München, Bayerische Staatsoper, Lear - Aribert Reimann nach W. Shakespeare, IOCO Kritik, 05.06.2021
Lear - von Aribert Reimann nach William Shakespeare
Lears museales Elend
von H G Melchior
Also zunächst einmal singt es in einem selbst. Lange entbehrte man Oper schmerzlich und im Kopf schwirrt es und jubelt es und – na ja, man singt eben: „Dich teure Halle grüß´ ich wieder…“ aus Wagners Tannhäuser und ist glücklich vereint mit vielen anderen Glücklichen. Es ist jedenfalls für den Rezensenten – und offensichtlich für sehr viele Besucher – sogar ein wenig mehr, ein geradezu erhebendes Gefühl, in das sich Dankbarkeit mischt, die Oper wieder betreten zu können. Maskenbewehrt zwar, aber ohne Test und Impfnachweis. Für Stunden ist die Pandemie überwunden…
Lear von Aribert Reimann Youtube Trailer Bayerische Staatsoper [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Aber es ist hier von der Oper Lear von Aribert Reimann die Rede, wohlgemerkt: nicht von König Lear, denn nach dem Libretto ist das kein König mehr, sondern ein verelendeter Greis.
Christoph Marthaler hat das mit seiner Bühnenbildnerin Anna Viehbrock sehr ernst genommen und Lear zum Museumsdirektor degradiert, der kurzsichtig in seinem Naturhistorischen Museum an einer Vitrine mit Käfern herumhantiert, während in großen Vitrinen an der Seite das übrige Personal sich langsam aus der musealen Starre löst und in die Handlung eingreift.
Nachgebildet ist der Raum dem Naturhistorischen Museum in Basel. Christoph Marthaler meint in dem im Programmheft abgedruckten Interview, zu Lear befragt: „Er sammelt Insekten, tötet und klassifiziert sie und präpariert sie schließlich auch wieder… Es gibt also einen Kreislauf des Lebens, eine Wandlung zwischen Leben und Sterblichkeit.“
Etwas Totes, meint Marthaler, könne „sehr lebendig wirken und umgekehrt“.
Wirklich? Marthaler macht geltend, das habe jedenfalls für ihn sehr viel mit Lear zu tun. Gerne hätte man da etwas Genaueres gewusst. Zum Beispiel, warum das wirklich sehr viel mit Lear zu tun hat, aufgespießte Käfer zu besichtigen. Vielleicht meint er es so: Ein pathologisch Verwirrter, ein närrischer Schizophrener kann im Falle seines falschen Glücks vor Vitalität nur so sprühen, während ein Nachdenken versandender/versunkener Gelehrter dagegen tot wirk, auf fatale Weise leblos und vom Leben abgezogen.
Also gut. Nehmen wir es einmal als Denkansatz. So richtig überzeugend ist es – inszeniert – freilich nicht. Der nüchterne Museumsraum wirkt im Verlauf der Oper abgenutzt, verbraucht, öde und fast nutzlos. Er löst die Hoffnungen, die sich an den Anfang knüpfen, nicht ein. Ein langhaariger Museumsführer steht mit seinem Publikum vor den Vitrinen und gestikuliert erklärend – das war es im Grunde mit der Museumsidee. Ein wenig gewollt und viel Fantasie fordernd schleppt sich das Geschehen dann in diesem Raum, der von vier, schräg angelegten, großen Fensterflächen an der Decke beleuchtet wird, weiter. Auf bildnerisch und inszenatorisch verwirkliche Stimmungsschwankungen und Naturereignisse, Verzweiflungszenarien, Depressionen , psychische und materielle Verarmung, hell, dunkel, Sturm und Nachtfinsternis wird verzichtet. Stattdessen werden Holzkabinen, aus denen die handelnden Person zögernd hervortreten herumgeschoben: als sollte hilflose Bewegung, Fremdbestimmtheit u.ä. dargestellt werden. Oder was?
Kurzum: so richtig überzeugend ist diese Inszenierung nicht.
Dass aus der Aufführung dennoch ein roßer Abend wurde, lag vor allem am bewundernswerten Ensemble, dem beeindruckend souveränen Dirigenten Jukka-Pekka Saraste und der großartigen Orchesterleistung.
Die Partitur Aribert Reimanns ist nicht nur für die Handelnden, sondern auch für den Zuhörer eine intellektuelle Aufgabe und ein Genuss zugleich (der Rezensent war als junger Spund 1978 bereits in der Uraufführung 1978). Da wechseln Flächiges mit Hysterisch-Hochsteigendem, in Koloraturen Gipfelndes und Absteigendes mit lyrischen Passagen. Und kein einziges Ton Tonalität, hingegen Zwölftonreihen und Cluster, vor allem auch Rhythmisches und fast ins Psychotische sich steigernde Expressivität. Wobei das Orchester teils begleitet, teils kommentiert.
Laut ist es, es herrscht allgemein ein Gestus der ständigen Seelenzerrissenheit, teils der Anklage, teils der Verzweiflung, teils der Hoffnungslosigkeit. Das Werk ist in dieser Unbedingtheit und Expressivität exemplarisch, eine Ausdrucksform der Moderne schlechthin, die wenig Raum gibt für flächige Beruhigung und ein Ausruhen im Illusorischen.
Das alles ist schwer, unglaublich schwer zu bewältigen. Und das Ensemble samt Dirigent und Orchester hat es geschafft.
Freilich ist der Lear Christian Gerhahers selbst im tiefsten Elend ein noch in der Narretei reflektierender Herr, stimmlich zuweilen weicher als es dem Komponisten vorgeschwebt haben mag, jedenfalls kein tumber Narr im schizophrenen Formenkreis des Wahnsinns, sondern immer noch – jedenfalls, wenn er von Gerhaher verkörpert wird, – der ehemalige König, der eine gewisse Achtung einfordert, weniger Mitleid als Bedauern darüber, dass so einer abdankte. Das haben andere Regisseure durchaus verschieden gesehen. In den Kammerspielen wurde Lear (vor Corona), freilich als König Lear, eben als abgedankter Despot dargestellt, dem keiner eine Träne nachweinen muss, wenn ihm die Töchter Goneril und Regan Gerechtigkeit widerfahren lassen. Und auch bereits Bertolt Brecht ist mitleidlos mit dem sein Reich aufteilenden, eine Landkarte in einem Anfall von Willkür zerreißenden Lear umgegangen.
Bei Marthaler ist das – gemäßigte – Mitleid mit dem Alten wieder eingekehrt. Halb tot ist dieser Lear zwar nicht, von Sturm und Nacht ist ja auch weit und breit nichts zu sehen. Freilich meisterhaft verwirklicht in Stimme und Stimmung des großen Künstlers Gerhaher, dem man eben den Museumsdirektor eher abnimmt als einen den Urgewalten ausgelieferten Verstoßenen. An manchen Stellen schimmerte der wunderbar weichen, zum Lyrischen neigende Bariton durch – und es waren dankbar empfangene Eindrücke.
Sehr beeindruckend die Töchter: Angela Denoke als Goneril, Ausrine Stundyte als Regan und – besonders – die Cordelia der Hanna Elisabeth Müller. Nicht allein stimmlich, sondern auch schauspielerisch wurden die hoch anspruchsvollen Rollen bewältigt. Hervorzuheben im insgesamt perfekten Männerensemble der Edgar Andrew Watts´. Eine unglaublich schwierige Rolle als Countertenor.
Die Hervorhebung einiger Protagonisten heißt nicht, andere vernachlässigen zu wollen. Matthias Klink als Edmund, Georg Nigl als Closter, Brenden Gunnell als Kent, der Narr Graham Valetines –, sie alle waren den höchsten Ansprüchen, die eine solche Partitur an die Sänger stellt, gewachsen.
Vor allem dann aber das Orchester unter Jukka-Pekka Saraste. Begeisternd das Ausleuchten der Seelenabgründe. Das Stimmungzerfetzende, Expressive. Man musste sich einhören. Die anfängliche Distanz endete, je überzeugender Saraste das Orchester führte beim Zuhörer zum Mitvollzug der seelischen Tiefenzustände. Kann man mehr von einer musikalischen Aufführung verlangen? Der von dieser Musik zu einer Höchstleistung herausgeforderte Zuhörer war am Ende ein wenig erschöpft.
Kaum endender Beifall am Schluss. Das Publikum wollte nicht aufhören zu klatschen. Vorhänge. Dabei durften nur relativ wenige in diesem großen Haus erscheinen. Sie erzeugten einen Jubelsturm als wäre das Haus bis auf den letzten Platz besetzt. Wie schön wäre das gewesen.
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