Mannheim, Musikalische Akademie, 1. Akademiekonzert - Smetana, Dvorák, Strawinsky, IOCO Kritik, 20.10.2022

Mannheim, Musikalische Akademie, 1. Akademiekonzert - Smetana, Dvorák, Strawinsky, IOCO Kritik, 20.10.2022
Der Rosengarten von Mannheim, Spielstaette der Musikalischen Akademie © Ben van Skyhawk
Der Rosengarten von Mannheim, Spielstaette der Musikalischen Akademie © Ben van Skyhawk

Musikalische Akademie Mannheim

Erstes Akademiekonzert - Musikalische Akademie

Smetana - Ouvertüre „Die verkaufte Braut“, Dvorák - Konzert h-Moll op. 104, Strawinsky - Les sacre du Printemps

von Uschi Reifenberg

MIT ARCHAISCHER KRAFT

Musikalische Akademie / hier Alexander Soddy und Fritjof von Gagern © Miina Jung
Musikalische Akademie / hier Alexander Soddy und Fritjof von Gagern © Miina Jung

Die Musikalische Akademie, Mannheim, eröffnete am 7. Oktober 2022 ihre 244. Saison 2022/23 mit drei glanzvollen Meisterwerken der Konzertliteratur und brachte auch ein Wiedersehen mit Mannheims Ex-GMD Alexander Soddy, der nun- zur Begeisterung des Mannheimer Publikums- in neuer Funktion als Chefdirigent der Musikalischen Akademie für die kommende Spielzeit in den Rosengarten zurückgekehrt war.

Der 1. Vorsitzende der Musikalischen Akademie und Solocellist des NTO Fritjof von Gagern begrüßte das Publikum und konnte neben den Stammabonnenten voller Freude 300 neue Abonnenten willkommen heißen, ein klares Bekenntnis zur Musikalischen Akademie und ein hoffnungsvolles Zeichen für die Zukunft.

In den Ruhestand verabschiedet wurde die Flötistin und Vorstandsmitglied Christiane Albert, die seit 1988 dem NTO angehört und mit der letzen Vorstellung an diesem Abend ihren Abschied vom Orchester nahm.

Sehnsucht nach der böhmischen Heimat:  Die erste Konzerthälfte stand ganz im Zeichen Böhmens, mit Werken der beiden Symbolfiguren und Exponenten tschechischer Musik, Bedrich Smetana und Antonin Dvorák.Mit der Ouvertüre aus der komischen Oper Die Verkaufte Braut (1866) von Smetana dem Begründer der tschechischen Nationalmusik und Komponist des weltberühmten Orchesterzyklus „Mein Vaterland“, sorgten Chefdirigent Alexander Soddy und das inspirierte Nationaltheater Orchester für einen furiosen Auftakt.

Warum die Ouvertüre auch viele gefürchtete Probespielstellen für Orchestermusiker birgt, wird schnell nachvollziehbar. Gleich zu Beginn bauen sich fugatoartig in einem rasant dahinjagenden Tempo Streicher-Unisono Figuren auf, eine Paradestelle für Präzision Virtuosität. Diese lebendigen melodischen Achtelketten gipfeln schwungvoll in einem volkstümlichen Tanzmotiv, das mit seinem Synkopen und Akzenten böhmisches Kolorit verbreitet. Alexander Soddy gelingt das sogleich bestens mit elektrisierendem Elan, Präzision und viel Spielfreude. Die ruhige lyrische Holzbläser Passage setzt einen verträumten Ruhepunkt bevor die Musik mit überbordendem Temperament, schmetternden Trompeten und brillanten Flöten in einer grandiosen Steigerung dem Finale entgegenjagt.

Eines der schönsten Solokonzerte des 19. Jahrhunderts schrieb zweifellos der tschechische Komponist Antonin Dvorák mit seinem Konzert für Violoncello und Orchester in h-Moll, das in der Beliebtheitsskala weit oben rangiert. Es ist der Prototyp des romantischen Solokonzertes mit sinfonischem Orchestersatz, Einbindung des Soloinstrumentes ins Orchester sowie einer Ausdrucksskala, die dem Cello eine Vielzahl an Klangfarben, Emotionen und Virtuosität abverlangt und dabei kaum eine romantische Gefühlsregung auslässt.

Dvorák hob das Cello in den Rang eines Soloinstrumentes und schöpfte dessen Potenzial voll aus, was seine bisherige Stellung als reines Ensemble- oder Orchesterinstrument deutlich erweiterte und den Komponisten Johannes Brahms, der Dvorak förderte, zu der Aussage verleitete: Warum habe ich nicht gewusst, dass man ein Cellokonzert wie dieses schreiben kann“.Mit seinen idiomatischen tschechischen Kompositionen wie den „slawischen Tänzen“, der 7. Sinfonie oder dem Stabat mater hatte Dvorák bald den Ruf als herausragender tschechischer Komponist, was ihm eine Einladung in die USA einbrachte, um dort ein Konservatorium zu leiten und den Amerikanern zu einer eigenen nationalen Musik zu verhelfen. In Amerika entstanden seine wohl bekannteste Sinfonie Aus der neuen Welt und 1895 das Cellokonzert, das vom Heimweh nach seiner böhmischen Heimat durchdrungen ist und von seiner unglücklichen Jugendliebe zu seiner Schwägerin erzählt.

Der britische Cellist Steven Isserlis  war der gefeierte Star des Abends und beglückte mit seinem tief empfundenen Spiel voller Intensität und Melancholie. In der ausgedehnten Orchester Einleitung des 1. Satzes mit seinem Ohrwurm-Thema ist man sogleich in der Welt der Romantik angekommen. Alexander Soddy schließt das Orchester in üppigen Farben auf, plastisch treten die Themen in den einzelnen Registern aus dem homogenen Gesamtklang hervor, verhalten in den Holzbläsern, dann heroisch mit strahlendem Tutti-Glanz. Soddy ließ die typisch böhmische Sinfonik Dvoráks mit ihrem melodischen Erfindungsreichtum, tschechisch-folkloristischen Idiomen und vielfältigen tänzerischen Charakteren erblühen.

Sehr zart erklingt das elegische, frei schwebende Hornthema, bis nach einer schwungvollen Steigerung Holzbläser und Streicher sanft zum ersten Cello Einsatz überleiten, der von Steven Isserlis in freiem rhapsodischen Gestus packend gestaltet wird. Sein heller Celloklang besticht durch eine schlackenlose und feine Tongebung, das Vibrato ist frei von romantischen „Drückern“, die virtuosen Passagen, Doppelgriffe und Läufe werden mit Leichtigkeit gestaltet, wie selbstverständlich fügt er sich ins Orchester ein, die freie Agogik wurde von Soddy sensibel unterstützt und weitergeführt. Tastend, fragend, in meditativer Versenkung tönen die Cello-Kantilenen, die hohen Lagen tragen bestens, kleine Balance-Trübungen zwischen Orchester und Soloinstrument minderten an einigen Forte-Stellen die Präsenz des Celloklangs.

Eine enge Verflechtung mit Dvorâks Leben und Werk weist der 2. Satz auf. Während der Arbeit erfuhr Dvorák von der schweren Erkrankung seiner Schwägerin Josefina, seiner ehemaligen Klavierschülerin und früheren Liebe, die ihn damals abgewiesen hatte, der er aber zeitlebens verbunden blieb. Daraufhin verarbeitete Dvorák im 2. Satz eine seiner Liedkompositionen mit dem Titel „Lasst mich allein in meinen Träumen“, eines von Josefinas Lieblingsliedern. Damit setzte er ihr ein Denkmal und bewahrte auch die Erinnerung an seine tiefen Gefühle zu ihr. Als Josefina 1895 starb, änderte er den 3. Satz des Cellokonzerts um und fügte das Liedzitat als Reminiszenz noch einmal ein. Er verzichtete auf eine virtuose Solistenkadenz, ließ den Solopart ruhig ausklingen und überließ dem Orchester das eindrucksvolle Finale. Steven Isserlis dankte als Zugabe mit einer Bearbeitung von Daniel Shafran über ein Traditional aus Georgia, einem duftig-leichten Pizzicato Stimmungsbild.

Musikalische Akademie / 1. Akademiekonzert hier Cellist Steven Isserlis © Kevin Davis
Musikalische Akademie / 1. Akademiekonzert hier Cellist Steven Isserlis © Kevin Davis

Im Herzstück des Konzertes, dem 2. Satz, verweilt Isserlis in kontemplativer Versenkung und entlockt seinem Stradivari Cello edle Farben. Mit seelenvoller Noblesse und klangvollen Piani wird die Liebesklage zum tief empfundenen Bekenntnis. Der 3. Satz erinnert mit seinem marschartigen Thema und schwungvollen Charakter an die Slawischen Tänze, dem Soddy mitreißende Brillanz verleiht. Energisch und zupackend gestaltet Isserlis die hochvirtuosen Passagen, die Musik atmet, fließt, stockt, im Zwiegespräch mit der Solovioline leuchtet Terzenseligkeit auf. Verhalten, in ruhigem Duktus mit langen Trillerketten, schwingt sich das Cello zum letzen langen Schlusston auf, bis das Orchester mit strahlenden Blechbläser Fanfaren einen furiosen Schlusspunkt setzt.

Le sacre du printemps :  Die Sehnsucht nach Neuem und Ungehörtem war groß in kunstbeflissenen Kreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts, der sogenannten „Belle Époque“, und die Metropole Paris galt damals als kulturelles Zentrum und künstlerische Hauptstadt schlechthin. Hier gab sich das Who is Who der angesagtesten Künstler der Zeit die Klinke in die Hand, hier wurden Triumphe gefeiert oder Skandale provoziert, ein Skandal bedeutete für die Künstler häufig nicht Misserfolg, sondern sorgte für die nötige Publicity, was wiederum einem Karriereschub gleichkam. Das aufgeschlossene Publikum dürstete nach fremden Kulturen und Moden, bewegte sich zwischen Weltschmerz und Zukunftseuphorie, in den Theatern und Salons der Stadt trafen sich Mäzene, Adlige, Bürger und Künstler, um die neusten Strömungen in Literatur, Musik oder Malerei zu diskutieren. Die kreative und schillernde Atmosphäre bot einen idealen Nährboden für die Aufbruchstimmung der Avantgarde.

Besondere Aufmerksamkeit erhielt die berühmte Tanz-Truppe „Ballets Russe“ unter ihrem Chef Sergej Diaghilev, der russische Tänzerinnen und Tänzer versammelte und stets auf der Suche war nach Komponisten, die neue Ballettmusiken für seine Truppe schrieben, hier konnte man neue Ausdrucksformen erleben, fremde Kulturen kennenlernen, Folkloristisches oder Exotisches lag voll im Trend, gern gewürzt mit einem Hauch von Orient. Gefeierter Star und Choreograf der Tanzkompanie war der Tänzer Vaslav Nijinsky, bedeutende Bildende Künstler wie beispielsweise Georges Braque, Henri Matisse oder Pablo Picasso waren mit der Tanzgruppe verbunden und schufen Bühnenbilder für die Aufführungen, Komponisten wie Debussy, Ravel, Strauss, Satie, Hindemith und Prokofieff komponierten Ballettmusiken.

Und Igor Strawinsky. Zwei Ballette hatte Stravinsky schon für Diaghilev komponiert Feuervogel (1910) und Petruschka (1911), die ihm einen großen Publikumserfolg beschert hatten. Nun also 1913 die Uraufführung im neu eingeweihten Pariser Théâtre des Champs-Élysées Le sacre du printemps (Frühlingsopfer) „Bilder aus dem heidnischen Russland in zwei Teilen.“ 1. Teil: Die Anbetung der Erde, 2. Teil: Das Opfer. Stravinsky schreibt über die Story: „Als ich die letzten Seiten des Feuervogels niederschrieb, überkam mich die Vision einer großen heidnischen Feier, alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Frühlingsgott gnädig zu stimmen.“ Ein zugegebenermaßen schwer verdauliches Sujet, auch heute noch.

Angeregt durch neue ästhetische Perspektiven des „Ballets Russe“ beschäftigte sich Stravinsky verstärkt mit archaischen Riten und uralten russischen Volksliedern, die der atavistischen Handlung des „Sacre“ zugrunde liegen. Im „Frühlingsopfer“ bricht Stravinsky mit gängigen Konventionen, vor allem mit der Musiksprache des 19. Jahrhunderts, in der Melodik und Harmonik sowie die Verarbeitung und Entwicklung von Themen im Vordergrund standen und die damaligen Hörgewohnheiten dominierten. Setzten Schönberg, Berg und Webern zeitgleich skandalträchtig in Wien mit ihrer Zwölftontechnik auf die „Emanzipation der Dissonanz“, gelang Strawinsky mit der „Emanzipation des Rhythmischen“ bald nach dem Uraufführungs-Skandal von „sacre“ der Durchbruch. Die Pariser Uraufführung des „Sacre“ ging bekanntermaßen als berühmt-berüchtigter „Skandal des 20. Jahrhunderts in die Annalen der Musikgeschichte ein. Es kam zu lautstarken Zwischenrufen, tumultartigen Protesten und sogar zu Handgreiflichkeiten, der Fortgang der Vorstellung wurde massiv gestört, die Presse überschlug sich, die grenzensprengende Uraufführung von Stravinskys bahnbrechendem Werk ließ die Ästhetik des 19. Jahrhundert hinter sich und öffnete weit das Tor in die Moderne.

Einem riesigen Orchester von über 100 Musikern wurde fast Unmögliches abverlangt. Rasch folgende Taktwechsel, polyrhythmische Schichtungen, Auflösung gängiger Strukturen, extreme Lautstärke und Dynamik, Polytonalität, dissonante Klangstrukturen, hämmernde Ostinati, ungewohnter, fast unnatürlicher Einsatz der Instrumente. Diese unerhörte Musiksprache traf auf enttabuisierende tänzerische Darstellungen, keine eleganten klassischen Choreografien, kein Spitzentanz, keine Plissee-Röckchen, sondern Sackleinen, stampfende zuckende Bewegungen, wilde Luftsprünge, verrenkte Leiber, der moderne Ausdruckstanz war geboren. Auch nach über 100 Jahren hat „sacre“ nichts von seiner Faszination eingebüßt und ergreift mit seiner präsenten, archaischen Wucht und unbändigen Energie.

 Igor Stravinski auf den Toteninsel bei Venedig © IOCO
Igor Stravinski auf den Toteninsel bei Venedig © IOCO

Dirigent Alexander Soddy und das Nationaltheater Orchester ließen dieses Ausnahmewerk zu einem unmittelbaren und intensiven Erlebnis werden, evozierten starke Bilder voller Leben in wechselvollen Stimmungen und machten die rhythmische Urkraft der Musik in jedem Moment körperlich spürbar. Im 1.Teil, der „Anbetung der Erde“ erhebt sich klagend und behutsam das Fagottsolo in seiner seltsam hohen Lage wie aus mythischem Urgrund, das immer mehr von einzelnen Bläsern flankiert wird, die, heftig drängend Frühlingsahnung verbreiten. Soddy gelingen große Spannungen im Wechsel von Ruhe und Bewegung, unvermutet tritt der „Tanz der jungen Mädchen“ auf, mit seinem durchgehenden, synkopiertem perkussiven Streicherpuls, von grellen Einwürfen der Bläser kontrastiert. Lustvoll kostet Soddy die Klangfarbenvielfalt der Instrumente aus, sucht das Melodische im strengen Rhythmus, lässt Akzente aufblitzen, bis die mächtigen Paukenschläge und Hornsignale den ersten Höhepunkt markieren. Die erwachende Natur ist hier plastisch und frei atmend ins Werk gesetzt, bestens gelingt Soddy die Polarität von Spannungsaufbau und Entspannung, kantabel das Klarinettensolo, der rasche Wechsel zum nächsten Bild vereint lärmende Steigerungen, Dissonanzen, grelle Effekte, harte Paukenschläge. Der Einsatz der Guiro (Ratschgurke), bereitet den inneren Höhepunkt des 1.Teils, den „Kuss der Erde“ durch den „alten Weisen“ vor, ein sanftes, retardierendes Moment , bevor der erste Teil mit kompromissloser Vehemenz unvermittelt abbricht. Soddy lenkt den Orchesterapparat mit entfesselnder Energie und Stabilität durch die Klippen der Partitur, arbeitet sich am rhythmisch Perkussiven ab, ohne die tänzerische Komponente zu verlieren, der Tutti-Klang ist stets geformt und strukturiert, die Klarheit der Linienführung deutlich herausgearbeitet, Im zweiten Teil, „Das Opfer“ beginnt in der Einleitung mit einer ruhigen Bewegung der Holzbläser und Streicher, Soddy schafft fahle Klangflächen, die eine unbestimmte, bedrohliche Atmosphäre verbreiten. Archaisch, spröde, schälen sich Melodiefragmente der hohen Streicher heraus. Immer wieder bricht der Fluss ab, tastet sich suchend weiter, weitet sich ins Kontemplative. Soddy lässt viel Raum für Details, nimmt die Spannung fast vollständig raus, sehr leise klingen Trompeten und Streicher, die um sich selbst kreisen in irisierenden impressionistisch anmutenden Farben, geschmeidig und verhalten. Elektrisierend brechen dann die Paukenschläge ein, die „die Verherrlichung der Auserwählten“ einleiten, das wild barbarische Stampfen bricht durch mit kompromissloser Wucht, Soddy schafft Ordnung im Chaos, ständige Taktwechsel, aufgeschichtete Klangmassen, Ostinati, Akzentverschiebungen lassen das Opfer in immer wilderen Taumel verfallen. Blechbläserfetzen, Aufbegehren, Ekstase kulminieren im unerbittlichen Rausch des Rhythmus, bis zur Katharsis im finalen Todesschlag:  Erlöst blickt die Gemeinschaft nun der Erneuerung der Welt entgegen.

Das begeisterte Publikum feierte Dirigent, Solist und Orchester enthusiastisch mit Bravorufen und minutenlangem Beifall.

---| IOCO Kritik Musikalische Akademie Mannheim |---