Mannheim, OPAL, Oper am Luisenpark, LA TRAVIATA – Giuseppe Verdi, IOCO

Seunghee Kho ist eine stimmlich und darstellerisch überragende Violetta, die mit ihrem Debüt ein psychologisch detailscharfes Rollenprofil der „vom Weg abgekommenen“ zeichnet und die Entwicklung dieser Figur glaubhaft durchlebt.

Mannheim, OPAL, Oper am Luisenpark, LA TRAVIATA – Giuseppe Verdi, IOCO
OPAL-Oper am Luisenpark © Uschi Reifenberg

von Uschi Reifenberg

La Traviata
Melodramma in drei Akten von Giuseppe Verdi (1813-1901)
Libretto von Francesco Maria Piave

Premiere am 9.11.2024

Liebe über den Tod hinaus

Die erste Premiere in der neuen Spielstätte des NTM, der OPAL (Oper am Luisenpark) wurde mit Verdis La Traviata zu einem grandiosen Erfolg, was sich nicht nur mit der Beliebtheit des Stückes erklären lässt. La Traviata zählt zu den populärsten Opern überhaupt und funktioniert immer als Publikumsmagnet. Auch das Nationaltheater Mannheim kann sich nun mit einer szenisch und musikalisch gelungenen Traviata hören und sehen lassen. Die Regisseurin Luise Kautz machte bereits 2021 in Mannheim mit einer aufsehenerregenden Deutung von Tristan und Isolde Furore, nun zeigten sie und ihr Team auf einfühlsame Weise den Liebes - Leidens- und Irrweg der todgeweihten Lebedame Violetta Valéry in ästhetisch opulenten und zeitgemäßen Bildern sowie einer psychologisch differenzierten Personenführung. Der Roman von Alexandre Dumas (der Jüngere) Die Kameliendame (La Dame aux camélias) aus dem Jahre 1848, ist autobiografisch inspiriert und erzählt die Geschichte der Kurtisane Marie Duplessis, die sich in einen jungen Aristokraten verliebt, ihr hedonistisches Leben aufgeben möchte, aber vom Vater des Geliebten zum Verzicht gezwungen wird. Sie stirbt kurze Zeit später mit 23 Jahren an Tuberkulose. Verdi war mit dem Thema „Glanz und Elend der Kurtisanen“ ebenso vertraut wie mit dem Schicksal von Frauen, deren Leben von den bürgerlichen Moralvorstellungen der Zeit abwich. Seine damalige Lebensgefährtin Giuseppina Strepponi, eine gefeierte Sängerin, die er später heiratete, hatte mehrere uneheliche Kinder von verschiedenen Männern und war zeitweise gesellschaftlich geächtet. Das aktuelle Thema um 1850 „Edelprostituierte“ gegen bürgerliche Gesellschaftsnormen, denen Verdi kritisch gegenüber stand, erhielt jede Menge sozialen Sprengstoff und war für den aufgeklärten liberalen Künstler ein willkommenes Sujet: Ich will neue, schöne, … kühne Stoffe. Kühn bis zum äußersten …  In Venedig will ich die Dame aux camélias aufführen, sie wird vielleicht La Traviata heißen. Es ist ein Stoff unserer Zeit. Liebe und Tod sind die Pole zwischen denen sich die Violetta- Tragödie ereignet, eine zeitlose Parabel über eine Außenseiterin auf der verzweifelten Suche nach Lebenssinn. La Traviata bleibt das einzige Werk Verdis mit zeitgenössischer Thematik, das im Paris seiner Entstehungszeit spielt und als Vorläufer des italienischen „Verismo“ auf Mascagni, Leoncavallo und Puccini rund 50 Jahre später verweist. Der 1. Akt im Salon der Violetta zeigt eine Partyszene, die der Bühnenbildner Valentin Mattka in eine kalte künstliche Glitzerwelt getaucht hat. Lange silberne Lamettastränge begrenzen den schwarzen Raum, auf einer Drehbühne mit Tresen, Sitzgelegenheiten, Rondellen amüsieren sich Partygäste, die der Kostümbildner Adrian Bärwinkel in heutige Abendrobe gekleidet hat. Sie trinken, sind ausgelassen, tanzen auf den Tischen, frönen einem ausschweifenden Lebensstil.

Seunghee Kho (Violetta Valéry) © NTM Christian Kleiner

Eine silberne Diskokugel senkt sich herab an die sich Violetta fast verzweifelt klammert, als wäre sie des luxuriösen Lebens müde, dem sie dennoch nicht entfliehen kann. Grelle Lichtreflexe (Licht: Nicole Berry) überfluten effektvoll Bühne und Zuschauerraum, die silberfarben verschmelzen, als wäre die ganze Welt eine Amüsiermeile. Mit Alfredo, einem jungen Mann aus gutem Haus, der offensiv um die Gunst der begehrtesten Kurtisane der Stadt wirbt, wird nun ihr Leben endgültig eine neue Richtung nehmen. Violetta, mit rotblonder Haarpracht, blass und zerbrechlich, erscheint weniger als strahlende Partyqueen denn als durch ihre Krankheit Erschöpfte, am oberflächlichen Lebenswandel Leidende. Wenn sie den Champagner aus der Flasche trinkt, scheint sie sich eher zu betäuben als das Leben in vollen Zügen zu genießen. Alfredos Liebeswerben lässt sie wie aus einem Traum erwachen und mit wachsender Zuversicht gibt sie sich immer mehr der Liebes -und Erlösungshoffnung hin. Seunghee Kho ist eine stimmlich und darstellerisch überragende Violetta, die mit ihrem Debüt ein psychologisch detailscharfes Rollenprofil der „vom Weg abgekommenen“ zeichnet und die Entwicklung dieser Figur glaubhaft durchlebt. Mit ihrer kristallklaren, tragfähigen Stimme versteht sie, jede Gefühlsregung nuanciert auszuloten, vor allem die leisen, intimen Momente gestaltet sie zutiefst bewegend, offenbaren ihre Seelentiefe. Die Koloraturen perlen makellos und flexibel in ihrer großen Arie E strano im 1. Akt, die sie beeindruckend aufbaut. Selbst ihre strahlenden und leidenschaftlichen „Gioia“ (Freude) -Rufe offenbaren ihre seelische Gebrochenheit.

Seunghee Kho (Violetta Valéry), Sung Min Song (Alfredo Germont) © NTM Christian Kleiner

In einem historisierenden, mit Wand- und Deckenmalereien verzierten Wohn -Schlafgemach im Rokokostil, mit eleganter weißer Couch Garnitur, leben Alfredo und Violetta in Freiheit ihre Liebe. Der junge Liebhaber bringt der Dame Blumen ans Bett wie es sich gehört, man macht ein Selfie, das Violetta in einem kleinen Kästchen aufbewahrt, zusammen mit weiteren Fotos ihrer Liebe zu Alfredo. Sung Min Song als Alfredo ist ein heißblütiger junger Mann und wahrhaft Liebender. Sein lyrischer Tenor besitzt Schmelz und Biegsamkeit, trägt bestens und klingt schön in allen dynamischen Schattierungen. Schwungvoll, mit viel Sing- und Spielfreude präsentiert er den Hit „Libiamo, ne lieti calici“. Seine vorbildliche Artikulation und kultivierte Phrasierung erlauben ihm eine differenzierte Textausdeutung, die er auch in seiner Arie „De‘ miei bollenti spiriti“ ideal zur Geltung bringt. Hier gewinnt sein Tenor auch an Fülle und Durchschlagskraft. Die innerlichen, leisen Momente gestaltet er mit großer Spannung, ebenso die Verzweiflung über das verloren geglaubte Glück. Der dritte Protagonist im Bunde des jungen Ensembles ist der Bariton Nikola Diskić als Vater Germont, der mit Anzug, Krawatte und viel Distinktion Violetta aufsucht, um sie zum Verzicht auf Alfredo zu bewegen und die Beziehung zu seinem Sohn sofort zu beenden. Die Familienehre darf nicht beschädigt werden. Germont verkörpert die Fleisch gewordenen bürgerlichen Moralvorstellungen seiner Zeit, die durchaus auch heute noch zu finden sind. Seine zuerst abfällige und arrogante Haltung der jungen Frau gegenüber wandelt sich immer stärker in Unsicherheit und Zweifel über seine herzlose Mission, was sich auch in seiner Stimme spiegelt. Klingt sein Kavaliersbariton zunächst noch stählern und kühl, gewinnt die Stimme zunehmend an Wärme und Geschmeidigkeit. Eine der schönsten Bariton Arien Verdis, „Di provenza il mar“, wird zu einem besonderen Moment des 2. Aktes, die Diskić ergreifend und seelenvoll zum Ausdruck bringt.

Seunghee Kho (Violetta Valéry), Sung Min Song (Alfredo Germont), Patrick Zielke (Doktor Grenvil), Yaara Attias (Annina) © NTM Christian Kleiner

Die ausgedehnte Sterbeszene Violettas im 3. Akt gestaltet die Regisseurin Luise Kautz als Schlüsselszene der Oper mit einem ganz starken Bild: Auf der dunklen Bühne ist ein mit Treppen erhöhter Altar aufgebaut, den statt religiöser Symbole ein großer geschlossener Schrein ziert, davor ein Bett mit weißen Laken, auf dem die todgeweihte Violetta liegt. Zahllose Kerzen erhellen gespenstisch den sakralen Raum und verbreiten eine fast andächtige Stimmung. Hier nimmt die Leidende im Angesicht des nahenden Todes Abschied vom Leben, von ihrer Liebe, die sie am Ende auf dem Altar opfert. Wenn sie den Schrein öffnet, sieht man die Erinnerungen ihres kurzen Glücks: Fotos des Liebespaars, zu religiösen Ikonen überhöht, die ihrem traurigen Leben zumindest für kurze Zeit einen Sinn geben konnten. Ihre unsterbliche Liebe gibt sie im Sterben dem verzweifelten Alfredo mit auf seinen Weg. GMD Roberto Rizzi Brignoli lässt aus dem Graben pures Verdi Glück erklingen, alles ist perfekt balanciert, jede Phrasierung ausgefeilt und transparent durchgehört, die konstituierende Melodik mit viel Ausstrahlung gestaltet. Das ätherische Vorspiel mit den geteilten und glänzend intonierenden Violinen atmet Trauer und Einsamkeit, wunderbar klingen die Soloinstrumente, im 2. Akt die klagende Oboe, die dunklen Todesrufe der Posaune und Trompeten am Ende. Die Sänger trägt der Dirigent auf Händen. Manche Tempi und Übergänge hätte man sich allerdings straffer gewünscht, ebenso an manchen Stellen mehr aufflammende und kontrastgeschärfte Dramatik. Der Chor unter der Leitung von Alistair Lilley sang und agierte hervorragend: homogen, klangstark und mitreißend, eine Augenweide auf Floras Fest mit den opulenten und bizarren Kostümen. Ebenfalls auf höchstem Niveau waren zu erleben: Ruth Häde (Flora Bervoix), Ks Thomas Jesatko (Marquis de D’Obigny).

Sung Min Song (Alfredo Germont), Ensemble © NTM Christian Kleiner

Yaara Attias (Annina), Christopher Diffey (Gastone), Ilya Lapich (Baron Douphol), Patrik Zielke (Doktor Grenvil), Ilja Aksionov (Giuseppe), und Ciprian Marele (Komissionär). Begeisterungsstürme, Euphorie und langer Applaus des Publikums für eine beglückende Premiere in der OPAL.

Infos und Karten: Link hier