Mannheim, Rosengarten, 2. AKADEMIEKONZERT – Roberto Rizzi Brignoli, IOCO

Die Violinistin Sarah Christian erfüllt mit ihrem bewegenden Spiel jede dieser Anforderungen mit Bravour. Ihr weicher, silberner Geigenton verbindet emotionale Tiefe mit technischer Makellosigkeit.

Mannheim, Rosengarten, 2. AKADEMIEKONZERT – Roberto Rizzi Brignoli, IOCO
Der Rosengarten von Mannheim, Spielstätte der Musikalischen Akademie © Ben van Skyhawk

von Uschi Reifenberg


Piotr Iljitsch Tschaikowsky (1814 - 1893)
Violinkonzert D-Dur op. 35

Dmitri Schostakowitsch (1906 - 1975)
Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47

GMD Roberto Rizzi Brignoli, Dirigent

Sarah Christian, Violine

Nationaltheater Orchester

 

Maskierte Botschaften

Im 2. Mannheimer Akademiekonzert versetzten GMD Roberto Rizzi Brignoli, die Geigensolistin und die Musiker des NTO mit zwei Gipfelwerken russischer Komponisten das Publikum in restlose Begeisterung.

Tschaikowskys Violinkonzert und Schostakowitschs 5. Sinfonie verbindet mehr als die Tiefe und Leidenschaftlichkeit der „russischen Seele“. Erhellend ist die enge Verflechtung von Leben und Werk sowie die tragischen Umstände der Entstehungsgeschichte beider Werke. Sie sind Bekenntnisse ihrer Schöpfer, die ihre Weltanschauung und ihre Persönlichkeit in der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Realität verbergen mussten und in ihren Kompositionen maskierte Botschaften und Unaussprechliches zum Ausdruck brachten. Dass Tschaikowskys Violinkonzert zu den beliebtesten und anspruchsvollsten Solokonzerten romantischer Literatur zählt, steht außer Frage. Die Tatsache, dass die Uraufführung 1881 kein rauschender Erfolg war und vom damaligen gefürchteten Kritikerpabst Eduard Hanslick mit diskriminierenden Worten bedacht wurde, lässt sich heute nur schwer nachvollziehen. Möglicherweise hielt Hanslick von der russischen Musik nicht allzu viel. Die spieltechnischen Schwierigkeiten des Violinkonzertes sind immens, der letzte Satz sprüht vor Temperament und Ausdruckskraft. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb lautete die gnadenlose Kritik: hier „… wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebleut“, oder „ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken hört“.

Tschaikowsky, der in der Musikwelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Repräsentant einer eigenständigen russischen Nationalmusik galt, ließ sich von solchen Verrissen nicht beeindrucken, er war zuversichtlich, dass sich der verdiente Erfolg des Konzertes bald einstellen würde. Er befand sich während und nach der Komposition des Solokonzerts in einer verhältnismäßig glücklichen Phase seines Lebens, dieser war jedoch eine tiefe Krise vorausgegangen, die fast im Selbstmord geendet hätte. Durch seine eigens erzwungene kurze Ehe mit einer Studienfreundin wollte der sensible Musiker aus Angst vor einem Skandal seine Homosexualität verbergen, die nicht in das politisch-ideologische Weltbild des Russlands der 1870 -er Jahre passte. Auch heute würde es dem Komponisten in seiner Heimat wohl nicht viel besser ergehen. Die Ehe fungierte als Katalysator, der verzweifelte Musiker flüchtete in die Schweiz, wo er in Genf mit der Komposition des Violinkonzertes begann. Seine neue Liebesbeziehung, der junge Geiger Iosif Kotek stand ihm zur Seite. Tschaikowsky erlebte eine Hochphase seines künstlerischen Schaffens und wagte, endlich frei von Zwängen, sich selbst und sein „Anderssein“ zu akzeptieren. Das Violinkonzert komponierte er innerhalb von 3 Monaten. Die Musik atmet Lebensfreude und Leichtigkeit, kündet aber auch von Seelennöten und innerer Zerrissenheit, die Tschaikowskys Widersprüche spiegeln. Der Solopart ist geprägt von großer Expressivität, stilistischer Vielfalt und höchstem technischen Anspruch. 

Die Violinistin Sarah Christian erfüllt mit ihrem bewegenden Spiel jede dieser Anforderungen mit Bravour. Ihr weicher, silberner Geigenton verbindet emotionale Tiefe mit technischer Makellosigkeit. Eher fragend, grüblerisch werden Spannungsbögen gestaltet, klingen nie vordergründig virtuos. Tänzerische Leichtigkeit kontrastiert mit zupackender Energie, jede Phrase wird formvollendet ausgestaltet. Die Geigerin brilliert in der Kadenz mit Arpeggien und Doppelgriffen, findet zu feinsten farblichen Schattierungen und klangvollen Flageolett-Tönen. Roberto Rizzi Brignoli führt das Orchester mit viel Sensibilität und findet zusammen mit der Solistin zu kammermusikalischer Transparenz. Sehr, sehr innig gelingt der Dialog der Klarinette mit der Solovioline im ersten Satz, in den ausgedehnten Zwischenspielen entfaltet das Orchester großes Pathos. Der 2. Satz, die „Canzonetta“ wird zur reflexiven Selbstbefragung. Das Thema mit seinem typisch russischen Tonfall erklingt mit tiefer Melancholie und Intimität, hier lässt Sarah Christian ihre Geige seufzen und melodienselig aufleuchten, von den noblen Holzbläsern weich ergänzt. Das Finale ist ein Parforce-Ritt par excellence, der vor Optimismus und Energie sprüht und in einem Feuerwerk von Läufen, Sprüngen und Arpeggien gipfelt. Die Geigerin zieht alle Register ihres Könnens, begeistert mit vielen Klangfarben. Schwungvoll und mit dramatischer Attitüde jagt der Satz in einem fulminanten accelerando seinem triumphalen Schluss entgegen. Die Violinistin dankte zusammen mit dem Cellisten Gabriel Faur mit einer hinreißend getupften Pizzicato-Zugabe von Sibelius. Beeindruckend!

Und Kunst geknebelt von der groben Macht

Auch Schostakowitschs 5. Sinfonie nimmt im Ranking seiner 15 Sinfonien einen der vordersten Plätze ein. Ein Werk, das als Reflex auf massive staatliche Repressionen entstanden ist und einen Wendepunkt im Leben und Schaffen des Komponisten darstellt. Der progressive Komponist im sozialistischen Realismus unter der Lupe Josef Stalins: ein komplexes und tragisches Kapitel und eine der spannendsten und ambivalentesten Künstler-Biografien des 20. Jahrhunderts. Schostakowitsch war mit 30 Jahren auf dem besten Weg zum russischen Vorzeigekomponisten, seine Werke wurden überall gespielt - er hatte vier Sinfonien, Filmmusiken, Ballette, Solokonzerte und zwei Opern geschrieben, die sich allesamt großer Beliebtheit erfreuten. Hätte der autokratische Machthaber Stalin 1936 nicht eine Vorstellung der Oper „Die Lady Macbeth von Mzensk“ besucht, wäre Schostakowitschs Entwicklung vielleicht anders verlaufen. Stalin missfiel die Oper, in der eine gedemütigte Frau zur Mörderin wird, „Sex and Crime“ im Zentrum stehen und ein Beischlaf mit drastischen musikalischen Mitteln gestaltet wird. Das passte nicht in die Ideologie der KPdSU. Es gab ein vernichtendes Urteil in der „Prawda“: „Chaos statt Musik, … Geschrei und Missklang, …  kakophonische und pornografische Beleidigung des russischen Volkes, roh, primitiv und vulgär“ sei die Musik. Die Oper wurde verboten. Fortan war Schostakowitsch im Fokus des stalinistischen Machtapparates und musste sprichwörtlich um sein Leben und das seiner Familie fürchten. Er schlief in Kleidern, den Koffer neben dem Bett, jederzeit mit einer Verhaftung durch den Geheimdienst rechnend. Der geschundene Mann stand kurz vor dem Suizid. Es begann für die nächsten Jahre ein Balanceakt zwischen vordergründiger Anpassung und verdeckter Rebellion, Zugeständnissen und der Wahrhaftigkeit verpflichteter Kompositionen, ein Leben in ständiger Todesangst. Die Uraufführung der 5. Sinfonie war ein großer Publikumserfolg. Schostakowitsch komponierte das Werk mit „doppeltem Boden“, das offizielle Programm sollte „Das Werden einer (sozialistischen) Persönlichkeit“ sein. Ironie, Groteske, Verweise, Subtexte, Zitate sind die kompositorischen Mittel, mit denen der Komponist das Werk durchsetzt und seine oppositionelle Haltung zum Ausdruck bringt. In der Summe ist das Werk ein Bekenntnis universeller menschlicher Erfahrungen und Empfindungen. Jeder der vier Sätze beschreibt eine eigene Welt. Das russische Regime interpretierte die Sinfonie als eine Art „Kniefall“ vor den Machthabern, das Finale des letzten Satzes wurde gar als „Huldigungsmarsch“ empfunden. Stalin und seine Genossen wollten oder konnten die Camouflage nicht erkennen.

Roberto Rizzi Brignoli, Dirigent © Christian Kleiner

Roberto Rizzi Brignoli und das brillante Orchester legten die polyvalenten Strukturen der 50-minütigen Sinfonie frei und führten in Klangwelten voll abgrundtiefer Trauer, derben volkstümlichen Tanzsätzen, romantischer Innerlichkeit und pseudo-heroischer Verherrlichung. Das Nationaltheater Orchester bewies einmal mehr seine hohe Qualität, an diesem Abend schien es unter seinem GMD Rizzi Brignoli über sich selbst hinauszuwachsen. Die Musiker boten eine kompromiss- und schonungslose Lesart, beleuchteten die reichen Facetten der Komposition und machten den vieldeutigen Subtext hörbar. Mit suggestiver Zeichen- und Körpersprache und vitalem Zugriff formte der Dirigent die rhythmisch-scharfen Sexten zu Beginn des 1. Satzes, die kantig aufbegehrend dem Satz sein Gepräge geben. Elegisch, resignativ erklingt das Hauptthema als Klagegesang in den Streichern, die an diesem Abend eine hinreißende klangliche Bandbreite zeigten: gleißende Brillanz, weiche Linien, ruppig derbe Einwürfe. Sprechende Holzbläser ließen die Tragik hinter den melodisch-absteigenden Linien spürbar werden, ebenso die Streicher, die das Seitenthema mit Wärme und großer Intensität darboten. Die Solo-Flöte intonierte weit ausschwingende Melodielinien, die verhaltene Klage verebbte in großer Ruhe, bis das Klavier plötzlich mit akzentuierten Motiven als Motor fungiert, von den Hörnern und Trompeten unsanft flankiert. Der Dirigent peitschte die Musiker mit suggestiver Attitüde voran, in einer von voluminösen Blechbläsern gestützten Steigerung zu einem tumultartigen, ironisch gebrochenen Höhepunkt, in dem sich Trommel, Pauken und Tuba kirmesartig in den Vordergrund drängen, eine grotesk anmutende Szene. Metallisch geschärft, dissonanzreich, bäumt sich der Klang unter Rizzi Brignoli auf, der in sprechende Unisono Stellen übergeht. Der filigrane Dialog von Solo-Flöte und Horn führt eine Idylle vor, zu dem sich Glockenspiel und Klarinette gesellen, immer mit klagendem Gestus, sehr leise endend. Anrührend die Solovioline über tiefen Streichern, ein Sinnbild für Einsamkeit und Trauer, sehr sensibel musiziert. Mit silbern hingetupften Celesta-Tönen endet der Satz.

Der 2. Satz ist ein skurriler Scherzo-Satz mit Ländler - und Walzer-Anklängen in Mahlerscher Manier, mit sarkastischen Zwischentönen. Die tiefen Streicher beginnen mit einem energischen, fast derben Thema, auf das die Hörner gleich eine wichtige Antwort haben. Die Staccato-Themen der hervorragenden Holzbläser werden mit artikulatorischer Akkuratesse vorgeführt, besonders die Fagotte treten hier in den Fokus mit witzig markierten Motiven. Fast meint man, den Komponisten sich ins Fäustchen lachen zu hören, wenn die tänzerische Leichtigkeit plötzlich ins Marschartige abdriftet. Rizzi Brignoli kreiert einen transparenten Klang und arbeitet die Instrumentengruppen plastisch heraus, wirkungsvoll die deutliche Akzentuierung. Deutlich spürt man seine Freude am tänzerischen Schwung und an der feinsinnigen, humorvollen Überzeichnung. Sowohl feinste Details als auch den großen Zusammenhang hat der Dirigent jeden Moment im Griff. 

Der dritte Satz, ein von Seelentiefe geprägtes Largo, wird nur von vielfach geteilten Streichern und Holzbläsern gestaltet und vereint kammermusikalische Qualität mit großer klanglicher Dichte. Der Dirigent spannt die Endlosbögen der aufblühenden Streicher ausdrucksstark und mit dosiertem Pathos. Frei atmende Linien in schwebender Tonalität, von Weltschmerz durchdrungen, erlauben vieldeutige Assoziationen.  Erschütterung stellt sich ein beim Flötensolo, das von zart tupfenden Harfen begleitet wird. Eindringlich düster das Oboen-Solo über hauchzarten Streichertremoli, man hält den Atem an, wenn es der Musik fast die Sprache verschlägt, sie sich ganz ins Innere zurückzieht. Zum erschütternden Höhepunkt in ungewohnten Klangkombinationen vereinen sich Klarinette, Xylophon und Klavier mit hochexpressiven Streichern und Holzbläsern. Einen fast schmerzlichen Kontrast bildet der letzte Satz, der wuchtig einfällt und mit Paukenschlägen in Zarathustra Manier und selbstgefälligem Unisono Posaunenthema die vorangegangene Innerlichkeit hinwegfegt und ganz auf Außendarstellung setzt. Als „die optimistische Auflösung der tragischen Spannungen des Kopfsatzes“ wollte Schostakowitsch den letzten Satz doppeldeutig verstanden wissen, der D-Dur Taumel im Finale lässt tiefer blicken. Das Orchester changiert gekonnt zwischen Derbheit und zarter Klanggebung. Später konstatiert der Komponist: „Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen“

Rizzi Brignoli lässt das Blech und die Streicher schrill aufspielen, kostet die Dissonanzen wirksam aus, baut großartig den Klang bis zur maximalen Lautstärke, der massenwirksam bis zum Pseudo-Jubelfinale temporeich gesteigert wird. Das vielfach wiederholte A am Ende, gerät zum zwanghaften Ostinato, die große Trommel zum Schluss gibt dem Militärmarsch den letzten affirmativen Schliff.

Überwältigend!

Der finale Jubel setzte sich im Publikum fort, begeistert gefeiert wurden Solistin, Dirigent und Orchester.