München, Münchner Kammerspiele, Dionysos Stadt - Christopher Rüping, IOCO Kritik, 16.10.2018
Dionysos Stadt - Christopher Rüping
10 Stunden Antike - Absturz ins Allzumenschliche
Von Hans-Günter Melchior
Wer hält heute abend durch?, fragt Nils Kahnwald im Prolog. Und wer hält überhaupt durch unter den Mühseligen und Beladenen im Zuschauerraum. Mal ehrlich, so die Frage an die Anwesenden, wer von Ihnen glaubt, in einem Jahr noch zu leben? Und wer in zehn Jahren? Und wer in 50? Schwache Meldungen. Statistisch sterben unter einer größeren Anzahl von Menschen zwei in einem Jahr, in zwei…, und so weiter.
Aber im Theater geht es um Jahrtausende. Dreitausend Jahre braucht Herakles, Prometheus zu befreien, hier gelten andere Dimensionen. Der Geist fliegt ins Weltall des Denkens. Wir aber, die Zuschauer, sind Sterbliche.
Und dann geht es los im Stück, das von
13.00 Uhr bis 23.00Uhr dauert am Samstag, während die Sonne scheint und die Stadt im gewohnten Optimismus badet. Extravagante Gestalten auf der Maximilianstraße, international, blasiert, naserümpfend am Theater vorbei…
10 Stunden sind lang. Und viel zu kurz für das Leben, das hier aufsteigt und fällt und wieder aufsteigt und ist, wie es ist: klein und groß und so richtig – ja: wörtlich – beschissen wie der an einen Felsen gekettete Prometheus vom Adler, und dann wieder in die Höhe geschleudert vom Pathos der Sieger und Überlebenden.
Dionysos Stadt - Der Abend ist aufgeteilt in vier Abschnitte:
– Prometheus, die Erfindung des Menschen– Troja, der erste Krieg– Orestie, Verfall einer Familie– Was hat das mit Dionysos zu tun?
Die beiden ersten Teile sind ganz großes Theater. Welttheater. Bewegend, ergreifend, anrührend. Man bebt ein wenig innerlich mit. Sprachlich auf höchstem Niveau.
1. Teil: Prometheus bringt den Menschen das Feuer
Sie werden gleichsam als freie Menschen geboren und vom Sklavenstand befreit (jedenfalls ist dies das im Stück angelegte Hoffnungsprojekt: erhabene Selbstermächtigung). Ermächtigt nämlich, sie selbst zu sein, frei: Unabhängige Forscher, Denker, Eroberer der Natur, befähigt zur Errichtung gesellschaftlicher Systeme, die Ordnung und Organisation verheißen. Und vor allem: in die Lage versetzt, sich von der Allmacht der Götter zu befreien.
Prometheus (Benjamin Radjaipour) verscherzt sich die Gunst der Götter (Zeus: Majd Feddah). Er wird an einen Felsen geschmiedet. Im Stück in einen Käfig gesperrt, der hochfährt und ihn der Erde entrückt. Ein Adler frisst seine täglich nachwachsende Leber und Milz, entleert sich über ihm, er muss sich vom Kot des Adlers ernähren. Schließlich wird er mit großer Mühe von Herakles befreit. Gegen seinen Willen in die existentiellen Zweifel menschlichen Daseins gestoßen.
Die „ersten Menschen“ werden also geschaffen (Nils Kahnwald und Wiebke Mollenhauer). Die wirklichen Menschen. In einer Jubelszene ohnegleichen lassen sich die beiden Schauspieler von der Bühne herab voller Vertrauen, eben in die Menschlichkeit der Menschen, in die ausgestreckten Arme des aufgestandenen Publikums fallen, das sie von der ersten bis zur letzten Reihe auf Händen weiterbefördert. Ein ergreifender Augenblick.
2. Teil: Der trojanische Krieg
Verwendet werden die literarische Vorlagen: die Ilias von Homer, die Troerinnen von Euripides in den Übersetzungen von Kurt Steinmann und Walter Jens, John von Düffel und Ernst Buschor.
Der Text darf als bekannt vorausgesetzt werden. Wunderbar herausgearbeitet wird in dieser Inszenierung der tiefe Fall der Menschen auf das Niveau ihres schlechten Menschseins: Grausamkeit, Blutrünstigkeit, Habgier, Rache, Ruhmsucht. Der unmenschliche Mensch verleugnet sich selbst, enttäuscht die Hoffnungen, die sich an seine Befreiung von den Göttern knüpften.
Ein großartiges Panorama historischen Verfalls. Geradezu bedeutend in der filigranen, äußerst fein- und tiefsinnigen Herausarbeitung der menschlichen Konflikte: der Streit der Frauen Helena (Maja Beckmann), Andromache (Gro Swantje Kohlhof) und Kassandra (Wiebke Mollenhauer) um Schuld und Sühne und um die Tötung des Kindes, das Andromache, die Witwe des von Achill (Wiebke Mollenhauer) getöteten trojanischen Helden Hector (Majd Feddah) auf dem Arm hält. Es geht um letzte Fragen menschlicher Moral; sie wird politisch-strategischem Kalkül geopfert. Das Kind wird von einem Felsen gestürzt, um einen möglichen künftigen Rächer zu beseitigen.
3. Teil: Die Orestie
wird – leider – ein wenig der Perfomance geopfert. Gags drängen sich zuweilen vor. Alltagssprache und Vordergründiges, Flapsiges und Kleinliches beherrschen den Tonfall. Allenfalls angelehnt sind die Texte an „Agamemnon“ und „Die Choephoren“ von Aischylos, an „Elektra“ von Sophokles, „Iphigenie in Aulis“, „Elektra“ und „Orestes“ von Euripides und „Thyestes“ von Seneca.
Misslaunig kommt Agamemnon (Peter Brombacher) nach Hause, behauptet, freilich, sich wohl zu fühlen. Isst wie ein „Scheunendrescher“ (so Klytaimnestra: Maja Beckmann), sieht sich um und versucht, nach 12-jähriger Abwesenheit in Kriegsangelegenheiten wieder Anschluss zu finden. Man weiß es: er wird nicht lange glücklich sein zu Hause. Aigisthos (Majd Feddah) und seine Geliebte Klytaimnestra machen ihm in der Badewanne den Garaus. Orestes (Nils Kahnwald) rächt den Vater –, Tatbegehung wie gehabt in der Badewanne. Foto.
Das Publikum darf auf die Bühne und zuschauen. Es gibt was zu trinken. Grad lustig ist es an diesem Samstag vor der dräuenden Wahl auf der noblen Maximilianstraße.
4 Teil: Nun ja – Eine Zutat zur Linderung des Schmerzes. Spiel im Spiel
Das Programmheft rechtfertigt diesen Teil mit der Erwägung, auch im antiken Griechenland habe dem tragischen Hauptteil einer Aufführung zur Auflockerung und Entspannung ein leichtes, unterhaltsames und meist lustiges Stück angehängt. Da sei gesoffen und mit deftigen Ausdrücken um sich geworfen worden. Eine vertretbare Ansicht.
Zunächst spielen die Protagonisten ein wenig Fußball auf zwei kleine Tore. Etwas zu lange, wenn auch engagiert. Dann trägt Nils Kahnwald einen Text vor, der in gekonnt hoher Sprache schwingt. Mit Dionysos hat er gar nichts zu tun. Jedenfalls bedarf es einer etwas zwanghaften Interpretation, um ihn in das bisherige Theatergeschehen einzuordnen.
Held ist das Fußballgenie Zinedine Zidane in der Textvorlage „La Mélancholie de Zidane“ von Jean-Philippe Toussaint, der sich literarisch schon verschiedene Male über Fußball ausließ.
Zidane wurde beim Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft am 9. Juli 2006 in Berlin zwischen Italien und Frankreich (Italien gewann im Elfmeterschießen nach der Verlängerung) vom Platz gestellt, weil er seinem Gegner einen Kopfstoß gegen die Brust oder den Magen versetzte.
Toussaint ordnet dieses Geschehen in einen melancholischen Weltzusammenhang ein: Zidane hat nicht mehr die Kraft und den Willen, die Niederlage abzuwehren, eine Wolke allgemeiner Vergeblichkeit senkt sich über sein Gemüt und lässt in verzagen.
Das Geschehen ist literarisch deutlich überhöht. Der Rezensent war bei dem Spiel in Berlin am 9. Juli 2006 im Stadion. Der Vorfall war ausgesprochen prosaischer Natur. Er ereignete sich abseits vom aktuellen Spielgeschehen, der Ball war woanders, es handelte sich nicht um eine Zweikampfszene. Zidane oder dessen Schwester – wie man später erfuhr – wurde von seinem Gegenspieler durch eine Beleidigung gereizt. Zunächst wussten nur wenige, was überhaupt geschehen war. Auch der Schiedsrichter musste sich beim Linienrichter erst informieren. Zidane verließ mit gesenktem Kopf den Platz. Aus der Sicht eines Fans vielleicht ein Drama…Was solls. Eine Auflockerung nach 9 Stunden. Mehr nicht.
Insgesamt ein denkwürdiger Abend, nein: ein Theatertag. Viel Beifall. Zu Recht
Dionysos Stadt an den Münchner Kammerspiele; die weiteren Vorstellungen: 24.11.; 25.11.; 29.12.; 30.12.2018; 5.1.2019; 6.1.2019
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