Mannheim, Musikalische Akademie, 6. Akademiekonzert - NTM Nationaltheater Orchester, IOCO Kritik, 25.04.2023

Mannheim, Musikalische Akademie, 6. Akademiekonzert - NTM Nationaltheater Orchester, IOCO Kritik, 25.04.2023
Der Rosengarten von Mannheim, Spielstaette der Musikalischen Akademie © Ben van Skyhawk
Der Rosengarten von Mannheim, Spielstaette der Musikalischen Akademie © Ben van Skyhawk

Musikalische Akademie Mannheim

6. Akademiekonzert - Musikalische AkademieHommage an Maurice Ravel, Claude Debussy, Frédéric Chopin

Anja Bihlmeier, Dirigentin - Rafal Blechacz, Klavier - Nationaltheater Orchester

von Uschi Reifenberg

Die Flüchtigkeit des Augenblicks einfangen, ihn erlebbar machen, die Magie eines kurzen Moments vollendeter Schönheit festhalten. Das gelang mit einer beglückenden Hommage an drei der größten Musiker Frankreichs, Maurice Ravel (1875-1937), Claude Debussy (1862-1937) und Frédéric Chopin (1810-1849) auch wenn dieser Pole war, im 6. Mannheimer Akademiekonzert am 17. April 2023.

Mit dieser Programmdramaturgie wurden die Kompositionen perfekt aufeinander bezogen, schienen in einer logischen Entwicklungslinie zu verlaufen, ausgehend von einem der bedeutendsten Klavierkonzerte der frühen Romantik, dem 1. Klavierkonzert von Chopin (1830), bis zu den zentralen Werken des Impressionismus mit Ravels „Le Tombeau de Couperin“ und Debussys „La mer“, komponiert zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Musikalische Akademie Mannheim © Christian Kleiner
Musikalische Akademie Mannheim © Christian Kleiner

Klang und Farbe sind die zentralen Kategorien des französischen Impressionismus, dem die Ikonen Debussy und auch Ravel gemeinhin zugeordnet werden und es ist die Nähe zur Malerei, ausgehend von dem berühmten Gemälde des französischen Malers Claude MonetImpression - soleil levant“ (Impression aufgehende Sonne, 1874), die diese kunstästhetischen Kategorien in die Musik transformiert. Monet wollte „die Schönheit der Atmosphäre darstellen, das Unmögliche“, … den Augenblickseindruck“.

Der französische Dichter Paul Verlaine (1844-1896) beschreibt diese Affinität von Malerei und Musik treffend in einem Gedicht von 1883: „Musik sei dein Lied vor allen Dingen! Drum ziehe vor, was noch unbestimmt sich löst in der Luft, verweht, verschwimmt und nichts beschwere je sein Schwingen …“

Frederic Chopin auf Père Lachaise, Paris © IOCO
Frederic Chopin auf Père Lachaise, Paris © IOCO

Diese Losgelöstheit von jeglicher Erdenschwere, die damit verbundene Poesie und Innigkeit, gekleidet in ein Gewand purer Schönheit, wird vollkommener Ausdruck in den Werken Frédéric Chopins, der fast ausschließlich das Klavier ins Zentrum seines Schaffens stellte. Er erschloss in seinen Kompositionen völlig neue Klangwelten, nicht nur durch stupende klaviertechnische Erweiterungen, sondern auch durch weiterführende Harmonik, überquellende Chromatik, die in Wagnersche Sphären weist, und spannungsreiche Dissonanzklänge, die Debussys „Emanzipation der Klangfarbe“ als Loslösung von der regelbasierten klassischen Harmonielehre vorwegnimmt.

In seinem 1. Klavierkonzert, das Chopin als 19jähriger schrieb, ist diese individuelle und grenzüberschreitende Musiksprache bereits differenziert ausgestaltet, die reiche Gefühlspalette und ihre feinsten Schwingungen einzigartig eingefangen.

Kongenialer Interpret des Klavierkonzertes ist der polnische Pianist Rafal Blechacz. Man ist geneigt, zwischen dem feinnervigen Pianisten und dem Komponisten Chopin Parallelen zu ziehen, ja, fast erscheint der Pole als die Inkarnation von Chopin selbst. Nicht nur die Nationalität stimmt überein, auch im berühmten Porträt Chopins von Peter Schick (1873) scheint eine verblüffende Ähnlichkeit auf.

Die Noblesse, seine fast aristokratische Haltung, die Sensibilität und reichhaltige Klanggestaltung, die facettenreiche Anschlagskultur und besonders die tiefe Melancholie lassen unter seinen Zauberhänden die magische Klangwelt Chopins lebendig werden.

Anja Bihlmaier, Dirigentin © Nicolaj Lund
Anja Bihlmaier, Dirigentin © Nicolaj Lund

Die lange Orchestereinleitung kommt zunächst etwas gebremst und abgedunkelt daher, die fabelhafte Dirigentin Anja Bihlmaier findet aber mit dem Nationaltheater Orchester und dem Pianisten bald zu einer einheitlichen Tempogestaltung, auch wenn er zunächst im 1.Satz dem Orchester davonzulaufen droht.

Das kraftvoll-majestätische Anfangsthema mit seinem weit ausschwingenden Gestus wird von einem 2. Thema, das ganz nach innen führt, von Blechacz mit feinster Agogik und tragendem piano dargeboten; die gesangvolle Dur-Kantilene tritt - wie entrückt- in eine kurze Zwiesprache mit dem Horn. Die Verzierungen durchlaufen alle erdenklichen dynamischen Stufen, mal brillant, dann wieder mit verspielt Zartheit, in gelöster Freiheit und immer im Dienst der musikalischen Aussage.

So auch der 2. Satz, eine „Romance“, der Chopins Liebe zum Belcanto huldigt und wie aus einer fernen Welt zu uns herüberscheint. „Es soll den Eindruck eines liebevollen Rückblicks erwecken, … die in uns tausend süße Erinnerungen wachruft. Es ist wie eine Träumerei in einer schönen, mondbeglänzten Frühlingsnacht“, schreibt Chopin in einem Brief über sein Konzert. Der Pianist gibt all diesen komplexen Empfindungen Raum, spannt weite singende Bögen, drängt vorwärts, schwankt zwischen Düsternis und Hoffnung und verweilt in der Schönheit des Augenblicks.

Leichtfüßig, schwungvoll kommt der 3. Satz daher, der „Krakowiak“ ein polnischer  Volkstanz, mit seinem speziellen synkopierte  Rhythmus, von Blechacz temperamentvoll und humorvoll gestaltet. Entfesselt, energiegeladen, wirbeln die virtuosen Passagen in einem rauschenden Fest voller überbordender Spielfreude. Grandios!

Dem enthusiasmierten Publikum dankte der Pianist mit zwei Zugaben von Chopin, dem Walzer op. 64,2, und dem Miniatur-Prelude in A-Dur, die in unerhörter Zartheit wie flüchtige Erscheinungen in einem völlig neuen Licht leuchteten.

Der Blick zurück nach vorn

Die Dirigentin Anja Bihlmaier und das Nationaltheater Orchester eröffneten das Konzert mit einem Meilenstein von Maurice Ravel,Le Tombeau de Couperin“, der eine Verneigung Ravels vor den barocken französischen Clavecinisten, insbesondere vor François Couperin (1668-1733) darstellt; eine Suite, die zwischen 1914-1917 zunächst für Klavier Solo komponiert, dann vom Komponisten 1919 für Orchester meisterhaft instrumentiert wurde.

Rafal Blechacz, Pianist © Marco Borggreve
Rafal Blechacz, Pianist © Marco Borggreve

Der Begriff „Tombeau“ meint aber auch metaphorisch „Grabmal“, welches hier mit Erinnerungen an die im 1. Weltkrieg gefallenen Freunde Ravels verbunden ist; jedem der sechs Sätze ist der Name eines Gefallenen zugeordnet; Ravel verarbeitete mit dieser Trauermusik eigene Kriegserfahrungen, die ihn nachhaltig traumatisiert hatten. Darüberhinaus wollte er die bedeutende Musiktradition Frankreichs lebendig erhalten, sich gegen die deutsche Musik mit ihrer üppigen spätromantischen Harmonik in der Wagner-Nachfolge abgrenzen; den Blick zurück richten, die barocken französischen Tanzformen wiederbeleben, diese mit „impressionistisch“ avantgardistischen Klängen erweitern und gleichzeitig mit neuen Impulsen in die Zukunft weisen. Ravel orchestrierte vier von sechs Tanzsätzen.

Wer nun eine düster-schwermütige Trauermusik mit „Grabesklängen“ erwartet, wird überrascht sein von der Lebendigkeit und Leichtigkeit der vier Tanzsätze, ihrer Durchsichtigkeit und Eleganz. Die Dirigentin Anja Bihlmaier kreiert ein feines kleinteiliges Kianggewebe, entlockt dem gross besetzen Orchester dynamische Feinabstufungen und klar artikulierte Bögen, dimmt das Orchester in sehr leise Ausdrucksbereiche. Das 1. Stück, „Prélude“ mit seinen rotierenden Sechzehntelfiguren werden von den wunderbaren Holzbläsern, insbesondere der absolut präzise spielenden Solo-Oboistin in frei anmutender barocker Gelöstheit intoniert. Die Dirigentin agiert mit sichtlicher Freude und weit ausholenden tänzerischen Bewegungen, die das ineinander gleitende Liniengeflecht spürbar und nachvollziehbar werden lassen.

Die kunstvoll ausgestaltete „Forlane“ mit ihrem anmutig punktierten Rhythmus lässt subtil barocke Formen durchscheinen, schwebend, mit glitzernden Holzbläsern, elegant im höfisch sich verneigenden Menuett, in dem weite Kantilenen gespannt werden. Hier dunkelt sich der Charakter ein, die spannungsreiche Harmonik und impressionistisch weichen Streicher- Abschnitte wechseln mit Oboe und Klarinette in reizvollem Kontrast. Die „Rigaudon“ erklingt mit viel Esprit und Schwung, mit pulsierendem Tempo, präzise und virtuos dargeboten, in überschäumender Spielfreude.

Aus dem Klavierzyklus „Miroirs“ (Spiegelbilder), den Ravel 1904/05 geschrieben hatte, orchestrierte er 1918 eines der technisch anspruchsvollsten Stücke: „Alborada del gracioso“ (Das Morgenlied des Narren), das die pianistische Brillanz mit spanischem Kolorit in großer Orchesterbesetzung farbenreich umsetzt, mit Kastagnetten, Krotales, Tamburin, Xylophon, Militärtrommel und Triangel.

Den Morgen unter südlicher Sonne begrüßt der „Spaßmacher“ mit einem Ständchen; Witz und Ironie sind Zeichen seiner Lebens-und Musizierlust, die Anja Bihlmaier und das Nationaltheater Orchester tanzfreudig aufs Publikum übertragen.

Mit bildhafter Plastizität imaginären Streicher pizzicati die Gitarrenarpeggien, Harfen Glissandi verbreiten spanisches Flair, melodienselige Holzbläserthemen wechseln sich ab, die immens schweren Repetitionen in der Klavierfassung übernehmen Trompeten und Hörner mit Tripelzungen-Technik, die nachdenkliche Fagottmelodie erklingt ausdrucksstark und variantenreich. Die akzentuierten Einwürfe des Schlagwerks sowie  den Kastagnetten sorgen für Flamenco Assoziationen. Die Schluss-Steigerung wartet noch einmal auf mit der überschäumenden Energie eines iberischen Freudentages.

In ein schillerndes Wellenbad der Farben taucht man ein mit „La mer“, einer der populärsten Kompositionen des Klangmagiers Claude Debussy, entstanden 1903-1905. Ein Orchesterwerk, in dem das Meer als Spiegelbild der Seele erscheint, sich in drei wechselvollen Bildern dem Künstler in seiner Tiefe und Vielfältigkeit offenbart und einen Gegenentwurf zur Sinfonie im klassischen Sinne bildet. „Drei symphonische Skizzen“ schreibt Debussy im Untertitel, ohne fest-gefügte musikalische Vortragsbezeichnungen; er verwendet einen Begriff aus der Malerei, der eine vorläufige Darstellung, eine Idee suggeriert und Assoziationen der vielschichtigen Natureindrücke des Meeres hervorrufen soll. „Die Musiker sind dazu ausersehen, den ganzen Zauber einer Nacht oder eines Tages, der Erde oder des Himmels einzufangen. Sie allein können ihre Atmosphäre oder ihren ewigen Pulsschlag erwecken“, so Debussy.

Musik war für ihn Klang-und Farbkunst, nicht die Beschreibung steht im Vordergrund, sondern der äußere Eindruck sollte in ein inneres Gefühl verwandelt werden.

Anja Bihlmaier breitet die maritime Atmosphäre dieses musikalischen Naturereignisses in ihren jeweiligen Stimmungen „Vom Sonnenaufgang bis zum Mittag auf dem Meer“, der 1. Skizze. Die Seele beginnt zu schweben, wenn aus der absoluten Ruhe und Verhaltenheit nach und nach einzelne Holzbläsereinwürfe über zarten Streichertremoli aufscheinen, sie kündigen  den beginnenden Tag an; immer mehr anschwellende Streicherwellen in wechselnden Formen beleben die Szene. Es glitzert, singt und schwelgt in Farben und Linien, wunderschön ausleuchtet. Lichtreflexe erscheinen hingetupft, einzelne Tropfen glitzern, synästhetische Eindrücke der Farben blau und grau drängen sich auf. Klangfelder ziehen sich großflächig wie mit breitem Pinselstrich aufgetragen und verebben unvermutet. Ruhe wechselt sich ab mit Bewegung. Eine Oboe seufzt hingebungsvoll und dialogisiert mit einer zart besaiteten Violine, die Celli treten ausdrucksvoll und fordernd hervor, kontrastiert von einem silbernen Flötenmotiv. Die Dirigentin gestaltet rauschhafte Steigerungen, die mit der idiomatischen debussyischen Pentatonik fernöstliche Assoziationen hervorrufen, der 1. Satz endet klanggewaltig mit triumphalen Beckenschlögen.

Im „Spiel der Wellen“ wird die Feinarbeit und Fantasie von Debussys Instrumentation offenbar, die sich im heiteren Spiel, dem Auf-und Ab der Orchesterwogen zeigt. Die Dirigentin ist hier ganz in ihrem Element, fächert den Klang in seiner Komplexität auf, der auch in solistischen Glanzpunkten, mit Trillern, Glissandi und Kantilenen zur Geltung kommt.

Bedrohliche Stimmungen treten im letzten Satz, dem „Dialog von Wind und Meer“ in den Vordergrund, das Gegeneinander der Linien, die chromatischen Motive, tauchen die Meereswelt in dunkle Farben.  „… der Wind lässt das Meer tanzen. Daran arbeite ich nach unzähligen Erinnerungen …“, schreibt Debussy, der eine große Affinität zum Wasser hatte, was er in zahlreichen  Kompositionen, vor allem auch für Klavier, genial beschreibt.

Die Dirigentin gibt hier kraftvolle Impulse, steuert sicher durch die aufgepeitschten Klangwellen, bis Sturm und Flutwelle mit strahlenden Blechbläsersignalen in einer hymnischen Klimax in Symbiose verschmelzen.

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