Mannheim, OPAL, Oper am Luisenpark, HÄNSEL UND GRETEL – Engelbert Humperdinck, IOCO
Schachar Lavi und Amelia Scicolone als Hänsel und Gretel sind ein ideales Geschwisterpaar und begeistern mit ihren frischen, beweglichen Stimmen und ihrem quicklebendigen Spiel.
von Uschi Reifenberg
Zwei Kinder allein zu Haus
Märchenoper in drei Akten von Engelbert Humperdinck, Text von Adelheid Wette, 8. Dezember 2024, 320. Vorstellung in dieser Inszenierung
Fast auf den Tag genau vor 54 Jahren, am 28.11.1970, feierte der Opernklassiker Hänsel und Gretel am Nationaltheater Mannheim Premiere und beglückte nun auch in der neu eröffneten Oper am Luisenpark – OPAL – Zuschauer aller Altersklassen und Nationalitäten. Die durch und durch klassisch anmutende Inszenierung nach Wolfgang Blume und Herbert Stahl, von Claudia Plaßwich detailliert wiedereinstudiert, hat längst Kultstatus erlangt und nimmt sich auch in ihrer 320. Vorstellung bestens aus im neuen Opernhaus. Sie ist fest in der DNA des NTM-Repertoires verankert, hat über die Jahre nichts von ihrer Poesie und Magie eingebüßt und bestach an diesem Abend mit einem hervorragenden Sängerensemble, Dirigent, Orchester und Kinderchor, die auf höchstem Niveau musizierten. Das Publikum war gebannt, die Spannung hör- und fühlbar, auch die Allerjüngsten ließen kaum einen Mucks vernehmen, so intensiv übertrugen sich Musik und Bühnengeschehen in den akustisch exzellenten Zuschauerraum und brachten die OPAL zum Funkeln. Humperdinck veredelte den ungebrochen populären Stoff mit einem opulenten spätromantischen Orchesterklang nach Wagnerschem Vorbild, volksliedhaften Melodien und Kinderliedern und erschuf eine unschlagbare Mischung für einen Welterfolg. Die Texte, die seine Schwester Adelheid Wette verfasst hatte, milderten die größten Härten des Grimmschen Märchens ab, auch wenn sich in der Oper eigentlich immer noch genügend Abgründiges ereignet … Sowohl im ausgehenden 19. Jahrhundert als auch heute stillt das Werk – wie viele Märchen – die Sehnsucht nach einer besseren Welt, in der die Guten belohnt und das Böse bestraft wird. Die Inszenierung bewegt sich dicht und geradlinig an den Regieanweisungen Humperdincks und erfüllt alle Erwartungen an ein „romantisches Märchenspiel“. Sie zeigt eine poetisch-fantasievolle Welt, in der das „Daheim“ der Familie eine mit Holzlatten gezimmerte karge Behausung im Wald mit Ofen, Tisch und Sitzbank sowie liebevoll bestückten Requisiten darstellt. Es herrschen soziale Not und Hunger – aber auch familiäres Glück, Zusammenhalt und Unbeschwertheit, trotz aller Entbehrungen. Hier vertreiben sich die Geschwister Hänsel und Gretel die Zeit, während die hart arbeitenden Eltern mehr schlecht als recht für den Lebensunterhalt sorgen.
Es folgt ein Reigen bekannter Volks- und Kinderlieder, die der Komponist eingefügt hat wie Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh, Ein Männlein steht im Walde, oder selbst komponierte wie Brüderchen, komm tanz mit mir und der Abendsegen, die im Nachhinein zu regelrechten Hits wurden. Schachar Lavi und Amelia Scicolone als Hänsel und Gretel sind ein ideales Geschwisterpaar und begeistern mit ihren frischen, beweglichen Stimmen und ihrem quicklebendigen Spiel. Sie wirbeln und „fegen“ mit ansteckender Fröhlichkeit durch die Besenbinder-Stube und verscheuchen ihren Hunger und die soziale Not mit Tanzen und Singen. Die beiden harmonieren perfekt miteinander, was sie gleich im ersten Duett Brüderchen, komm tanz mit mir mit liedhafter Schlichtheit in Ausdruck und Phrasierung beweisen. Schachar Lavi gewinnt mit warmem, ebenmäßigem und ausdrucksstarkem Mezzosopran und ihrem lausbubenhaften Temperament die Herzen des Publikums, ebenso Amelia Scicolone, ein liebreizendes blond bezopftes Mädchen, das ihren kristallklaren, schönen lyrischen Sopran in kindlicher Freude leuchten lässt und rührend wirkt in ihrer Verzagtheit. Marie-Belle Sandis gibt mit kraftvollen Spitzentönen der von Mühsal und Erschöpfung gezeichneten Mutter Gewicht, die allzu schnell die Beherrschung verliert und in ihrer Überforderung auch mal über die Stränge schlägt und die verängstigten Kinder zum Beerensuchen in den Wald schickt. Joachim Goltz als Vater ist um einiges gelassener. Er betrachtet die Realität durch die mildernde Brille des Alkohols, genehmigt sich immer wieder einen Schluck aus der Schnapsflasche, hat aber alles bestens unter Kontrolle. Sein prächtiger, raumgreifender Bariton überstrahlt mühelos das Orchester, in Spiel und Mimik beweist er sich als Komödiant und bringt auch feinste Nuancen zum Ausdruck. Seine Textverständlichkeit ist beispielhaft, im Umgang mit seiner Frau zeigt er Empathie und handelt sofort, wenn es darum geht, seine Kinder im Wald zu suchen. Die Hexenbesen-Szene wird zu einem humorvollen, aber auch bedrohlichen Kabinettstück.
Schon mit den ersten Horneinsätzen des Abendsegen-Themas des „poetischen Prologs“ (Humperdinck) wird man in die märchenhafte Waldsphäre gezogen. Der Dirigent Anton Legkii führt das Nationaltheater Orchester mit flotten Tempi, pathosfrei, bringt die farbenreiche Partitur mit ihrem dichten Gewebe zum Blühen und setzt auf großen Orchesterklang. Die heiteren Liedthemen kamen tänzerisch, schön die Bläsereinwürfe bei Suse, liebe Suse, die hohen Streicher im 1. Akt etwas zu zurückhaltend. Das Hokus Pokus verweist bedrohlich auf den 3. Akt, da klang es manchmal überdeutlich Wagnerisch aus dem Graben, was die Balance mit den Singstimmen leicht beeinträchtigte. Magisch der Zauberwald, in dem sich die Kinder verirren, mit geheimnisvoll schillernden Bäumen, Vogelstimmen und Naturlauten. Der Wald wird zum Ort des Unbewussten, zum Symbol für Urängste, denen die Kinder schutzlos ausgeliefert sind, eine beklemmende Szene mit Gänsehautmomenten. Das Sandmännchen im silber leuchtenden Kostüm bricht unvermittelt in die Schreckensszenerie ein und vertreibt alle Ängste. Nataliia Shumska ist in ihrem Gewand ein echter Hingucker. Mit dunkel timbriertem Sopran geleitet sie die Kinder sanft in Morpheus Arme. Den Abendsegen singen Amelia Sciccolone und Shachar Lavi zum Niederknien. Da müssen die vierzehn Engelein ja aus wolkigen Höhen herniedersteigen, um den frommen Kindern Schutz und Segen zu gewähren. Die Traumpantomime ist der sinfonische Höhepunkt der Oper, auch szenisch verweisen die beflügelten Lichtgestalten mit ihren Instrumenten, den gleißend weißen Gewändern und ebensolchen Perücken auf einen seligen Sehnsuchtsort jenseits der harten Realität. Das Taumännchen singt Yaara Attias mit feiner, heller Sopranstimme und sendet glitzernde Töne in die morgendliche Waldidylle. Es hat seinen Platz in einem hohlen Baumstamm, der später – hokus pokus –zu Hänsels Gefängnis bei der Hexe umfunktioniert wird. Rosina Leckermauls Wohnort ist ein veritables großes Lebkuchenhaus, das man in Miniaturformat gern selbst zum Schnabulieren mit nach Hause nehmen möchte. Seit Generationen bringt die Hexenfigur in ihrem opulenten roten Gewand und dem fantasievollen Kopfschmuck nicht nur die jungen Zuschauer zum Staunen und ruft Begeisterungsstürme hervor. Die Masken- und Kostümbildner haben hier wirklich ganze Arbeit geleistet!
Der Tenor Uwe Eikötter zieht virtuos alle Register seiner Sanges- und Darstellungskunst und zeigt eine weniger gefährliche als komische und vertrottelte Alte, die von den cleveren Geschwistern leicht überlistet wird. Fast schon akrobatisch „reitet“ und jagt er auf seinem Besen über die Bühne, der Hexenritt wird von einem überaus gelungenen Gag gekrönt, den manch treue/r Opernbesucher*in sehnsüchtig erwartet. Im „Hexenbackofen“ wird Rosina Leckermaul zu einem riesigen, frischen Lebkuchen gebacken, den Hänsel und Gretel triumphierend ihren glücklichen Eltern und den jubelnden, befreiten Lebkuchenkindern präsentieren. Ganz wunderbar singt der vielstimmige Kinderchor, von Anke-Christine Kober exzellent einstudiert, in dem schon die Jüngsten mit viel Engagement und Sangesfreude dabei sind. Viel Applaus und Bravorufe für eine prachtvolle Vorstellung, die man sich nicht entgehen lassen sollte!
Informationen und Tickets: Link hier