Mannheim, Rosengarten, 1. AKADEMIEKONZERT - I. Metzmacher, IOCO
Ingo Metzmacher wurde für seine außerordentlichen Verdienste vor Beginn des Konzerts zum Ehrenmitglied der Musikalischen Akademie Mannheim ernannt und eröffnete die 246. Spielzeit 2024 mit einem frenetisch gefeierten Konzert.
14.10.2024 - Musikalische Akademie Mannheim Spielzeit 2024/25 - 1. Akademiekonzert - Mannheimer Rosengarten - Ingo Metzmacher, Dirigent, Nationaltheater Orchester Mannheim
- Three Places in New England – Charles Ives (1874-1954)
I. The „St. Gaudens“ on Boston Common
II. Putnam‘s Camp
III. The Housatonic at Stockbridge
- Sinfonie Nr. 5 cis-Moll - Gustav Mahler (1860-1911)
I. Trauermarsch. In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt
II. Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz
III. Scherzo. Kräftig, nicht zu schnell
IV. Adagietto. Sehr langsam
V. Rondo-Finale. Allegro-Allegro giocoso
von Uschi Reifenberg
Musik, die unsere Seele berührt
Der weltweit gefragte Dirigent Ingo Metzmacher kommt immer wieder gern nach Mannheim. Zum einen schätzt er die Qualität des Nationaltheater Orchesters, zum anderen die Tatsache, dass die im Verein organisierten Orchestermusiker ihr Programm selbstbestimmt auswählen können.
Nun wurde Ingo Metzmacher für seine außerordentlichen Verdienste vor Beginn des Konzerts zum Ehrenmitglied der Musikalischen Akademie Mannheim ernannt und eröffnete die 246. Spielzeit 2024 mit einem frenetisch gefeierten Konzert.
Mit Mahlers populärer 5. Sinfonie und dem weniger bekannten Werk „Three Places in New England“ von Charles Ives standen sich zwei scheinbar gegensätzliche Kompositionen gegenüber, die allerdings mehr verbindet als man auf den ersten Blick vermutet: Der Österreicher Gustav Mahler, Spätromantiker und Wegbereiter der europäischen Moderne, daneben Charles Ives, amerikanischer Komponist und Zentralfigur der Neuen Musik seines Landes, vereinen Klangwelten des 19. und 20. Jahrhunderts und sind tief in der volkstümlichen Musik ihres jeweiligen Landes verwurzelt.
Folkloristisches wie Märsche, Ländler, Hymnen, Sakrales, Liedhaftes, stehen neben Erhabenem, transzendenter Sehnsucht, Weltabkehr. Collagen, Zitate, abrupte Wechsel, Überraschungsmomente kennzeichnen das Oeuvre beider Visionäre.
Herrscht bei Mahler Ironie und Groteske, porträtiert bisweilen Ives humorvoll die amerikanische Lebensart, Natur und Historie seines Landes.
Ives experimentierte als Pionier der musikalischen Avantgarde u.a. mit Polytonalität, Gleichzeitigkeit unterschiedlicher musikalischer Verläufe, Vierteltönen und Alltagsklängen bis hin zum organisierten Chaos und zur Atonalität. Schönberg äußerte sich über Ives: „Es lebt ein großer Mann in diesem Land - ein Komponist. Er hat das Problem gelöst wie man sein Selbst erhalten kann und dennoch lernen kann. Missachtung begegnet er mit Verachtung. Er ist nicht gezwungen, Lob oder Tadel hinzunehmen. Sein Name ist Ives“.
Singulär ist die Tatsache, dass Ives hauptberuflich nicht als Komponist tätig war. Er gründete nach seinem Kompositionsstudium die Versicherungsgesellschaft „Ives &Co“ und komponierte von nun an ausschließlich in seiner Freizeit. Um keine künstlerischen Kompromisse eingehen zu müssen, die ihm der Musikbetrieb wohl abverlangt hätte, arbeitete er tagsüber hart als Versicherungsmakler und konnte sich in Freiheit seinen revolutionären Kompositionen widmen.
Sein beachtliches Vermögen, das er sich erworben hatte, verwendete er, um Konzerte, Publikationen und die Kompositionsarbeiten seiner amerikanischen Kollegen zu finanzieren. Für die Aufführung seiner 3. Sinfonie erhielt er 1947 den Pulitzer Preis.
Das erste Stimmungsbild der „Three Places in New England", entstanden in den Jahren 1903-14 und ist ebenso autobiografisch gefärbt wie die beiden folgenden. „The St. Gaudens on Boston Common“ beschreibt eine Gedenktafel zu Ehren des Offiziers R.G.Shaw im Bostoner Park, der die ersten afroamerikanischen Truppen im US Bürgerkrieg in die Schlacht führte. Ein Denkmal für Freiheit und Gleichheit, das Charles Ives häufig besuchte.
Die sehr leise, zwielichtige Stimmung der zart intonierenden Streicher imaginiert das milchige Licht, welches vom Bronzerelief reflektiert wird.
Ingo Metzmacher animierte das Nationaltheater Orchester mit suggestiver Zeichengebung zu prägnantem, farbenreichem Spiel, koordinierte bestens und steuerte inspiriert durch die Klippen der komplexen Partitur mit ihren vertrackten Strukturen, Rhythmen und Schichtungen. Er beschwört zunächst grüblerisch die Reminiszenz an frühen Heldenmut mit ruhigem, irisierendem Klangteppich, aus dem einzelne Bläser hörbar werden, sich feine Klaviertöne dazumischen. Wenig greifbar bleibt die Textur, bis das Zeitmaß drängender wird, verschiedene melodische Einwürfe von Bürgerkriegsliedern Kontur annehmen. Von einem Bass- Ostinato gestützt. signalisieren Hornrufe eine militärische Marschrichtung und gipfeln in einem zupackenden Höhepunkt, der wie ein Schlachtenruf anmutet. Intensiv werden die ruhigen Linien weitergeführt, ein Cello mahnt dazwischen. Trügerische Ruhe senkt sich herab. Das Stück endet leise und unvermittelt.
Ganz besonders am Herzen liegt Ingo Metzmacher das 2. Stück von Ives: „Putnam‘s Camp“, das eine spezielle klangliche Welt eröffnet und ebenfalls ein historisches Ereignis thematisiert, das Ives als Programm in die Partitur schrieb.
Wieder wird eine Statue verherrlicht, die des General Putnam, ein wichtiger Repräsentant des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges. Geschildert wird der Traum eines kleinen Jungen, in dem sich Schlachtenlärm und Kinderlieder vermischen.
Der 4. Juli, amerikanischer Nationalfeiertag versammelt die Menschenmassen, mehrere Militärmärsche (marching Bands) und Songs prallen zusammen, es läuft „alles durcheinander“, das sprichwörtliche „geordnete Chaos“ zieht einen hinein ins bunte Treiben, entfesselt archaische Kräfte.
Es macht Spaß, sich diesem tumultuösen Geschehen, der Reizüberflutung auszuliefern, wenn Kirmesgeläut, Tanzmusik, Blasmusik, Märsche, zarte Walzermelodien aus allen Himmelsrichtungen und Lautstärken auf einen einstürmen. die MusikerInnen zeigen, was geht, das Schlagwerk spielt virtuos im Vordergrund und beendet das vergnügliche Spektakel.
In „The Housatonic at Stockbridge“ schildert Ives einen Sonntagmorgen Spaziergang mit seiner Braut entlang des Flusses Housatonic während der Flitterwochen: „Die Farben, das Rauschen des Wassers, die Ufer und die Ulmen waren etwas, das man sein ganzes Leben lang behalten wird“.
Ives fasst hier eine besonders glückliche Erinnerung in Töne, die mit einem ruhigen, nebelverhangenen Streicherteppich in impressionistischer Manier und rhythmischer Unschärfe beginnt, aus dem sich zunächst melodische Floskeln von Englischhorn und Posaune herausschälen. Gleichzeitige Verläufe kennzeichnen wieder das Stimmungsbild, Naturfarben werden assoziiert, intensive Violinen stimmen ein Klagelied an, Hörner melden sich von ferne herüber und erinnern an Kirchenglocken. Metzmacher lässt das Klang-Konglomerat gewaltig anschwellen und treibt die dissonanten Orchestermassen auf die Spitze. Als der fast undurchdringliche Tumult seinen Höhepunkt erreicht hat, bricht er unvermittelt ab.
Wo die schönen Trompeten und Hörner blasen
Bei Mahler wie bei Ives ist das Nebeneinander von Trivialem und Groteskem konstituierend, ebenso die Häufung der musikalischen Einfälle, das Disparate, schwer Verständliche. Mahler wollte „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen“. In jeder seiner 9 Sinfonien. Ein Totalitätsanspruch, der zur Überforderung neigt. Das Militärische, das den jungen Mahler seit seiner Kindheit ebenfalls prägte, ist häufig in seinen Werken zu finden.
Mindestens so berühmt wie das „Adagietto“ aus dieser Sinfonie ist das Trompetensolo zu Beginn des 1. Satzes, das einen Trauermarsch einleitet.
Der Solotrompeter Alexander Schuhwerk modifiziert virtuos den Klang von strahlend bis düster, antizipiert den schweren Gang. „Streng. Wie ein Kondukt“, überschreibt Mahler den Satz, der hier nie zu schwerfällig klingt.
Eher unvermeidlich voranschreitend, mit starken Akzenten, schön phrasierter, aufgehellter Streichermelodie; prozessorientiert, auf Kommendes verweisend. Auf das riesige Werk, dessen höchst verschiedenartige Sätze eine unvorhergesehene Entwicklung nehmen, vom Leichenzug zur reinen Daseinsfreude. Sie erschließen eine multipolare Welt voller Brüche, Abgründe, Widersprüche aber auch voller Hoffnung, Freude und Aufbruch. Mahler selbst urteilte „Die 5. ist ein verfluchtes Werk, niemand capiert sie.“ Er wird sie mehrfach umarbeiten, 1911, noch kurz vor seinem Tod, instrumentierte er die Partitur neu.
Erschütternd auffahrend beginnt der 2. Satz, zerfahrene Motivfetzen erzeugen höchste Erregtheit, von Metzmacher in klare Struktur gefasst, das langsame Trauermarsch-Tempo, das die Celli sehr weich intonieren, meldet sich zurück.
Eindringlich, transparent und strukturell äußerst klar legt Metzmacher das motivische Geflecht dieser zerklüfteten Partitur frei und führt überzeugend durch die Tiefen der Mahler‘schen Seelenwelt.
Immer wechseln sich drängende Abschnitte mit dem Trauermarsch ab, der hier aber seinen abgründigen Schrecken verloren hat. Mahnende Pauken- Schläge enden in einem leisen Wirbel, dazu gesellt sich eine klagende Melodie in den Celli. Erschütternd geraten die Ausbrüche, spannungsreiche Steigerungen münden in einen triumphalen Blechbläserchoral. Mit Schlagwerk, zarten Streichern und Harfenterzen verebbt der Satz sehr leise.
Das Scherzo ist ein verkapptes Hornkonzert, das der Solohornist Teodor Blagojevic, der sich neben dem Dirigenten positioniert, bravourös meistert mit variabler Tongebung und großer Gestaltungskraft. Schwungvoll und gut gelaunt wird Ländler- und Walzerstimmung im Dialog mit der Horngruppe angestimmt und maskiert sich vielgestaltig: mal grell, ernst, sarkastisch oder energisch, die Streicher schwelgen in Walzerseligkeit. Mitreißend die Kraft und Energie die der Dirigent freisetzt, das NTO läuft zu Hochform auf, ein Taumel voller Farben, scharfer Kontraste, polyphoner Ballungen.
Eine traumverlorene Gegenwelt eröffnet sich im viel geliebten 4. Satz, dem „Adagietto“, berühmt durch Lucchino Viscontis filmisches Meisterwerk „Tod in Venedig“ nach Thomas Manns Novelle. Hier herrscht Innerlichkeit und Zartheit, lyrische Versenkung, „tristanhafte Sehnsucht“.
Ein intimes persönliches Bekenntnis, eine Liebesbotschaft Gustav Mahlers an seine künftige Ehefrau Alma. Hier ist er „der Welt abhanden gekommen“. Unsentimental führt Metzmacher Streicher und Harfe zur innigen Zwiesprache. In die schwebenden, ätherischen Piano-Flächen tupft die Harfe kristalline Töne, die weichen Streicherlinien bewegen sich sehr leise in weitgeschwungenen ruhigen Bögen; das letzte Aufbäumen in den tiefen Streichern erzeugt intensive Momente.
Ein lang gehaltener Hornruf leitet über zum letzten Satz, der wie ein Befreiungsschlag wirkt und mitten hinein ins reale Leben führt, das mit affirmativer Aufbruchstimmung und Heiterkeit erfüllt ist.
Mahlers Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach, dem großen Kontrapunktiker, schlägt sich hier in vielfachen Fugati und detaillierter polyphoner Verarbeitungstechnik nieder, deren Strukturen in transparenter Klarheit herausgemeißelt werden. Kontrolliert führt Metzmacher den riesigen Orchesterapparat zu einem strahlenden Choral, die steten Steigerungswellen enden in einem glanzvollen Finale.
Langer Jubel und Begeisterung für Ingo Metzmacher und das Nationaltheater Orchester nach diesem fulminanten Einstieg in die neue Spielzeit.