München, Bayerische Staatsoper, Der Freischütz - über Herren und Knechte, IOCO Kritik, 20.02.2021
Der Freischütz - Carl Maria von Weber
- über Herren und Knechte -
von Hans-Günter Melchior
Kuno ist Unternehmer, Max sein Angestellter mit Aufstiegsambitionen. Agathe ist die Tochter des Unternehmers, unabhängig, modern; sie hat sich von den Vorstellungen des Vaters emanzipiert, liebt Max, will ihn heiraten, ohne auf etwaige andersweitige Vorstellungen des Vaters zu achten. Zumindest ist ihr egal, was er denkt. Eine vornehme Gesellschaft trifft sich in einem Salon. Von draußen drohen Wolkenkratzer durch die Fenster. Kellner, Damen in Abendkleidern, Getränke, erstaunlicherweise „nur“ Bier.
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Vorne, am offenen Fenster zu einer Fußgängerzone hin, steht auf einem Stativ ein Gewehr mit Zielfernrohr. Die Kamera schaut durch das Ziel-fernrohr, in der Fußgängerzone laufen Menschen hin und her, sie ist dicht bevölkert. Der Unternehmerboss Kuno befiehlt seinem Angestellten Max, einen Menschen in der Fußgängerzone zu erschießen: „Drück ab!“ Max kann das nicht. Ich kann nicht auf etwas schießen, das sich bewegt, sagt er. Er kann einfach keinen wildfremden Menschen ermorden. Dass die Szene nur gestellt ist und ein Mensch in Wahrheit nicht gefährdet ist, weiß er nicht. Er glaubt, einen unschuldigen Mitmenschen auf Befehl des Dienstherrn erschießen zu sollen. Einfach weil es ihm befohlen wird.
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Er verweigert den Befehl, zieht sich zurück. Er kann nicht, was von ihm verlangt wird. Ein anderer tritt ans Gewehr und schießt. Man sieht im Zielfernrohr, wie in der Fußgängerzone ein Mann tödlich getroffen zu Boden sinkt. Die Gäste brechen in Jubel aus. Eine heikle Szene. Eine kritische zumal. Der Firmenboss stellt seinen Angestellten auf die Probe. Ist dieser zur absoluten Loyalität bereit, selbst um den Preis, einen Mord zu begehen?
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Allzu weit hergeholt ist die kritische Szene nicht. In der jüngsten, noch andauernden Rechtsgeschichte könnte es Beispiele von Kadavergehorsam um des Wohls der Firma willen gegeben haben. Nicht gerade Morde stehen zur Debatte, wohl aber umfangreiche Betrügereien. Audi, VW, Abgasskandal – das sind die Stichworte. Die kleinen und mittleren Angestellten berufen sich jedenfalls hinsichtlich des Manipulierens der Messeinrichtungen auf Befehle von oben.
Man kann in die Anfangsszene eine massive Kapitalismuskritik hinein-sehen/denken. Dabei spielt es aus der Sicht des Untergebenen keine Rolle, dass der Unternehmer letztlich das Risiko scheut und die Szene gestellt ist. Eben weil er, Max, davon ausgeht, dass ihm wirklich ein Mord angesonnen wird. Darauf kommt es an. Auf die Zumutung. Das dahinterstehende Interesse der Firma, das absolut genommen wird. Übergeordnet – dem Gesetz, der Moral.
Der Knecht weigert sich. Und der Unternehmer ist hilflos. Hegels Bild vom Verhältnis des Herrn zum Knecht und des Knechtes zum Herrn wird aufgerufen. Der Herr ist nur insoweit Herr als der Knecht ihn als solchen anerkennt; s. Phänomenologie des Geistes. Soll man in der Szene einen Appell des Regisseurs an die Zuschauer sehen? Sich ein Beispiel nehmen? Wie auch immer: die Szene ist hilfreich und belehrend und eindrücklich. Sehr gelungen.
Das Schicksal nimmt in der Oper jedenfalls seinen üblichen und bekannten Lauf: die Wolfsschlucht, der schizophrene Kaspar, aus dem gleichzeitig der Ungeist Samiel spricht. Max bekommt Agathe nur zur Frau, so eben die romantische Geschichte, wenn er beim Probeschuss am nächsten Tag ins Schwarze trifft. Er bedient sich der schrägen Hilfe Kaspars/Samiels, verschafft sich eine sogenannte Freikugel, die den Erfolg garantieren soll.
Die Freikugel trifft dann – anscheinend – ausgerechnet Agathe, wie es der Zauber will. Sie sinkt jedenfalls zu Boden. Steht aber wieder auf und behauptet, der Schreck habe sie umgeworfen. Max erschießt Kaspar/Samiel – und alles hat seine – christlich-romantische – Ordnung. Max darf zwar Agathe nicht sofort heiraten, bekommt jedoch ein Jahr Wartezeit auf Bewährung; hält er diese durch, steht der Heirat nichts mehr im Wege. Das ist so ähnlich wie im Strafprozess. Nach Ablauf der Bewährungszeit wird die Strafe erlassen.
Man kennt die Oper und die Handlung. Der Regisseur hat sie erfolgreich in die Modernität übersetzt. Das Schwiemelige und Kitschig-Düstere getilgt. An manchen Stellen hapert es freilich ein wenig an der Logik. So zum Beispiel, wenn Ännchen, Freundin, Mentorin und Beschützerin Agathes sich von ihrem Schützling in einem über der Bühne angebrachten Text lossagt, später aber doch wieder beim Jubeln über das halbwegs glückliche Ende dabei ist.
Der Eremit, der den Kompromiss wie mit judizieller Vollmacht gleich-sam verordnet, ist bei Tcherniakov so eine Art Oberkellner. Jedenfalls kein Eremit. Aber was solls. In vornehmen Lokalen werden sowieso die Sittenkodizes von den Oberkellnern überwacht oder verordnet.
Die Aufführung ist jedenfalls hochinteressant und an manchen Stellen mitreißend. Und dankenswerterweise von der Staatsoper als Video-on-Demand kostenlos zu empfangen.
Danke, danke…Drei Sieger gibt es. Ganz oben auf dem Podest steht Carl Maria von Weber. Die Oper ist musikalisch ein Wurf, ein Geniestreich, der selbst einem Genie nur einmal im Leben gelingt. Bei dieser Musik ist schlechthin alles richtig. Sie schmiegt sich jeder Seelenregung, jeder Aufwallung der Gefühle, jedem äußeren Sturm der Natur vollendet an, reißt mit. Man ist als Hörer in dieser Musik, fast ohne Distanz (was ja der kritischen Betrachtung abträglich sein soll). Glück stellt sich ein. Man umarmt im Geiste den Komponisten.
An zweiter Stelle auf dem Siegerpodest steht die Agathe der Golda Schultz. Was für eine hinreißende Stimme! Schlechthin vollendet. Und der dritte Siegerplatz gebührt dem hervorragenden Orchester unter der sensiblen und gleichzeitig feurigen wie befeuernden Leitung des Dirigenten Antonello Manacorda. Da stimmte schlechthin alles, was Dramatik, Sensibilität und Feinheit der Nuancen angeht.
Das aber sind nur die Hervorhebungen. Der Kuno von Bálin Szabó, das Ännchen von Anna Prohaska und der kernige Kaspar des Kyle Ketelesen verdienen mehr als nur eine beiläufige Erwähnung. Das waren insgesamt hochgelungene Meisterleistungen. Und der Chor. Vollendet. Und und und…
Man könnte in Tränen ausbrechen. Keine Zuschauer. So einer Aufführung gebührt ein brechend volles Opernhaus – und mehrere Aufführungen. Wann findet das über uns hereingebrochene Unglück ein Ende? Wann finden die Regierenden einen Weg aus der Krise, deren sie bisher nur sehr unvollkommen Herr werden?
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