundsätzlich nicht verändert wird, jedoch einzelne Passagen in der Handlungsabfolge an Stellen eingeordnet werden, die vom Original abweichen, also im Stück selbst erst später von Bedeutung sind.
So ist es hier. Den hochberühmten Hamlet-Monolog „Sein oder Nicht-Sein…“ stellt der Librettist Matthew Jocelyn an den Anfang der Oper, und zwar auch noch bruchstückhaft das vollständige Zitat wird in Brett Deans Opernversion gleichsam nachgeliefert.
Und überhaupt: Ist es – jetzt noch einmal rein literarisch (beckmesserisch?) betrachtet– zulässig, diesen ebenso berühmten wie hochproblematischen und interpretationsbedürftigen Text zur Vorlage einer Oper zu machen, wo doch dort gewöhnlich über so manches – zugegeben: schön – hinweg gesungen wird? Weil nunmal in der Oper die Musik dominiert und dem Text eine eher „dienende“ Rolle zugewiesen ist?
Nicht ganz unwichtige Fragen, vor allem wenn man Gefahr läuft, einer musikalisch derart überzeugenden Oper wie dem Werk von Brett Dean damit Unrecht widerfahren zu lassen. Weil an diesem Werk Vieles neu ist, mit seinen durchaus ungewöhnlichen, aber gelungenen Besonderheiten, wie etwa dem rhythmischen Einsatz von Plastikflaschen und Steinen und der Aufteilung des Chors in zwei Gruppen. Wobei eine Gruppe sich irgendwo im Zuschauerraum befindet (oben?, was im Parkett vom Zuschauer nur sehr schwer zu sowohl visuell wie akustisch zu realisieren ist). Die Absicht ist klar: es soll ein Raumklang erzeugt werden.
In der Tat dominiert die Musik Deans in einer Weise, die den ebenso genialen wie tiefgründigen, in unzähligen Theaterproduktionen zum Teil völlig gegensätzlich ausgelegten Text zumindest in den Hintergrund drängt. Ein Hamlet-Abend im Sprechtheater ist üblicherweise gedankenschwer bis in die Träume hinein, die Interpretationsbreite ist nahezu unausschöpfbar, Hamlets Charakterbild „schwankt“ in der Tat „in der Geschichte“ (Schiller, Wallenstein) vielfältiger Verständnisbemühungen. Mal ist Hamlet der gedankenschwere Grübler und Zauderer, mal der hinterhältige und hinterlistige Intrigant und Staatsfeind, mal beides zugleich. Wer eine Hamlet-Aufführung besucht, muss sich intellektuell auf etwas gefasst machen. Gerüstet sein. Und nicht selten fällt er in ein interpretatorisches Loch, aus dem er bis zum Schluss und auch danach nicht herauskommt.
Aber das ist alles bekannt wie der Handlungsablauf des Stückes selbst. Neu ist, dass es einer Oper immerhin streckenweise gelingt, diesen Abgrund an Problematischem gleichsam mit musikalischen Mitteln zu füllen, ja musikalisch zu verdeutlichen. Und zwar nicht, indem sie über den sprachlichen Inhalt einfach hinweg spielt, diesen gleichsam nur als notwendiges Gerüst benutzt, sondern diesen durch die Dynamik, aufwühlende Tempi und zum Teil rohe, zum Teil raffinierte, flirrende Kleinteiligkeit (der wispernde Chor!) harmonische und melodische Besonderheiten interpretiert. So wird, was einerseits die Oper als Musiktheater dem hochproblematischen Text wegnimmt und einen Teil der Konzentration vom Inhalt abzieht, andererseits durch die Musik wieder an kunstvollem, sinnlicher Bewegung hinzugefügt. Es findet eine Verdichtung statt. Freilich zumindest und naturgemäß vorrangig auf der emotionalen Ebene, jedenfalls mehr als auf der intellektuellen. Weil eben Musik eine eigene Sprache ist, im bewussten Gegensatz zum Konstruktiven sich den Gefühlen verpflichtet sieht (Ausnahmen bestätigen die Regel), während Shakespeares Hamlet-Sprachstück zuweilen wie ein Beitrag zu einem philosophischen Seminar anmutet.
Noch einmal also und mit Nachdruck und damit kein falscher Eindruck entsteht: alles in allem handelt es sich um ein gelungenes Stück großen zeitgemäßen Musiktheaters. Herausragend unter den Versuchen zeitgenössischer Musik, die sich zu oft in dem Versuch erschöpft, die Moderne mit formalen und gedankenschweren Konstrukten in den Griff zu bekommen.
Hier ist es anders. Hier ist die Form nicht bereits der ganze Inhalt. Der Aspekt des Sinnenglücks wird erfolgreich im Kosmos unruhiger Fülle und Nervosität in den Blick genommen. Man befindet sich als Hörer mitten in der Musik.
Natürlich stellt diese Oper eine gewaltige musikalische Interpretationsaufgabe. Sie wird in der Person des mit dem Stoff eng vertrauten Chefdirigenten Vladimir Jurowski brillant gelöst. Ihm steht freilich im Bayerischen Staatsorchester ein fantastischer, allen Schwierigkeiten der Partitur gewachsener Klangkörper zur Seite. Man muss nicht unbedingt (wie der Verfasser dieser Zeilen) ein Fan dieses Orchesters sein, um über die Meisterschaft in der Bewältigung der enorm schwierigen Aufgabe, die diese Oper an die Musiker stellt, zu staunen. Die rein technischen Schwierigkeiten sind kaum aufzuzählen; Die Raffinesse der Klanggestaltung, die Klangfärbungen, die gedankenschnellen Einsätze, die ungewöhnlichen Stimmungswechsel, die Ausbrüche und die Momente der Stille, der vollkommenen Ruhe: wie ein Abwarten und Hineinhorchen ins Weitergehen des aufgebrochenen Gedankens (das Flirren, kleinteilig Unruhige, Unstete) Großartig. Wie dieses Orchester die Oper musikalisch verwirklichte, sucht seinesgleichen. Gibt es Einflüsse von Philip Glass?
Die Inszenierung von Neil Armfield protzt nicht mit extravaganten und auf bloße Wirkung bedachten Einfällen, die sich allzu oft in jüngsten Inszenierungen vordrängen: als käme es allein auf sie an. Sie ist Dienst an der Handlung. Ein königlicher Salon, in der die vom Hauptchor repräsentierten Mitglieder des Königshauses in historische Gewänder gekleidet (Kostüme Alice Babidge) vor links und rechts aufgestellten Wänden – und an Tischen – Platz fanden. Die hohen Wände, von Lichtreflexen manchmal verfremdet. Eine wesentliche Veränderung des Bühnenbildes (Bühne: Ralph Myers) wurde lediglich bei der Aufführung des von Hamlet inszenierten Theaterstücks, in dem er den Mord an seinem Vater darstellen lässt, vorgenommen. Die Bühne ist in ein düsteres Dunkelbraun getaucht, Unheil verkündend.
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Dies alles trug höchst verdienstvoll zur Konzentration auf Musik und Inhalt der Oper bei, verzichtete auf die üblichen Knalleffekte und spektakulären Einlagen.
Das Sängerensemble überzeugte wie die beiden, teilweise verteilten, Chöre (verantwortlich Rustam Samedow). Auch hier das Flirrende, kaum unterscheidbar mit der Instrumentalmusik Verbundene, Brechungen.
Unter dem Gesangsensemble ragte die Leistung von Allan Clayton einsam als Hamlet hervor. Eine schwierige Partie, kräftezehrend, emotional-schauspielerisch und gesanglich höchst anspruchsvoll. Sorgfältig unterstützt vom Dirigenten.
Ihm stand in der Ophelia der Caroline Wettergreen eine künstlerisch und gesanglich ebenbürtige Partnerin zur Seite. Berückend die „halb-tänzerische“ Einlage der bereits Toten im zweiten Akt. Eine Vision. Man fühlte sich bei allen thematischen Unterschieden in der Anlage der Figur an Salomé erinnert.
Überhaupt eine erstaunliche Leistung des gesamten Ensembles. Auch der Claudius von Rod Gilfry, die Gertrude von Sophie Koch, sowie der Polonius von Charles Workman, der Horatio von Jaques Imbrailo überzeugten. Besondere Erwähnung verdienen die schauspielerisch und gesanglich nicht einfach zu bewältigenden Leistungen des Geistes/des Totengräbers und Spielers von John Tomlinson und – natürlich – die nicht gerade kurzen Auftritte des Laertes, den Sean Panikkar gesanglich wie – schauspielerisch (die Fechtszene, im Kampf mit Hamlet) – verkörperte. Es sollten noch die psychologisch/schauspielerisch gelungenen Auftritte von Patrick Terry (Rosencrantz) und Christopher Lowrey (Guildenstern) hervorgehoben werden: schleicherisch, devot.
Uneingeschränkter Beifalls des Publikums.