Mannheim, Musikalische Akademie, 8. Akademiekonzert - Gustav Mahler, IOCO Kritik, 21.06.2022
Musikalische Akademie Mannheim
8. Akademiekonzert - Musikalische Akademie
Gustav Mahler (1860-1911) - Sinfonie Nr. 2 c-Moll „Auferstehungssinfonie“
von Uschi Reifenberg
WIE AUS EINER ANDEREN WELT HERÜBER
„Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören“, lautet eine altbekannte Redensart, die manchmal allerdings schwer nachvollziehbar ist. Alexander Soddy, gefeierter Mannheimer Generalmusikdirektor, der sich sechs Jahre lang in die Herzen des Publikums dirigiert hat, steht nur noch bis Ende Juli 2022 am Pult des Nationaltheater Orchester, dann wird er Mannheim Richtung Wien verlassen.
Nach seinem letzen Akademiekonzert in dieser Saison, das nun mit Mahlers 2. Sinfonie, der „Auferstehungssinfonie“ zu einem absoluten Glanzpunkt der zurückliegenden Spielzeit wurde, erfüllt einen diese Entscheidung mit ganz besonderer Wehmut. Soddy kehrt zwar in der Saison 22/23 für vier Akademiekonzerte, die coronabedingt nachgeholt werden, nach Mannheim zurück, dennoch lag Abschiedsstimmung, ja ein Hauch von „Weltschmerz“ im Saal, der nicht nur der typischen Mahler‘schen Weltanschauung geschuldet war.
Die Entscheidung, ein monumentales Werk wie die 2. Sinfonie von Mahler zum Abschied zu spielen, lag zum einen an der Tradition des Orchesters, das mit der Romantik und Spätromantik die meisten Erfahrungen und Wohlfühl-Faktoren besitzt, auch Alexander Soddy bekennt seine starke Affinität zur theatralisch aufgeladenen Musik mit ihren groß angelegten Dimensionen.
Daran war nicht zu zweifeln, Soddy und das Nationaltheater Orchester wuchsen an diesem letzten Abend über sich hinaus und spielten sich mit Mahlers Erlösungswerk in den sinfonischen Olymp, den Dirigent und Orchester nach sechs beglückenden Jahren gemeinsamer Entwicklung erreicht haben.
Gustav Mahlers musikalische Welt spiegelt die existenziellen Fragen des menschlichen Lebens. In seiner Sinfonik geht es um nichts Geringeres als um „die letzten Dinge“, um Leben, Liebe, Tod und Glaube. Hier werden Kämpfe ausgefochten, Grenzen ausgelotet, die Seelenzustände bewegen sich nicht selten zwischen den Extremen „himmelhochjauchzend“, „zu Tode betrübt“, der Aphorismus „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“ erhält in Mahlers Werk besondere Bedeutung. Für Mahler hieß Komponieren: „ ... mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine „Welt“ aufbauen !“
Mahler war Zeit seines Lebens ein Suchender, Fragender, ein Getriebener, der Brüche nicht einebnete, sondern sie offen thematisierte und nebeneinander stellte. Ein Moderner, der in die Zukunft dachte, der den Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert begleitete und der spürte, dass in seiner Gegenwart die Zeit noch nicht reif war für seine Werke: „ O könnte ich meine Sinfonien 50 Jahre nach meinem Tod aufführen“ schrieb er in einem Brief. Eine prophetische Aussage. Tatsächlich begann die eigentliche Mahler Rezeption erst in den 60er-, 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Person Mahler ist widersprüchlich und faszinierend, sein Werk und seine Offenbarungen zwar teilweise klischeebeladen, aber von fesselnder Aktualität.
Die 2. Sinfonie, entstanden von 1888 bis 1894, weist eine lange und wechselhafte Entstehungsgeschichte auf, und ist bis heute eine seiner meist gespielten Sinfonien. Ein Werk gegensätzlicher Strömungen, das die stilistische Essenz Beethovens, Schuberts, Bruckners und vor allem Wagners in sich vereint und gleichzeitig über sie hinausweist. Mahler schließt mit der Sinfonik des 19. Jahrhunderts ab, führte sie auf einen letzten Höhepunkt und ebnete den Weg in die Moderne.
Er verfasste programmatische Erläuterungen zu seiner 2. Sinfonie, die bei der Annäherung an dieses heterogene und philosophisch geprägte Werk hilfreich sein und Zusammenhänge verdeutlichen sollten. Später zog er jedoch das Programm zurück. Der Name „Auferstehungssinfonie“ geht auf eine Ode des Dichters Gottlieb Klopstock zurück, deren Verse über die Auferstehung Mahler inspirierten, als er einen Kirchenchor bei der Trauerfeier des großen Dirigenten und seines Mentors Hans von Bülow, diese Zeilen singen hörte. „Aufersteh‘n wirst du, mein Herz in einem Nu“. In seinem letzten Satz fügte er selbst der Ode eigene Verse hinzu.
Die fünfsätzige Sinfonie knüpft laut Mahler direkt an seine 1. Sinfonie an „... so ist es der Held meiner 1. Sinfonie, den ich da zu Grabe trage...“.
Mahler konzipierte den Kopfsatz im Vorfeld als „Sinfonische Dichtung“ mit dem Titel „Totenfeier“, der später als 1. Satz zur Ausgangs- und Kernidee der Sinfonie werden sollte. Mahler formuliert übergeordnete Fragen:„ ... Warum hast du gelebt? Warum hast du gelitten? Ist das alles nur ein großer, furchtbarer Spaß?“ Die Antwort gibt er später im letzen Satz.
Im Nachhinein ordnete er die einzelnen Teile des Werkes in einem übergeordneten fünfsätzigen Bauplan, der in einer lang gezogenen dramatischen Steigerung von der Bahre im 1. Satz in die Konklusion des Auferstehungsfinales mündet. Über Wegmarken der kürzeren Mittelsätze werden die wichtigsten Stationen und Erinnerungen eines Lebens beschrieben, die am Ende in einer universellen Heilsbotschaft gipfeln: „... Aufersteh’n, ja aufersteh‘n wirst du, ...“
Anknüpfend an Beethovens 9. Sinfonie erweitert Mahler sein Werk um das vokale Element mit Chor und Solistinnen, außerdem integriert er zwei Lieder aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“, nämlich „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ ( im 3.Satz) und „Urlicht“( 4. Satz).
Die fünfsätzige Sinfonie dauert knappe 90 Minuten, es kommt eine gigantische Besetzung zum Einsatz mit 2 Gesangssolistinnen, gemischtem Chor, Fernorchestern, großem Schlagwerk, Glocken und Orgel.
Den 1. Satz mit seinen rhythmisch enervierenden Sechzehnteln in den tiefen Streichern über dem Violinen Tremolo eröffnet Alexander Soddy mit markantem Gestus und vorwärts drängendem Puls. Zart erhebt sich das Hauptthema in den Holzbläsern, ernsthaft und feierlich spannt sich das nächste Thema in den Violinen frei im weit geschwungenen Ambitus über dem kontrapunktischen Triolenrhythmus der tiefen Streicher, dynamisch fein abgestuft, lebendig, bis zur Steigerung des unisono Abgangs mit dem anschließenden Höhepunkt der schmerzlichen Akkorde und Bläser-Seufzern.
Soddy und das Nationaltheater Orchester finden idealen Zugang zu der kontrastreich-disparaten Klangsprache Mahlers und tauchen ein in dessen tief empfundene Schmerz- und Erlebenswelt, was im Laufe der Sinfonie beglückend erfahrbar wird. Dem Trauermarsch-Duktus gibt er den nötigen Ernst, die klagenden Kantilenen klingen frei atmend. Es werden die schroffen Mahler-Eruptionen ungeglättet herausgeschleudert, die einzelnen Abschnitte sind klar umrissen, das dies irae Motiv klingt an. Soddy erreicht große Spannung, wenn er den Klang ganz zurücknimmt, ihn manchmal bis zur Tonlosigkeit verebben lässt. Dann wiederum entsteht die Musik wie aus dem Nichts, zelebriert er ganz intime, persönliche Momente. Beeindruckend dehnt er die bohrenden Dissonanzen mit den Beckenschlägen. Klangselig, agogisch wunderschön abgestimmt, schwelgt er in der Reprise, lässt Harfen-Arpeggien und Streicherportamenti von einer besseren Welt künden. Kompromisslos beendet ein Triolenabgang der Bläser und Streicher, subito forte, den Satz.
Der 2. Satz, ein Andante moderato, beschreibt laut Mahler „ ... ein seliger Augenblick aus dem Leben dieses teuren Toten und eine wehmütige Erinnerung an seine Jugend und verlorene Unschuld.“ Als durchgehender Themengedanke erklingt ein zarter Ländler, zuerst in den Streichern, elegant, durchsichtig. Soddys inspirierende Zeichengebung lässt die an Schubert erinnernde Musik tanzen, in schwebender Haltung gibt er sich ganz der Unbeschwertheit des Augenblicks hin. Wie aus dem Nichts intonieren die Streicher den 2. Thementeil der Sechzehnteltriolen, präzise, impressionistisch durchscheinende Leichtigkeit entsteht durch ein zartes Gewebe, aus dem Holzbläserthemen herausleuchten.
Der 3. Satz, ein skurriles Scherzo, welches „das sinnlose Treiben der Welt schildert“, zitiert das Lied „Des Heiligen Antonius von Padua Fischpredigt“, dem niemand zuhören will, und der deshalb mit den Fischen spricht. Die ewige Wiederkehr des Gleichen wird satirisch und ironisch beleuchtet, gipfelt aber in einem „Schrei der Verzweiflung“. Die eröffnenden Paukenschläge leiten in die „ruhig fliesende Bewegung“ der Streicher, Soddy schafft weiche Bögen, sich überlagernde Linien, im durchgehenden 3-er Takt gelingt ihm im ein fast absichtsloses Dahingleiten, humorvoll melden sich die hervorragenden, dynamisch variabel spielenden Bläser mit ihren Motiven.
Dramatische, Ausbrüche durchbrechen plötzlich das flächige Klangbild, die im grell-dissonanten Höhepunkt die Tragik hinter der harmlosen Fassade zeigen.
Mit dem 4. Satz, dem „Urlicht“ erlebt man das Ringen der Seele um göttliche Gnade und Erlösung im Jenseits. Die Singstimme ist essenzieller Bestandteil des Ganzen. Wie aus dem Urgrund erhebt sich die samtene und voluminöse Altstimme von Anna Lapkovskaja, die ihr Solo „O Röschen rot“ wunderschön und mit rührender Schlichtheit im Ausdruck in die feierliche Stille schickte. Soddy führt Sängerin und Instrumentalisten mit Sensibilität, Empathie und perfekter Balance durch diesen innigen, choralhaften Satz mit den hervorragenden Holzbläsern und der Solovioline, die in andächtigen Dialogen mit der Singstimme harmonieren. Traumhaft klingt die Stelle mit der anschließenden Oboenfortführung: „Je lieber möcht’ ich im Himmel sein“.
Der 5. Satz, zentraler Teil der 2. Sinfonie und einer der längsten und gewaltigsten Sätze der Mahler‘schen Sinfonik überhaupt, ist Überwältigungsmusik pur, und Mahler beweist hier, welch genialer Musikdramatiker in ihm steckte. Der 5. Satz entfaltet sich im Sinne des Wagnerschen Gesamtkunstwerks mit einem Aufgebot, dessen Wirkung zum damaligen Zeitpunkt in einer Sinfonie nicht zu erleben war.
„Durch Nacht zum Licht“ (per aspera as astra) ist hier Programm, die Entwicklung vom apokalyptischen Schreckensszenario des jüngsten Gerichts hin zur alle Seelen erlösenden Auferstehung, ist musikalisch beispiellos und meisterhaft umgesetzt.
Soddy entfesselt sämtliche Energien, beherrscht in jedem Moment den gigantischen Apparat von Solistinnen, großem Chor, Fernorchestern und Orchester und durchmisst die Polarität der irdischen und jenseitigen Welt in einem kämpferischen Prozess. in dem die Schreckensvisionen bis zur Schluss-Apotheose in einer weit angelegten Entwicklung gesteigert werden.
Der „wild herausfahrende“ Beginn ist unheilvoll, mit starkem Blech, Harfenarpeggien und Schlagwerk setzt Soddy diesen Ausbruch mit greller Wucht in Szene. Die Positionierung des Fernorchesters im seitlichen Foyer gelingt mit Kamera gut koordiniert und entfaltet eine effektvolle Raumwirkung. Mit viel Ruhe und spannungsreichen Pausen zelebriert Soddy den Dialog der beiden Orchester, drängend klingt das „dies irae“ Thema herüber, Steigerungen werden mit großer Emphase ausgestaltet.
Der Übergang zum 2. Teil, von Hörnern, Trompeten und Flöte aus weiter Ferne eingeleitet, ist ein magischer Moment, bis aus geheimnisvollen Tiefen sich die Chorverse „Aufersteh‘n, wirst du, mein Staub, nach kurzer Ruh‘“ emporheben. Leuchtend steigt der edel timbrierte Sopran von Anne Schwanewilms aus den Klangflächen empor, in einer lang gedehnten Steigerung nähert sich nach und nach das Tor zum Paradies. Das anziehende Tempo und die anschwellende Dynamik werden vom stimmgewaltigen Chor mit getragen, von den Trompeten hätte man sich an dieser Stelle mehr Strahlkraft gewünscht. Mit überwältigender Intensität erklingen die letzen heilbringenden Verse „ Was du geschlagen, zu Gott wird es dich tragen“, bis Soddy dem erlösenden Auferstehungs-Schlussakkord entgegendrängt und sich die Klangmassen ein letztes Mal „mit höchster Kraftentfaltung“ in transzendente Sphären katapultieren.
Großer Jubel, stehende Ovationen für die Solistinnen, den Chor unter der Leitung von Danis Juris, Orchester. und Dirigenten. Das Publikum wollte Alexander Soddy und das Orchester nicht aus dem Saal entlassen, Soddy war sichtlich gerührt von den starken Beifallsbekundungen. Hoffentlich nur ein Abschied auf Zeit.
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