Mannheim, Nationaltheater Mannheim, Jakob Lenz - Kammeroper von Wolfgang Rihm, IOCO Kritik, 21.12.2021

Mannheim, Nationaltheater Mannheim, Jakob Lenz - Kammeroper von Wolfgang Rihm, IOCO Kritik, 21.12.2021
Nationaltheater Mannheim

Nationaltheater Mannheim

NTM Nationaltheater Mannheim © Christian Kleiner
NTM Nationaltheater Mannheim © Christian Kleiner

Jakob Lenz -  Kammeroper von Wolfgang Rihm

- Stummer Schrei einer gequälten Seele -

von Uschi Reifenberg

Er hört Stimmen, hat Visionen. Immer wieder, überall. Sie bedrängen ihn, jagen ihn bis zur Verzweiflung. Obsessionen quälen ihn, Panikattacken, der Wahnsinn nimmt immer stärker von ihm Besitz, er kann sich nicht wehren, seine Selbstmordversuche scheitern.

Es ist Jakob Lenz, der Dichter, der Einsame, der Gequälte und der hoffnungslos Liebende, bei dem die Grenzen zwischen Innen-und Außenwelt immer mehr verschwimmen,  Das Leiden an der Welt, an der Kunst und an sich selbst entziehen ihm die Kontrolle über sein Leben, bis die Schübe einer paranoiden Schizophrenie ihn vollends in die geistige Umnachtung treiben.

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Historisch verbürgt ist die Reise des bedeutenden Sturm-und Drang Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), dem Verfasser der Dramen Die Soldaten und  Der Hofmeister 1778 nach Steintal ins Elsass zum Pfarrer und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin (1740-1827), um sich dort von seinem psychischen Leiden zu erholen. Lenz hatte sein Theologiestudium abgebrochen, lebte als freier Schriftsteller und lernte Johann Wolfgang von Goethe kennen, mit dem ihn zeitweise eine intensive Freundschaft verband. Lenz verliebte sich in Friederike Brion, eine von Goethe verlassene Geliebte, die ihn aber abwies. Als Autor veröffentlichte er zahlreiche, vorwiegend sozialkritische Texte, zunächst auch mit Unterstützung Goethes. 1776 kommt es zum Bruch zwischen Lenz und Goethe, es mehren sich deutliche Anzeichen seiner Erkrankung. Vergeblich bemühte er sich um eine feste Anstellung, die Krankheit schritt unaufhaltsam voran.Lenz stirbt einsam auf einer Straße in Moskau, seine Grabstätte ist unbekannt.

Von Lenz’ dreiwöchigem Aufenthalt in Steintal erzählt die Novelle Lenz des erst 22-jährigen Dramatikers und Arztes Georg Büchner (1813-1839), die sich auf Aufzeichnungen von Oberlin sowie auf Briefe von Lenz selbst stützen. Danton’s Tod und Woyzeck zählen zu den maßgeblichen Dramen des Revolutionärs Büchner mit deutlicher Sozial- und Gesellschaftskritik.  In Lenz verfasst er ein scharf umrissenes Psychogramm des leidenden Individuums auf der Suche nach Sinnhaftigkeit, das an den Ansprüchen seiner Umwelt und an sich selbst scheitert. Der Unangepasste auf der Suche nach künstlerischen Ausdrucksformen, dem Kommunikation in konkreten Begegnungen immer unmöglicher wird, dem als Ausgestoßenem nur die Zuflucht in die Innerlichkeit und in den psychischen Ausnahmezustand bleibt.    -     Ein Thema von bestechender Aktualität.

Nationaltheater Mannheim / Jakob Lenz - Kammeroper von Wolfgang Rihm © Christion Kleiner
Nationaltheater Mannheim / Jakob Lenz - Kammeroper von Wolfgang Rihm © Christion Kleiner

Die unerwiderte Liebe zu Friederike Brion, die er für tot hält und das quälende Ringen um seine eigenen religiösen Konflikte, die allgemein sich verändernde Rolle der Religion in der Gesellschaft, steigern sich für Lenz ebenso zur existenziellen Bedrohung wie die Frage nach der ästhetischen Position der Kunst, die zwischen Lenz und dem befreundeten Dichterkollegen Kaufmann thematisiert wird. Kaufmann steht für die idealisierte Kunstauffassung, Lenz hingegen plädiert für eine realistische und schonungslose Darstellung der Wirklichkeit.

Wolfgang Rihm (1952) komponierte die  „Kammeroper“ Jakob Lenz in dreizehn Bildern  1978/79 bereits im Alter von 27 Jahren, das Libretto stammt von Michael Fröhling. In seinem knapp 75 Minuten dauerndem Werk greift er Büchners Novelle auf und schafft ein Musiktheaterwerk von beklemmender Intensität.

Dem Karlsruher Komponist und Universalgelehrten Rihm kommt eine Sonderrolle zu, zählt er doch zu den wichtigsten Tonschöpfern unserer Zeit. Seine nahezu ungebremste Produktivität zeigt sich in einem über 500 Kompositionen umfassenden Gesamtwerk, das sämtliche Genres umfasst, vom wenigen Sekunden dauernden Klavierländler bis zum monumentalen Musiktheaterwerk wie beispielsweise „Die Hamletmaschine“ nach der Textvorlage von Heiner Müller, die 1987 am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt wurde.  Er selbst und seine Werke wurden mit zahllosen Preisen und Ehrungen überhäuft, seine Kompositionen zählen weltweit zu den am meisten gespielten Kompositionen Neuer Musik. Geprägt haben ihn unter anderem Studien bei Wolfgang Fortner und Karl-Heinz Stockhausen, sein Schaffen ist undogmatisch und keiner eng gefassten  Stilrichtung zuzuordnen. Im Mittelpunkt seines Komponierens steht die Freiheit des  subjektiven Ausdrucks.

Wolfgang Rihm lehrt als Professor für Komposition an der Musikhochschule Karlsruhe.

Er kommt polternd, gehetzt, von hinten durch den Zuschauerraum, klettert von dort auf die Bühne mit einem Rucksack voller Habseligkeiten, derer er sich ebenso entledigt wie seines Hemds. Mit freiem Oberkörper, wie eine christliche Heiligenfigur, -„Leiden sei mein Lebenssinn“-, schutzlos und verletzbar, gestaltet  der Bariton Joachim Goltz die Wahnsinns Rolle des Lenz.Alles verzehrt sich in mir selbst; hätte ich einen Weg für mein Inneres. Aber ich habe keinen Schrei für den Schmerz, kein Jauchzen für die Freude, keine Harmonie für die Seligkeit.“, reflektiert Lenz seine Situation.

Gnadenlos folgen ihm kalte Scheinwerfer, bis in einem erschütternder Schrei das Wort „Geist“ sich seiner gequälte Seele entringt, ein später Nachfolger Wozzecks auf dem Weg in die Ausweglosigkeit seines Seelenlabyrinths. Was dem Sänger in dieser Rolle abverlangt wird, geht deutlich an die Grenzen des Möglichen. Weiche Kantilenen, schwierige Intervallsprünge, Falsett-Töne, sprechen, schreien, stammeln, flüstern, in jeder  Stimm- Nuance kommt  die kompliziere Persönlichkeit dieser Figur zum Ausdruck. Joachim Goltz verfügt über diese umfassende  Ausdruckspalette und interpretiert mit unter die Haut gehender Intensität. Dazu agiert er mit schauspielerischem Totaleinsatz, in ständiger Berührung mit Erde, Blut, Schweiß und Tränen. Ein großartiges Rollenportrait!

Nationaltheater Mannheim / Jakob Lenz - Kammeroper von Wolfgang Rihm © Christion Kleiner
Nationaltheater Mannheim / Jakob Lenz - Kammeroper von Wolfgang Rihm © Christion Kleiner

Patrik Zielke als Pfarrer Oberlin, der Lenz bei sich aufnimmt, begegnet dem Hilfesuchenden zunächst als schützende Vaterfigur, mit  Anteilnahme und intensiver, geradezu homoerotischer körperlicher Zuwendung.  Mit seiner warmen und volltönende Bass-Stimme, die in der tiefen Lage tragfähig und bestens fokussiert ist und puren Wohllaut verströmt, setzt er einen Kontrapunkt zum unsteten und unberechenbaren Lenz. Je mehr sich Oberlin seiner eigenen Hilflosigkeit bewusst wird, verliert auch er die innere Stabilität. Selbst die Natur hat als erlösende Heil- und Kraftquelle versagt. Schnitzt er aus Holz zuerst kleine Figuren, so bearbeitet er später aus seiner inneren Notsituation heraus aggressiv einen Baumstamm mit der Axt, innere und äußere Zerstörung überall.

Der Dichterfreund Christoph Kaufmann, der ihn besucht und ihn zunächst unterstützen möchte, ist eine wichtige Bezugsperson von Lenz. Ein rational denkender Mensch, der ihn zum Arbeiten und Dichten überreden möchte, erreicht Lenz mit seinen Argumenten nicht mehr. Kaufmann hat selbst nur noch Spott für ihn übrig und wenig Verständnis für dessen fortgeschrittenen Krankheitszustsnd. Er wendet sich am Ende von ihm ab. Raphael Wittmer singt den Pragmatiker  beeindruckend, mit schlankem, höhen -und koloratursicherem Tenor, eine zwiespältige Figur ohne Einfühlungsvermögen.

Hervorragend die sechs Stimmen, die Lenz umgeben, sowohl in Einzelleistungen, als auch als homogen auftretendes Ensemble: Josefin Feiler, Rebecca Blanz, Marie-Belle Sandis, Maria Polanska, Serhii Moskalchuk und Marcel Brunner. Wunderbar sangen und agierten ebenfalls die Mitglieder des Kinderchors unter der Leitung von Anke-Christine Kober.

Der bekannte, stets polarisierende katalanische Regisseur Calixto Bieito hat eine absolut stimmige, sinnliche und körperbetonte Inszenierung dieses vielschichtigen Künstlerdramas erarbeitet, die ihre aufrüttelnde Wirkung nicht verfehlt. Im grell-weißen, sterilen Einheitsbühnenraum von Anna-Sofia Kirsch, befindet sich in der Mitte eine Drehbühne auf welcher als einziger Farbkontrast die dunklen kahlen Äste eines kleinen Waldes bedrohlich nach oben ragen. Dahinter sitzt das Kammerorchester, teilweise verdeckt von den Ästen und dadurch optisch nur indirekt präsent. In diesem zunächst unbefleckten Raum hinterlassen nach und nach menschliche Tragödien ihre traurigen Spuren, die wie unter einem Brennglas umso drastischer hervortreten. Die Spielfläche entwickelt sich immer mehr zu einem Ort der Zerstörung.

Nationaltheater Mannheim / Jakob Lenz - Kammeroper von Wolfgang Rihm © Christion Kleiner
Nationaltheater Mannheim / Jakob Lenz - Kammeroper von Wolfgang Rihm © Christion Kleiner

Erde wird aus einem Sarg geleert, in welchen sich Lenz hineinlegt, es fließt das Blut einer gebärenden Frau, Fragmente der toten Natur finden sich überall verstreut, Kinder werden an die weiße Wand gefesselt, ein möglicher Hinweis auf Kindesmissbrauch. Bieito findet verstörende Bilder von Leid und Elend, die er dem äußerlich handlungsarmen Stück als Halluzinationen von Lenz hinzufügt, alles in kurz aufeinander folgenden Abläufen. Das sind Zumutungen, die ins Mark treffen. Die Kunst möge die Wirklichkeit ungeschönt abbilden, lässt Büchner seinen Lenz 1835 einfordern.

Die sechs Stimmen, die Lenz bedrängen und begleiten, nehmen verschiedenste Gestalten an, eindrücklich ist Lenz‘ Vision von  Friederike, seiner Geliebten, oder seine Trauer um das tote Mädchen, das er im Arm hält und nicht mehr zum Leben erwecken kann. Gegen Ende schreibt Lenz mit Blut auf die Wände „so lebte er hin“. Lenz geht wie er gekommen ist. Er packt seinen Rucksack und klettert von der Bühne in den Zuschauerraum. Mantra-artig wiederholt er das Wort „Konsequent“, bevor er die Türe hinter sich zuschlägt. Der Irrsinn hat nun auch Oberlin und Kaufmann erfasst.

Rihms Kammeroper wurde 1979 an der Hamburger Opera stabile mit großem Erfolg uraufgeführt und ist sein am meisten gespieltes Bühnenwerk. Der assoziativ geprägte Stilmix aus Tonalität und Atonalität, der Rückgriff auf Kirchenmusik im Zusammenhang mit Lenz‘ theologischen Auseinandersetzungen wird ergänzt durch Choräle und Madrigale. Zitate von Schumann erklingen ebenso wie Volkslieder oder romantische Lieder und unterstreichen die „Zustandsbeschreibung innerhalb eines Zerfallsprozesses“ (Rihm). Die Klangschichten entsprechen den Realitätsebenen. „Eine Person wie Jakob Lenz auf der Bühne ist kompliziert allein dadurch, weil sie selbst mehrere Bühnen in sich birgt. Diese ständig präsenten Bühnen muss die Musik repräsentieren.“ (Rihm).

Rihm setzt sein kleines Orchester aus elf Musikern in ungewöhnlicher Besetzung zusammen, die eine klangliche Aktionsfläche schaffen.

Keine Violinen und Bratschen, keine Hörner. Dafür 3 Celli ( Fritjof von Gagern, Eun-Ae Junghanns, Céline Brüggemann), 2 Oboen (Daniela Tessmann, Daniela Schachinger), 1Klarinette (Martin Jacobs), 1 Fagott (Peter Vogel),1 Trompete (Rüdiger Kurz),  und 1Posaune (Ulrich Lampe), ausgedehntes Schlagwerk (Jens Knoop), und 1 Cembalo (Naomi Schmidt).

Die Musiker unter dem exquisiten Dirigenten Franck Ollu, einem ausgewiesenen Spezialisten für Neue Musik, brachten den Ausdrucksreichtum sowie die stilistische Vielfalt der Klangsprache Rihms ideal zur Geltung. Verstörende Spaltklänge ließen die desolate Verfassung von Lenz körperlich spürbar werden. Komplexe rhythmische Strukturen treffen auf romantische Kantilenen, das Cembalo wird eingesetzt in der Rückwendung auf die klassische Epoche. Sensible  Klangverwebungen schaffen eine intime und dichte Atmosphäre, die Celli grundieren die oft trockenen Bläsersätze oder Percussioneffekte wie die Paukenschläge verdeutlichen die Atemlosigkeit der Herzschläge bei „muss laufen, muss laufen“.

Ein bewegender Opernabend, von dem nicht nur die Bilder bleiben werden. Das Publikum reagierte mit langem und einhelligem Jubel für Sänger, Dirigent und Orchester und für Calixto Bieito und sein Regieteam.

---| IOCO Kritik Nationaltheater Mannheim |---

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