München, Münchner Kammerspiele, Drei Schwestern - Anton Tschechow, IOCO Kritik, 24.05.2019
Drei Schwestern - Susanne Kennedy, nach Anton Tschechow
Der Kreislauf des Immergleichen
von Hans-Günter Melchior
Susanne Kennedy hat etwas gegen nackte und ungeschützte Gesichter. Sie lässt ihre Schauspieler nicht nur Gesichtsmasken tragen, sondern stülpt ihnen Gummigesichter mit starrem Einheitsausdruck über den ganzen Kopf, bevor sie sich manieristisch gerieren und versuchen, die Welt abzubilden.
Das hat etwas von höherer Vernunft. Luigi Pirandello hat sich in seinem Roman Einer, keiner, hunderttausend darüber bereits Gedenken gemacht. Wir sind nicht die, die wir sind, sondern die, als die wir gesehen werden. So hat der Zuschauer eine Chance, sich in eine leere Maske hineinzudenken. Und es entsteht überdies eine geradezu gespenstische Atmosphäre, in der neun Gestalten, Männer und Frauen, unterscheidbar als Mann oder Frau an der Kleidung oder dem sich abzeichnenden Busen in abgezirkelten eher statischen Posen aufeinander einwirken.
Sie haben auch keine eigenen Stimmen. Diese werden ihnen von insgesamt 19 Schauspielerinnen und Schauspielern über unsichtbare Lautsprecher in den Mund gelegt: gleichsam verliehen.
Die Akteure sollen, so die Regisseurin in einem Interview, „ihr Gesicht wie eine Maske tragen. So, dass man nicht alles bebildert und zeigt.“ Sie nimmt sich Buster Keaton zum Vorbild, der spielt und zugleich nichts zeigt. Und für den Zuschauer sind die in der Maskenhaftigkeit erstarrten Mienen oder genauer: die Köpfe, eine Art, so Kennedy, „Projektionsfläche“. Ferner sind Assoziationen zur alemannischen Fastnacht und zur Tradition des Theaters, das schon immer mit Masken arbeitet, für die aus Baden-Württemberg stammende Susanne Kennedy naheliegend. Also ein ganzes Tableau von Überlegungen ist eröffnet. Gut so, im Sessel zurücklehnen kann man sich zu Hause.
Gespielt wird in einem umrahmten Rechteck, das gleichsam aus dem Bühnenkosmos herausgeschnitten ist. Eine wesentlich kleinere Welt in der großen. Pars pro toto. Dabei geht es durchaus ums große Ganze. Den ewigen Kreislauf des Lebens, ein ständiges Wiederholen im Neuen. Nietzsche ist Zeuge. Seine Schreckensvision: das Leben wie man es gerade lebt muss noch unzählige Male gelebt werden, gleichsam unerlöst und wie von einem Fluch beladen, öde und leer und unglücklich und immer auf die selbe Weise, so überdrüssig man auch des Abgelebten sein mag.
Konsequent wiederholen in Wortschleifen die Protagonisten Szene für Szene die gerade gesprochenen Worte, so dass das Geschehen auf der Stelle tritt. Wie die Schwestern im Stück. Der Diskurs ist von philosophischer Tiefe. Er reflektiert das ganze Elend des menschlichen Lebens, das im Grunde nicht vorankommt. Und er bildet eben die Situation der drei Schwestern exakt ab, indem er die Aussichtslosigkeit ihres Bestrebens, endlich der Provinz nach Moskau zu entfliehen, verdeutlicht.
Dazu gelingen der Regisseurin Bilder von bezwingender Kraft und foto-technischer Raffinesse. Pixelbilder, Verschwommenes, ein Fluss wälzt sich plötzlich vor der ausgeschnittenen Bühne – und immer wieder, stereotyp, die abrupten Wechsel ins völlige Dunkel, ja Schwarz, das von einem Stöhnen erfüllt ist. Da fasst einem „der Menschheit ganzer Jammer“ an. Irgendwas rührt den Brei des Elementaren um. Ein Glück, dass alsbald das Licht wieder angeht.
Dass bei allem so eine richtige Geschichte nicht zustande kommt, sei verziehen. Ist wohl auch nicht beabsichtigt. Es darf eben vor allem nachgedacht werden. Wo bin ich gerade? Welche Aussichtslosigkeit ist bildhaft angesonnen? Das ist mehr als genug. Den Verstand in Bewegung bringen –, wäre das nicht eine Aufgabe des Theaters?
Die Aufführung wirkt gerade infolge ihrer philosophischen Dimension und ihrer hochklassig künstlerischen Ausstattung mit Bildern dicht und erfreulich abwechslungsreich, ja spannend. Und sie strapaziert die fasziniert dem Geschehen folgenden und in erstaunlicher großer Zahl erschienenen Zuschauer keineswegs über die Maßen. In 1 ½ Stunden ist alles gesagt und keine Frage bleibt offen. Das Leben ist nicht anders als es ist. Das Rad dreht sich – und es dreht sich nunmal im Kreis. Die drei Schwestern bleiben, wo sie sind. Moskau, Moskau – und so weiter: ein Echo im Nichts.
Großer Beifall für die Akteure (die in ihrer Vielzahl namentlich aufzu-führen den Rahmen einer Rezension sprengen würde). Nietzsche und Kennedy sei Dank.
Drei Schwestern, Münchner Kammerspiele; die weiteren Termine 1.6.; 26.6.2019
---| IOCO Kritik Münchner Kammespiele |---