Mannheim, Mozartsaal im Rosengarten, Ludwig van Beethoven, GMD Roberto Rizzi Brignoli, IOCO
Der Dirigent gestaltet Beethovens Dialektik mit glühender Innenspannung, gibt viel Raum für die Schönheiten der Holzbläser, die entfesselte Dramatik trifft auf das Seitenthema mit seinen kontrastierenden Motiven, zerklüfteten Abschnitten, die sich verdichten, dann wieder auflösen.
von Uschi Reifenberg
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125
GMD Roberto Rizzi Brignoli, Dirigent
Nationaltheater Orchester
Estelle Kruger, Sopran
Julia Faylenbogen, Alt
Jonathan Stoughton, Tenor
Sung Ha, Bass
Opern- und Extrachor des NTM
Einstudierung: Alistair Lilley
Mit Musik die Welt verändern
Man muss Feste feiern, wie sie fallen: Zum 224. Geburtstag von Ludwig van Beethoven, geboren am 17.12.1770, brachte die Musikalische Akademie dem Meister nun in ihrem 3. Konzert am 16. und 17. Dezember ein gewichtiges Ständchen dar, das ihn bestimmt sehr gefreut hätte: seine „Neunte“, die „Sinfonie aller Sinfonien“, Symbol der klassischen Musik schlechthin und Fanal für Frieden, Freiheit und Brüderlichkeit.
Die 9. Sinfonie feiert in diesem Jahr ihr 200. Jubiläum, auf dem Programm der Musikalischen Akademie stand das Werk zum letzten Mal vor 25 langen Jahren, höchste Zeit also, die Sinfonie endlich wieder ins Zentrum eines Konzerts zu stellen, zumal Anlass und Zeitpunkt nicht besser passen könnten.
Die beiden Konzerte im Mannheimer Mozartsaal waren schon Wochen vorher ausverkauft, das Publikum in freudiger Erwartung, der Jubel am Ende dieses denkwürdigen Abends lang und übergroß. Mit diesem exzeptionellen Werk brachte die Akademie auch ein erfolgreiches Konzertjahr zum Abschluss, das der frohen Botschaft des Weihnachtsfestes Beethovens universelle Visionen vom friedlichen und freudigen Zusammenleben aller Völker hinzufügte. Kern dieser Botschaft ist bekanntlich der weitreichende Text von Friedrich Schiller, den Beethoven im 4. Satz, der „Ode an die Freude“ vertonte: „Alle Menschen werden Brüder“, und „Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Nicht nur zum Jahreswechsel, auch bei wichtigen staatstragenden Anlässen wird die Neunte regelmäßig zum Aushängeschild, Regierungen und Institutionen weltweit machen sich Beethovens kolossalen Menschheitstraum zunutze. Die Sinfonie diente darüber hinaus in allen Epochen als Projektionsfläche vielfältigster Ideologien, im 1. Weltkrieg als Heldensinfonie, dann missbrauchten die Nazis sie für ihre Zwecke. Sie begleitete die Olympischen Spiele, bereicherte Filme, die Melodie „Freude schöner Götterfunken“ wird überall auf der Welt sofort erkannt. Bernsteins denkwürdige Aufführung 1989 anlässlich des Mauerfalls ist vielleicht am stärksten in Erinnerung geblieben. 1985 erklärte die Europäische Gemeinschaft das Hauptthema des 4. Satzes zur offiziellen Europahymne, 2001 nahm die UNESCO die Originalpartitur ins Weltdokumentenerbe auf. Dennoch kann sich durch die Überstrapazierung des „Freudenthemas“ bisweilen auch eine gewisse Ermüdung einstellen …
Ausstrahlung und Aussage der Sinfonie sind nichtsdestotrotz immer noch von bestechender Aktualität. Gerade in unseren Zeiten weltweiter Krisen, Kriege und wachsender Ungleichheit erscheint die Sehnsucht nach Beethovens immerwährender Utopie einer besseren Welt essenziell. Sie transportiert Werte, die alle Menschen teilen: Hoffnung und Zuversicht, die viel beschworene Einheit in der Vielfalt. Es lässt sich am besten pathetisch ausdrücken: Vor allem ist es die Kunst, die Musik, welche Vereinigung, Zusammenhalt und Identität stiften kann und als elementare Daseinsgrundlage unverzichtbar ist.
Uraufgeführt 1824, war die Sinfonie auf Anhieb ein großer Erfolg, Beethoven selbst war zu dieser Zeit schon völlig taub. Er leitete zwar die Uraufführung, musste aber von einem Co-Dirigenten gestützt werden, eine absolut tragische Situation. Das Bahnbrechende war die Hinzunahme des vokalen Elements, ein Novum in einer Sinfonie: großer Chor und Solisten erweitern im Finale die rein instrumentale Besetzung, eine Grenzüberschreitung, die auch mit der Dauer von ca. 70 Minuten die neue Epoche der Romantik einleitete. Insbesondere Wagner, Mahler und Bruckner setzten den von Beethoven eingeschlagenen Weg in der Neunten fort und lösten ästhetische und philosophische Diskurse aus. Für Wagner führte er geradeaus zum Musikdrama, Mahler integrierte 70 Jahre später in großem Stil in seinen Sinfonien monumentale Chor- und Solistenbesetzungen. An dieser Sinfonie gab und gibt es für nachfolgende Tonsetzer kein Vorbeikommen.
GMD Roberto Rizzi Brignoli lässt die berühmten leeren absteigenden Quinten am Beginn des 1. Satzes weniger aus unscharfer, sehr leiser geheimnisvoller Klangmystik entstehen, als in deutlich artikulierter Prägnanz, in deren Folge sich das ganze Orchester mit großem crescendo aufbaut und das energische Hauptthema „maestoso“ hereinbricht. Der Kampf kann beginnen.
Den ficht Rizzi Brignoli mit beeindruckender Energie aus, die Musikerinnen und Musiker des Nationaltheater Orchesters beweisen in diesem „opus magnum“ einmal mehr ihren hohen Standard und folgen ihrem GMD auf dem Weg „per aspera ad astra“, „durch Nacht zum Licht“, was in 4 Stationen, respektive Sätzen in einer grandiosen Entwicklung mitzuerleben ist.
Der Dirigent gestaltet Beethovens Dialektik mit glühender Innenspannung, gibt viel Raum für die Schönheiten der Holzbläser, die entfesselte Dramatik trifft auf das Seitenthema mit seinen kontrastierenden Motiven, zerklüfteten Abschnitten, die sich verdichten, dann wieder auflösen. Er baut die Architektur dieses Satzes klar, zeigt das Aufbegehren mit widerborstigen Sforzati, den typisch Beethovenschen Trotz im nie nachlassenden Duktus immer dabei. Sehr kantig werden die rhythmischen Intervallsprünge artikuliert, die Zusammenführung aller Kräfte, von Paukenwirbeln unterstützt, entlädt sich in einem fulminanten Höhepunkt. Der 2. Satz, ein Scherzo, hat seinen Platz mit dem langsamen Satz getauscht, was als „Ruhe vor dem Sturm“ des 4. Satzes interpretiert werden könnte. Der Anfang überrascht mit seinem doppelten Oktavmotiv im fortissimo und der Pauke sowie dem anschließenden sehr leisen staccato-Puls der Violinen, molto vivace, und gehört zu den singulärsten Satzanfängen Beethovens. Rizzi Brignoli hat sichtlich und hörbar Freude, der Satz strotzt vor mitreißendem Witz und rhythmischer Energie. In sehr schnellem, immer federndem Tempo wechseln sich die Einsätze der Instrumentengruppen ab, die in ihrer Farbigkeit und Präzision fast atemlos dahinjagen. Mit den mehrmaligen Pausen baut der GMD große Spannungsmomente auf, der Dialog zwischen Pauke und Orchester wirkt effektvoll, ebenso das Fugato mit seinen wechselnden Themeneinsätzen, das sich in einem fortissimo Höhepunkt des Themas entlädt. Beeindruckend, wie Dirigent und Orchester die Spannungsverläufe immer wieder „von unten“ aufbauen. Ein Solo-Posaunenruf weist auf den folgenden Trioteil hin. Dieser kontrastiert mit seinen weichen Holzbläserlinien, innig gestaltet, hätte aber ein wenig mehr im unteren dynamischen Bereich beginnen können. Kleine Unstimmigkeiten des Themas im Horneinsatz, dann aber schön artikuliert im Fagott und der Flöte. Der Wiedereinstieg des Scherzos lässt noch einmal mit den rhythmischen Oktavsprüngen die alte Widerborstigkeit aufleben.
Der langsame 3. Satz atmet Schönheit und Ruhe, wunderbar blühen die Kantilenen, zuerst im Fagott, dann in den Streichern, die sukzessiven Einsätze der Instrumentengruppen feiern den Augenblick, tröstend und frei. Der Dirigent lässt den Geist der Romantik sprechen, in fast religiöser Anmutung. Er lotet feine Nuancen aus, der Tonartenwechsel stellt die Holzbläser ins Zentrum, schwelgerisch aufblühend, die Variationen des Themas werden in wechselnder Farbigkeit beleuchtet. Die versöhnende Synthese gipfelt im viel besungenen Finalsatz, der Überwältigung pur liefert und die Grenzen der absoluten Musik erweitert. Zunächst aber bricht eine schmerzvolle Dissonanz der Bläser in die spannungsgeladene Stille: Richard Wagner bezeichnete sie als „Schreckensfanfare“, die dem kathartischen Schluss vorausgeht. Celli und Kontrabässen fahren in opernhaft dramatischem Gestus immer wieder dazwischen.
Rizzi Brignoli formt den Akkord mit erschütternder Intensität, die Themen der vorangegangenen Sätze erscheinen wieder als Reminiszenz, bis Beethoven ein neues Thema einführt: Kontrabässe und Celli intonieren das „Freudenthema“, geheimnisvoll, sehr leise. Wunderbar der Aufbau, wenn Bratschen, Fagott und Violinen hinzutreten, das Orchester in seiner Gesamtheit den Gedanken der Menschheitsverbrüderung verkündet und den Weg frei macht für den Einsatz der menschlichen Stimme. Den ebnet wieder die „Schreckensfanfare“ für den Appell des Basses Sung Ha, der mit würdevollem, hochgespannter Stimme das Jubelfinale einleitet. „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere“. Instrumentales und vokales Element verbinden sich hier gleich dem humanistischen Postulat Beethovens. Estelle Kruger, Sopran, Jonathan Stoughton, Tenor, Sung Ha, Bass und Julia Faylenbogen, Alt sind das hervorragende Solistenensemble, das die teils halsbrecherischen stimmlichen Anforderungen virtuos meistert. Chor und Extrachor des NTM, einstudiert von Alistair Lilley, wachsen über sich hinaus und bewältigen den schwierigen und heiklen Part brillant in mitreißender Begeisterung.
Dirigent, Orchester, Solisten und Chor steigern sich wie in dionysischem Taumel zur grandiosen Schlussapotheose. Es kann nicht anders sein, mit dieser Musik muss die Welt ein Stückchen besser werden! Lautstarker, langer Beifall und der Wunsch an die musikalische Akademie, nicht mehr 25 Jahre zu warten mit der nächsten Aufführung „der Neunten“.