München, Residenztheater, Medea - nach Euripides, IOCO Kritik, 26.02.2020
Medea - nach Euripides - aus dem Griechischen von Peter Krumme
"Mutter Medea" - Karin Henkels beeindruckende Interpretation eines psychologisch schwer zu verkraftenden Stoffes
von Hans-Günter Melchior
Viel ist schon über Medea geschrieben worden. Viel wurde gedeutet und ideologisch ausgebeutet, was Euripides (480 - 406 v.Chr.), einer der großen drei antiken Dramatiker neben Sophokles und Aischylos, sich wohl gedacht haben könnte, als er die Mörderin der eigenen Kinder zur Heldin seines Dramas erhob.
Ein bis heute faszinierender und zugleich psychologisch schwer zugänglicher Stoff. Christa Wolf hat einen Roman darüber geschrieben (Stimmen). Sie wurde im Westen von der Kritik gescholten. Es hieß, sie wolle den nicht emanzipierten, sich der Männerwelt anpassenden Westfrauen die Überlegenheit der selbständigen DDR-Frauen vorhalten. Ihre Medea, der in Korinth der Prozess gemacht wird, hält ihrer Zeit den Spiegel vor. Sie macht für die Leiden ihrer Zeit den ausbeuterischen Materialismus, das Festhalten an inhaltsleeren Hierarchien und den Fremdenhass verantwortlich.
Heiner Müller hat in seinem Stück Zement einen Medeakommentar eingebaut. Bei ihm ist die weibliche Hauptfigur Dascha freilich keine Kindsmörderin, sondern im Gegenteil eine Kämpferin gegen die Not und Zustände, denen Kinder durch Hunger und Verelendung zum Opfer fallen.
Nun kann man es sich als Regisseurin oder Regisseur relativ einfach machen, in dem man das Geschehen als Ränkespiel der Götter, die die Menschen nach Belieben wie Schachfiguren hin und her schieben, darstellt. Der Zuschauer „beruhigt“ sich bei der Vorstellung, alles sei nunmal Schicksal, unbeeinflussbar, die auf der Bühne agierenden Figuren seien nur Beispiele für das grundsätzliche menschliche Drama, befänden sich in der Hand überirdischer Mächte: in ebenso undurchschaubare wie abgründige Pläne verstrickt.
Die dem Stück zugrundeliegende Mythologie gäbe für eine solche Interpretation Anlass genug. Reichen doch die Ursprünge des Dramas letztlich bis zu den kosmologischen Absichten Heras, der Gattin des Zeus´, zurück, die sich – so der Mythos – in der Schuld Jasons wähnt und diesen bei Medea zum Erfolg führt, wobei sie eine spontane Liebe zu diesem Mann in Medeas Herz senkte. Man verlässt das Stück, das sich beim Mythos beruhigt, letztlich ohne Folgen. Es geht nicht unter die Haut.
So leicht macht es sich freilich die Regisseurin Karin Henkel weder sich noch den Zuschauern. Sie veranlasst die Zuschauer zu bedenken, wer sie sind: böse, voller Vernichtungswillen und unglücklich. Oder gibt es etwa in der Menschheitsgeschichte krisenfreie, nur glückliche Zeiten?
Henkels Medea ist eine widersprüchliche, tragische Figur, liebende Mutter und Mörderin ihrer Kinder zugleich. Eine Verzweifelte und Unglückliche. „Der Trieb ist stärker doch als meine Einsichten. Der ja die Ursache der größten Übel ist für Sterbliche.“ (Medea in der Übersetzung von Paul Dräger, Reclamausgabe 2011)
Nun ist die Medea des Euripides – zugegeben – selbst bei größtem Pessimismus gegenüber dem Menschengeschlecht eine schwer begreifliche und psychologisch wie moralisch nicht leicht annehmbare Figur. Und eine widersprüchliche zumal. Sie liebt die Kinder, die sie tötet. Weil ihr Ehemann Jason, dem sie in Kolchis, ihrer Heimat, das Goldene Vlies durch eine Raubtat verschafft und den Tod des Bruders dabei in Kauf nimmt, dessen Leichnam sie zerstückelt und die Körperteile ins Meer wirft, weil also eben dieser Jason, für den sie aus ihrer Sicht nahezu übermenschliche Opfer brachte, sie verlässt. Als die Gefahr vorbei ist und Medea ihre Schuldigkeit getan hat.
Dabei hat sie mit Jason zwei Söhne. Auf der Flucht aus Kolchis (das heutige Georgien; „Barbarenland“ für die kultivierten Griechen der Antike) gelangen die beiden zunächst nach Thessalien, der Heimat Jasons, wo Jason, im Besitz des Reichtum verheißenden Goldenen Vlieses (im Widderfell bleiben angeblich die Goldstücke aus dem Meer hängen), den versprochenen Königsthron von Pelias beansprucht. Als dieser sich weigerte, tötet ihn Medea. Sie flieht mit Jason und den beiden Kindern nach Korinth, das von dem König Kreon beherrscht wird. Dort wendet sich Jason, der „für die Ehe überreifen“ Königstocher Kreusa zu –, aus politischem Kalkül, wie er geltend macht, nämlich der Sicherheit und des Wohlergehens der Familie wegen.
König Kreon will Ruhe im Land haben. Er weist die kritische und unbequeme Medea aus seinem Königreich, weil er in ihr eine Gefahr für den inneren Frieden sieht. Medea erbittet einen Tag Aufschub, der ihr von Kreon gewährt wird.
Unterdessen rechnet sie mit ihrem Mann ab. Sie wirft ihm Verrat vor. Als sie jedoch einen Racheplan schmiedet, in den die offene Feindschaft mit Jason nicht passt, ändert sie zum Schein ihre Meinung. Listig spiegelt sie Jason vor, ihre anfänglichen Vorwürfe gegen ihn nehme sie zurück, die Festigung seiner und seiner Familie Stellung in Korinth durch eine Heirat mit Kreusa erscheine ihr im Nachhinein als eine überzeugendes Gebot der Vernunft. Zum Beweis ihres Sinneswandels schickt sie ihre beiden Söhne mit einem Hochzeitsgeschenk zu Kreusa. Es handelt sich dabei um ein prächtiges Gewand. Medea hat es freilich zu einem todbringenden Kleid präpariert. Als Kreusa es begeistert anzieht, verbrennt sie. Auch der König Kreon, der der Tochter zu Hilfe eilt, erleidet den Tod.
Anschließend erdolcht Medea ihre beiden minderjährigen Söhne. Sie begreift die abgründige Tat als Teil ihrer Rache an Jason. Er soll weder eine neue Frau noch Kinder aus der Verbindung mit Medea haben. Dabei ist für sie offenbar die Erwägung, durch die Tötung der geliebten Kinder sich am meisten selbst zu schädigen, nicht tathemmend.
(An diesen Umstand –, dies nur nebenbei –, schließen sich gewagte Theorien an. Medea erhält nämlich Besuch von dem auf der Durchreise befindlichen Aigeus, der seine Kinderlosigkeit beklagt. An seinem Beispiel soll Medea erst bewusst geworden sein, wie schwer ein Mann an der Kinderlosigkeit zu tragen hat. Jason soll es wie Aigeus ergehen)
Karin Henkel holt den Text von der göttlichen Höhe auf die Erde zurück. Es agieren normale Menschen, weder Halbgötter noch Götter. Ganz großartig gelungen bereits der Anfang. Die Kinder spielen auf der großen Bühne. Danach unterhalten sich die beiden Buben (Niklas Lorenzen und Moritz Reitenbach) im Kinderjargon mit der Amme (großartig komödiantisch Nicola Mastroberardino, der auch den etwas flatterhaften Aigeus schlaksig verkörpert), wie das am Anfang so war mit den Eltern. Die Mutter war total verliebt in den Vater, der Vater dann auch in die Mutter. Dann haben sie das goldene Vlies an sich gebracht und sind geflohen. Wie das eben so ist, bei den Erwachsenen, klauen und schnell abhauen.
Die Amme holt zum Beweis das Fell heraus und schüttelt den staubigen Lumpen, dass sie ständig niesen muss. Keine Spur von Mythos und unausweichlichem Schicksal. Vielmehr die Entmythologisierung des Mammons. Nicht mehr haben sie ergattert, die beiden Eltern, als ein stinkiges Fell, das, wie sich herausstellen wird, nur Unglück bringt. Die Buben begeben sich nach dem Gespräch mit der Amme auf eine kleine, in die eigentliche Bühne erhöht integrierte, Bühne und beschäftigen sich vor einem Gemälde oder Fresko mit antiken Darstellungen mit ihrem Spielzeug. Eine größere Kinderschar stellt sich danach auf der Bühne nebeneinander und führt knapp die Einführung in den Stoff weiter. Das alles ist sehr anrührend und lustig, besonders wenn sich das kleinste Mädchen mit einem Piepston einschaltet.
Das Drama entwickelt sich danach wie ein alltäglicher Streitfall. In der Folge postiert sich der Chor, bestehend aus lauter Kindern und Jugendlichen und ausschließlich aus Mädchen (Dominanz des Weiblichen?) im Zuschauerraum zu beiden Seiten auf und spricht zur Bühne hinauf. So erscheint rein von der örtlichen Anordnung her die ruhige, immer wieder die Vernunft und die Bedachtsamkeit anmahnende Rolle des Chors wie ein Zuruf aus dem Volk, hinauf zu den sich in Hass, Eifersucht und Mordlust verrennenden angeblich Großen, die ihr Geschick zum Weltschicksal erhöhen/aufbauschen. Ein sehr einleuchtender Gedanke.
Der Jason Aurel Mantheys agiert mit ruhiger, sich diplomatisch gebender und auf Ausgleich bedachter Argumentation. Insgeheim auf seinen Vorteil bedacht, die Sorge um Medea und die Kinder erscheint als Vorwand. Ein Politiker, der mit allen Wassern gewaschen ist. Der Typ des modernen Profitschacheres. Wobei er, das kommt erschwerend hinzu, der neuen Frau keinerlei Neigung entgegenbringt. Nicht die geringste Lust auf sie verspürt er: die Lust vergeht ihm, sagt er, wenn er sie nur anschaut.
Die Kreusa Fanziska Hackls gibt sich als lebenslustige, eben „zur Ehe überreife“ junge Frau, die sich wenig um die Sorgen und Gefühle Medeas kümmert. Keine Nachdenklichkeit trübt den Heiratswillen. Egoismus pur, Bedenkenlosigkeit. Während Michael Goldberg als Kreon eiskalt die Sorge um sein Königreich und den inneren Frieden im Land im Auge hat. Da ist für Mitleid oder Rücksichtnahme kein Platz.
Carolin Conrad ist indessen als Medea keine rachedurstige Megäre. Zuweilen wirkt sie nachdenklich und zögernd, keineswegs auftrumpfend und geifernd, eine liebende – und liebenswerte – Mutter und mehr dies, nämlich Mutter, als Rächerin. Sie streicht ihren Buben über die Köpfe und ihren Entschluss, die Kinder zu töten, muss sie sich aus dem Herzen reißen. Erst muss ich Rache an Jason üben, sagt sie sinngemäß, getrauert wird morgen. Man merkt ihr den Widerspruch an. Sie schadet sich mehr als dem Verräter Jason. Ein Frau, die jedoch außer sich ist, nicht mehr sie selbst. Vielleicht ist dies der einzige, die Zweifel beschwichtigende Zugang zu einer solchen Person.
Dass die Inszenierung diese Erwägung nahelegt, ist ihr Verdienst. Sollte sie freilich die Darstellung der Dominanz des Weiblichen im Auge gehabt haben, gar einen Protest gegen die Männerwelt, hätte es größeren Nachdrucks bedurft. Doch dies hätte den Eindruck von einer innerlich zerrissenen Frau, die in jeder Hinsicht psychologisch nachvollziehbare Ambivalenz ihrer Haltung beeinträchtigt.
Das elende Leben. Die ihrem Geschick ausgelieferten, ruhelos umherwandernden Personen waten in Gummistiefeln durch eine große Pfütze, die sich fast bis zum Bühnenrand erstreckt.
Was für eine Verarmung des Erdendaseins im Königshaus. Nässe. Nirgends ein Platz zum Ausruhen und zur freudigen Begegnung. Zuweilen gähnt im Hintergrund der Bühne eine Art unendlich langer, schwarzer Tunnel, an dessen Ende ein schwaches Licht flimmert. Ein eindrucksvoller fototechnischer Trick. In so einer Welt kann man sich nur verlieren: sich selbst und die anderen.
Getränkt mit Pessimismus ist dieses Stück. Die Inszenierung verheimlicht es nicht. Aber sie macht die wahren Schuldigen aus: die Menschen selbst. Die Frage nach der Heilung bleibt freilich offen. Wen wundert es? - Anhaltender und einhelliger Beifall
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