Mannheim, Musikalische Akademie, 5. Akademiekonzert - Christoph Gedschold, IOCO
5. Akademiekonzert: „Dieses Orchester ist ein Juwel. Ich habe sehr gern mit ihm musiziert“, so schwärmte Christoph Gedschold, Gastdirigent im 5. Akademiekonzert, beim Einführungsgespräch kurz vor Konzertbeginn.
März 2024 - 5. Akademiekonzert der Musikalischen Akademie des Nationaltheater Orchesters Mannheim im Mozartsaal des Rosengarten am 4. März 2024 mit Dirigent Christoph Gedschold
von Uschi Reifenberg
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) Die Hebriden op. 26, Dai Fujikura (*1977) Wavering World for orchestra (Auftragskomposition der MAM), Franz Schubert (1797-1828) Große Sinfonie C-Dur D 944
Naturschilderungen, Mythen und große Sinfonik
„Dieses Orchester ist ein Juwel. Ich habe sehr gern mit ihm musiziert“, so schwärmte Christoph Gedschold, Gastdirigent im 5. Akademiekonzert, beim Einführungsgespräch kurz vor Konzertbeginn. Um es vorwegzunehmen: das Nationaltheater Orchester präsentierte sich in Höchstform und sorgte an diesem bewegenden Abend gemeinsam mit seinem Dirigenten für magische Momente.
Seit den 1990er Jahren vergibt die Musikalische Akademie Kompositions-aufträge, bisher sind es insgesamt 29 Auftragswerke, der diesjährige Auftrag ging - zusammen mit dem Seattle Symphony Orchestra und dem Pacific Philharmonia Tokyo -an den international gefragten und mit Preisen überhäuften japanischen Komponisten Dai Fujikura, dessen eindrucksvolle Komposition „Wavering World for orchestra“, vor einem Jahr in Seattle uraufgeführt, nun am 05.03. im 5. Mannheimer Akademiekonzert zur deutschen Erstaufführung kam. Außerdem standen Felix Mendelssohn Bartholdys „Hebriden-Ouvertüre“ und Franz Schuberts „Große C-Dur Sinfonie" auf dem Programm, die wiederum unter Mendelssohns Leitung 1839 ihre späte Uraufführung in Leipzig erlebte.
Der Dirigent Christoph Gedschold, der unter anderem in Leipzig studierte, ist nach Stationen in Zürich, Luzern, den Bregenzer Festspielen, sowie Nürnberg und Karlsruhe seit 22/23 Musikdirektor an der Oper Leipzig. Zur Saison 24/25 wird er als Chefdirigent an die Copenhagen Phil wechseln.
Der japanische Komponist Dai Fujikura, 1977 in Osaka geboren, studierte bereits mit 15 Jahren in London am Trinity College of Music mit der Absicht, Filmkomponist zu werden. Durch die Beschäftigung mit Werken von Boulez, Ligeti, Takemitsu und Lachenmann, entschied er sich anders. Für ihn liegt die Initialzündung jeder Komposition im Aussermusikalischen. Er wurde mit internationale Preisen ausgezeichnet und erhielt Kompositionsaufträge, u.a. von den Salzburger Festspielen, dem Luzern Festival, den BBC Proms, den Bamberger Sinfonikern, oder den Donaueschinger Musiktagen. Der japanisch- britische Komponist, der in London lebt, hat mit fast 200 Werken einen eigenen Stil geschaffen, zu seinen wichtigsten Kompositionen gehört „Solaris“, eine Oper nach dem Roman von Stanislaw Lem. Sie wurde 2015 in Paris uraufgeführt und hat sich zu einer der meistgespielten zeitgenössischen Opern entwickelt. „A Dream of Armageddon“ nach einer Kurzgeschichte von H.G. Wells, wurde 2020 in Tokio uraufgeführt.
Der äußerst vielseitige Fujikura komponierte ausserdem zahlreiche solistische Werke, unter anderem vier Klavierkonzerte, Werke für Flöte, Fagott, Horn, Tuba, Posaune, Bratsche, Cello und Kontrabass, darüberhinaus Filmmusiken sowie Fernseh- und Radiokompositionen.
Bei der feierlichen Überreichung der Partitur von „Wavering World“ durch den Komponisten Dai Fujikura an die Familie Limbourg, durch deren finanzielle Unterstützung der Kompositionsauftrag ermöglicht wurde, gab er kurz Einblicke in sein neues Werk, das unter anderem auf Sibelius’ 7. Sinfonie Bezug nimmt, in welcher Sibelius Themen aus der finnischen Sagenwelt und Mythologie verarbeitet.
Fujikuras Titel „Wavering World“, also „Schwankende oder unbeständige Welt“, zeugt von seiner Faszination für die Wandlungen von Materie und die Entstehung, von Leben im großen und kleinen Kosmos. Diese „schwankende Welt“ evoziert eine Zeit vor aller Zeit, eine Welt, in der - folgend den alten japanischen Mythen - Himmel und Erde sich zum ersten Mal teilen und die ersten Götter erscheinen, noch geschlechts - und körperlos. Dieser Moment der Teilung ist das Klangbild zu Beginn von „Wavering World“: flirrende Klänge über dunkler Tiefe. „Ich hörte in meinem Kopf keine bombastische, laute Musik zu diesem Bild. Ich hörte etwas Sanftes, das sich auf die Entdeckung der neuen Grenzwelt konzentrierte, die auftauchen würde“, so Fujikura (Programmheft).
Die japanischen Entstehungs-Mythen bieten Fujikura ein Reservoir an Welt-Entwürfen, ähnlich den germanischen Schöpfungsmythen, wie sie in der mittelalterlichen Edda überliefert sind: „ … beim Komponieren geht es darum, eine Utopie zu schaffen, in der ich gerne leben würde; eine ganze Welt, nicht nur Farben oder Landschaften, sondern ich hoffe, dass ich alle Sinne stimulieren kann, die man sich vorstellen kann, wie den Geschmack, den Geruch, das Gefühl der Textur … ich schaffe diese Utopie für mich selbst und hoffe, dass es andere gibt, mit denen ich sie teilen kann. Ich versuche, Sie einzuladen, mit mir ein wenig in der von mir geschaffenen Welt zu verweilen“ (Fujikura, Programmheft).
Dieser Einladung zur komplexen musikalischen Rezeption folgte das Publikum in Mannheim mit großer Spannung, und ließ sich auf Fujikuras feinsinnige und faszinierende Klangwelt ein. Der Komponist hat mit „Wavering World“ für großes Orchester ein zeitgenössisches Werk geschaffen, das weder schockiert noch mit sprödem Intellektualismus abschreckt, sondern dem Publikum einen Zugang verschafft, der auf vielfältigen Ebenen wirkt und mit seiner speziellen Ästhetik klangsinnlich und emotional zwischen Kompositionsidee und Zuhörern vermittelt.
Christoph Gedschold und das Orchester weben irisierende, schwerelose Klangflächen, die kosmische Sphären verdeutlichen; kurze melodische Holzbläser- Floskeln schälen sich heraus über flirrenden hohen Streichern, wenig fassbar, sie beginnen immer wieder sehr leise wie aus der Ferne. Akzente setzt das Schlagwerk, vielfarbige Paukensoli schaffen Konturen im vibrierenden Klangflächenzauber, gestützt von Streicherglissandi und zitternden Tremoli. Ebenfalls liefern Blechbläser kurze Einwürfe. Melodisches wird angedeutet, Spannung gebende Dissonanzen bleiben als Klangteppich bestehen und werden als angenehm erlebt. Minimal music-artige Abschnitte bilden ein Klangkontinuum, Steigerungen wirken intensiv, ebenso die rhythmischen Floskeln der Holzbläser. Es entsteht eine mystische Atmosphäre, gegen Ende steigert sich die Lautstärke, das Werk endet vielsagend im großen Tutti.
Felix Mendelssohn Bartholdy schrieb seine „Hebriden Ouvertüre“ im Alter von zwanzig Jahren nach einer Reise durch England und Schottland, bei der er auch die sagenumwobenen Inseln der Hebriden besuchte, auf denen- laut Ossian, dem legendären altschottischen Barden - vor Urzeiten die mythische Gestalt des König Fingal residiert haben soll. Eine rein fiktionale Erzählung wie sich herausstellte, welche aber die romantische Fantasie des Komponisten in vielfältiger Weise anregte, und in einem Seelen-Drama gipfelte, das am Beginn der Tradition der „maritimen Romantik“ steht wie später z.B. Debussys „La mer“, Brittens Meeres-Zwischenspiele aus Peter Grimes oder Richard Wagners Der fliegende Holländer. Richard Wagner übrigens, der in Mendelssohn zu Recht einen gefürchteten Konkurrenten sah, lobte die Konzertouvertüre dennoch als „erstklassische Landschaftsmalerei“. Eine nachvollziehbare Referenz, da Mendelssohn nicht nur ein begnadeter Komponist, sondern auch ein vorzüglicher Zeichner und Aquarell-Maler war, der noch vor der Komposition eine Federzeichnung der Hebriden Insel anfertigte. Drei Jahre arbeitete Mendelssohn an seiner Konzertouvertüre, 1830 entstand in Rom die erste Fassung, 1832 überarbeitet er sie in Paris erneut, dann in London, bis nach weiteren Korrekturen das Werk 1833 in Berlin unter der Leitung des Komponisten uraufgeführt wurde. Die damaligen nachhaltigen Erlebnisse der stürmischen Überfahrt auf die Insel „Staffa“ mit der mystischen „Fingal-Höhle“ fanden ihren Niederschlag in atmosphärisch dichten naturalistischen Schilderungen der Naturgewalten, von Wind, Wellen und bizarrer Landschaft, die Mendelssohn in die Ouvertüre integrierte und plastisch herausarbeitete. Er schreibt an seine Familie: „Um euch zu verdeutlichen wie seltsam mir auf den Hebriden zumute geworden ist, fiel mir eben folgendes ein“. Er skizzierte den Anfang der Ouvertüre, der ein prägnantes Motiv zugrunde liegt, das sich durch die ganze Komposition zieht und vielfache Ableitungen und Beleuchtungswechsel erfährt, was sogar ein wenig an Wagners Leitmotiv-Technik erinnert.
Die Hebriden Ouvertüre gilt als eine der Vorläufer der sinfonischen Dichtung, die im späten 19. Jahrhundert als gewichtige Gattung neben der Sinfonie rangiert, von Liszt weiterentwickelt und später von Richard Strauss zur Vollendung geführt.
Das kurze Anfangsthema, zunächst in den dunklen Farben von Bratschen, Celli und Fagott, mit seiner sanften Bewegung und dem charakteristischen absteigenden Intervall, den Wellengang zeichnend, wird fein phrasiert und evoziert eine elegisch-düstere Stimmung. Der warme Klang, den Gedschold und die Musiker zu Beginn hören lassen, wird beibehalten, untergründige Wellenbewegungen der tiefen Streicher kontrapunktieren die aufblühenden Geigen, mit groß angelegten Bögen, lautmalerisch an-und abschwellender Dynamik, in typisch Mendelssohnscher Brillanz und Leichtigkeit. Ein schmeichlerisches Thema in Celli und Fagott lädt zu kontemplativem Innehalten ein, dramatische Höhepunkte verfehlen ihre Wirkung nicht und lassen Bilder einer gefahrvollen Küstenlandschaft aufscheinen. Trompeten- Fanfaren imitieren die Rufe der Möwen, der Dirigent beschwört die Idylle einer einsamen Insel, ruhig und leise verebben die Streicherfiguren. Wie aus der Ferne klingt das Hauptthema herüber, wunderbar der dialogische staccato Abschnitt, geschärft mit Hörnern und Trompeten. Hauchzart und melancholisch die beiden Klarinettensoli, die den Formteil abschließen. Der plötzliche Wechsel zum lebhaften Abschnitt, der mit einem rhythmischen Oboenmotiv über einer bewegten Streicherbegleitung beginnt, wird sehr spannungsreich und präzise musiziert und mündet in einen strahlenden Höhepunkt. Das Hauptthema erscheint in wechselnden Registern, transparent gestaltet Gedschold den vollen Orchesterklang mit Blechbläsern und virtuosen Streicherfiguren. Am Ende erklingt verhalten das Hauptthema in der Klarinette. Mit einer aufsteigenden zarten Flötenlinie endet das Werk im pianissimo.
Franz Schuberts Große C-Dur Sinfonie, seine „Achte“ -je nach Zählweise- gehört zu den längsten, umfangreichsten und meist gespielten sinfonischen Werken des 19. Jahrhunderts und trägt nicht nur aufgrund ihrer Länge von annähernd 60 Minuten den Beinamen „Große“, sondern auch in Abgrenzung zur „kleineren“ 6. Sinfonie, die ebenfalls in C-Dur steht.
Gehört hat Schubert seine Sinfonie -wie alle anderen Sinfonien- zu Lebzeiten nicht, von der Gesellschaft der Musikfreunde Wien wurde sie abgelehnt, da sie für zu schwer und zu lang befunden wurde. Schubert war auf dem Weg, sich von der sinfonischen „Überfigur“ Beethoven und dessen Sinfonien halbwegs zu emanzipieren und das Tor von der klassisch orientierten Sinfonie in die Romantik aufzustoßen, sein Werk vielfach weist bereits voraus auf die großen Sinfonien von Bruckner oder Mahler. Oft zitiert ist Schuberts Ausspruch von 1824: „überhaupt will ich mir auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen“; die C-Dur Sinfonie gibt Zeugnis von seinen Plänen, die sein früher Tod mit 31 Jahren zunichte machte.
Hätte Robert Schumann 11 Jahre nach Franz Schuberts Tod die Partitur nicht zufällig beim Stöbern im privaten Notennachlass von Schuberts Bruder entdeckt, wer weiß, vielleicht wäre dieses Werk sehr viel später ans Licht der Konzert-Öffentlichkeit gelangt und die Entwicklung der romantischen Sinfonie im 19. Jahrhundert möglicherweise ganz anders verlaufen…
Uraufgeführt wurde die Sinfonie 1839 im Gewandhaus zu Leipzig unter Felix Mendelssohn Bartholdy mit großem Erfolg, und nicht nur auf Robert Schumann hat das Werk wohl „gewirkt wie keine noch“, auch Mendelssohn soll Schuberts opus maximus zur Beendigung seiner „Schottischen Sinfonie“ inspiriert haben.
Eine Herausforderung ist diese komplexe Sinfonie für jedes Orchester, „Groß“ ist nicht nur die Länge, die Bündelung der immensen, teilweise neuartigen Anforderungen, die damals, 1826, das Wiener Orchester abschreckten, heutzutage ist das kein Thema mehr. Dennoch sind die Dauer, die ausgedehnten Spannungsverläufe, notierte Wiederholungen, die Vielfalt der Formen, -klassische wie erweiterte,- Themenentwicklungen, die vagierende Stilistik, die technische Brillanz jeder Instrumentengruppe, das einzigartige Wiener Idiom sowie die Tiefe und Ambivalenz von Schuberts Seelenwelt, ein Kosmos für sich. Über all dem schwebt Schubert als vielleicht größter Melodiker überhaupt, der mit seinen annähernd 600 Liedkompositionen als Vollender der „kleinen Form“ das Liedhafte auch virtuos in die große Form der Sinfonie integriert hat.
Christoph Gedschold und das NTO konnten mit ihrer Schubert Interpretation begeistern, boten hohe Spielkultur und eine schlackenlose Lesart, welche die klassische Form in ihren Strukturen stilgerecht auffächert und die vielgestaltige Gefühlswelt Schuberts mitreißend und intensiv auslotet. Der Dirigent breitet eine episch-sinfonische Landschaft aus, deren „himmlische Länge“ (Robert Schumann) das utopische Potenzial von Schuberts sehnsuchtsvoller Aufbruchstimmung erst entfaltet und Momente von unglaublicher Schönheit schafft. Durchweg herrschen große Präzision, Spannung, Transparenz. Gedschold leitete das NTO mit klarem Konzept, sparsamen Gesten, unaufdringlich, aber suggestiv.
Das berühmte unisono- Anfangsthema der zwei Solo-Hörner in der Einleitung tönt wunderschön homogen, von den Holzbläsern anschließend leuchtend übernommen. Sehr lebendig kommt das Hauptthema im Allegro-Teil daher mit punktiertem Rhythmus der Streicher und Bläsertriolen; präzise und luftig klingen die Repetitionen, schön artikuliert dann das 2.Thema in den Holzbläsern, ebenso der Dialog zwischen Holz und Blech. Festliche, hymnische Steigerungsverläufe mit glanzvollen Posaunenfarben münden in das Anfangsthema, das fortissimo den Satz beschließt.
Im 2. Satz begibt sich die Solo-Oboe mit einem melancholischen Marschthema auf Wanderschaft über leiser Streichergrundierung, dann gesellt sich die Klarinette hinzu. Das „Wandern“, ein Lebensthema Schuberts, wird auch hier zum Motto, das die Sinfonie mit unendlicher Melodik durchpulst. Gedschold gestaltet ein variables Klangbild, Eintrübungen nach Moll lassen Tragik aufscheinen, die im beklemmenden Septakkord gipfelt, fast fragend wirkt die anschließende Pause. Danach ist alles wieder wie vorher, oder doch nicht? Es ist viel geschehen, über der Musik liegt ein Schleier, der Dirigent strafft nun das Tempo, wechselnde Beleuchtungen des Themas sorgen für changierende Momente, Kontraste werden geschärft, sehnsuchtsvolle Kantilenen erklingen in den Celli.
Im 3. Satz geben die Musiker und Gedschold dem Scherzo Kontur mit einem zackigen Streicherthema, da tanzt es mit fast derben Ländler-Anklängen und der wienerische Schalk blitzt durch. Ruhiger und nach Moll gewendet wird es im Trio mit wunderbar liedhaften Holzbläsern und schmachtender Klarinette.
Die Euphorie des Finales entlädt sich in eröffnenden Fanfaren und kontrastierend davonstürmenden Streichertriolen, hervorragend und mit höchster Präzision gespielt. Im klaren Erzählduktus lässt der Dirigent das Seitenthema aufblühen, welches zum Motor des Satzes wird und am Ende insistierend die strahlende C-Dur Bestätigung liefert. Von Ferne grüßt das „Freude“ Motiv von Beethovens Neunter im anmutigen Oboenklang. Zielgerichtet und mit Emphase steuern Dirigent und Musiker auf das Jubel-Ende, feiern mit strahlenden Posaunen Schuberts großes Werk.
Begeisterung, viel Beifall und Dankbarkeit für Dai Fujukura, Christoph Gedschold und das Orchester.