Lviv - Ukraine, National Oper, Die schreckliche Rache - Oper Jewhen Stankowytsch, IOCO Kritik, 08.01.2023
DIE SCHRECKLICHE RACHE - Oper Jewhen Stankowytsch, nach Mykola Gogol
Uraufführung - National Oper Lviv / Lemberg - über die "Quadratur des Kreises"
Vorwort der Redaktion: IOCO pflegt seit vielen Jahren vielfältige kulturelle wie persönliche Beziehungen zur Ukraine; so schaltet IOCO auch regelmäßig Berichte des IOCO Redaktionmitglieds Prof. Adelina Yefimenko aus der Ukraine, auch als dort noch Frieden herrschte. Heute berichtet IOCO aus der National Oper in Lviv, dem früheren Lemberg. Lviv wird zur Zeit, wie viele Städte der Ukraine, von Putins russischen Horden völkerrechtswidrig zerbombt, misshandelt. IOCO möchte seinen Besucher*innen mit der Rezension von Adelina Yefimenko zur Uraufführung der Oper Die schreckliche Rache von Jewhen Stankowytsch aus der National Oper Lviv inmitten des jetzigen großen Leidens der ukrainischen Bevölkerung die Schönheit, die reiche Kultur der Ukraine näher bringen.
Die National Oper Lviv arbeitete im Kriegszustand von 2022 an der Grenze der Möglichkeiten. Bei regelmäßigen Unterbrechungen durch Sirenen und Stromausfällen bereitet es die Opern-Premieren vor. Auch die neue Ballettaufführung anlässlich des 300. Geburtstages von Grigorij Skovoroda Erkenne dich selbst beendete erfolgreich das Opernjahr 2022. „Das ist unsere Linie der Fronten“ – sagen viele ukrainische Künstler und Beteiligte an den Produktionen der National Opera Lviv. Die Besucher erleben die Produktionen stets mit der Sorge im Hinterkopf, bei ertönenden Sirenen schnell in die Keller .... des Theaters zu flüchten. Die schreckliche Rache erlebte Adelina Yefimenko live in Lviv Ende November 2022.
Ein Spaziergang um die National Oper Lviv youtube Zhiguli Traval [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
DIE SCHRECKLICHE RACHE - Oper von Jewhen Stankowytsch, nach Mykola Gogol
von Adelina Yefimenko
Aus der Bibel lernt man wenig über Mathematik. Eine Ausnahme bildet die Beschreibung eines Beckens in Salomos Tempel: „Und er machte ein Meer, gegossen vom einen Rand zum anderen zehn Ellen weit, … und eine Schnur, dreißig Ellen lang, war das Maß ringsherum. Thomas de Padova[1]
Prolog
Die Quadratur des Kreises ist ein transzendentes Problem, „Mathematik zwischen Wahn und Witz“ (Underwood Dudley). Mathematiker, Physiker und Philosophen scheiterten am Versuch, einen Kreis in ein flächengleiches Quadrat zu verwandeln. Das Problem einer geometrischen Konstruktion mit Zirkel und Lineal führte durch die irrationale, transzendente Suche nach der „Quadratur des Kreises“ auch in der Kunst. Und so etablierte sich der Begriff „Quadratur des Kreises“ in allen Gebieten als Metapher für eine unlösbare Aufgabe. Schon Dante vermittelte in seiner Göttlicher Komödie: „Wie um den Kreis zu messen sich vergeblich, der Mathematiker abmüht mit Denken, weil ihm der Grundsatz fehlt, den er bedarf“. Über Zeiten und Kulturen hinweg bedeuten Kreis und Quadrat in Kunst und Architektur seit jeher das Göttliche und das Irdische. Der Kreis ohne Anfang und Ende symbolisiert Zeit- und Grenzenlosigkeit, und das Quadrat mit seinen vier Seiten repräsentiert die vier Elemente und Himmelsrichtungen. Diese spezifische Kombination zweier geometrischer Formen ist ein vom Psychoanalytiker Carl Gustav Jung definierter Archetyp des kollektiven Unbewussten.
Welche Verbindungen mit welchem Grundsatz tauchen zwischen dem geometrischen Problem und der Neuinszenierung der ukrainischen Oper Die schreckliche Rache in Lwiw (Lemberg) auf? Musikwissenschaftlerin Adelina Yefimenko reiste während des Krieges in die Ukraine, um die Premiere dieser Oper am 13. November 2022 in Lviv National Oper zu erleben und für die IOCO-Leser darüber zu schreiben.
DIE SCHRECKLICHE RACHE - an der National Oper Lviv youtube Lviv National Opera [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Die Oper, nach der gleichnamigen Novelle von Mykola Gogol, komponierte einer der bedeutendsten zeitgenössischen ukrainischen Komponisten Jewhen Stankowytsch vor ca. 40 Jahren. Stankowytsch stellt den ukrainischen Prosaiker neben Dante, Goethe und äußerte sich sehr schätzend über sein Werk: „Gogol poetisierte nicht bloß die mystische Atmosphäre in seinem Werk, sondern brachte auch die Erkenntnis über die Quantenphysik in die Weltliteratur“[2].
Die Einflüsse der Unter-und Ober-Welten und unlösbare Kämpfe der Dämonen und Menschen zeigte Gogol unter dem Blickwinkel der historischen und mystischen Dimensionen. Der Kreis war für Gogol dazu ein Symbol der kreisförmigen Annährung menschlicher Seele an das Jenseits.
Trotz schwieriger Umstände auf Grund des Krieges in der Ukraine gelingt die Neuinterpretation dieser rätselhaften Handlung mit nationalen volkstümlichen und interkulturellen Einflüssen. Die Premiere der Oper fand an der National Oper Lviv am 13.November und am 25. November 2022 mit verschiedenen Besetzungen statt. 2023 wird in der neuen Spielzeit ins Repertoire der Oper Lviv aufgenommen. Mit dieser Weltpremiere wurde u.a. das 80-jährige Jubiläum des Komponisten gefeiert.
Das internationale Projekt dieser Operninszenierung unterstütze das Goethe Institut. Die Autoren der Regie, des Kostüm- und Bühnenbildes – die deutschen Künstler*innen Andreas Weirich (Regisseur) und Anna Schöttl (Bühnenbildnerin) – deuteten viele Sinngebungen in Stankowytschs Oper und visualisierten zusammen mit dem Choreographen Serhii Naienko geometrisch abgemessene, kreisende oder extensiv eckige Bilder und Bewegungen. Als Zuschauer weiß man nicht, ob man immer das sieht, was das Regie- und Ausstattungsteam gewollt hat, aber sobald man einen Kern oder auch eine Stelle findet, an der man andocken kann, egal was das ist – das kann eine Person sein oder ein Bühnenelement, versteht man sofort das Wesentliche. Für Gogol war das Wesentliche – seine Heimat. Sie ist so wie für Salomon „das Becken in Gogols Tempel“. Die Ukraine hat er in seiner Novelle Die schreckliche Rache als Gelobtes Land dargestellt, im Augenblick des Liedes eines Kobzar (*ein umherziehender ukrainischer Barde, der zu seiner eigenen Begleitung sang, die er auf einer mehrspurigen Bandura oder Kobza spielte). Mit dem Gesang des Kobzar über den Brudermord wird die ukrainische Grenze wie ein Kreis vermessen. Für den Bruder Ivan öffnet der Horizont die Sichtbarkeit des Landes von Nord bis Ost und Süd bis West. In einem Rundblick werden die Karpatenberge bis zum Schwarzen Meer, Galizien bis zur Slobozhanshchina und Donezk gesehen, denn auf dem Gipfel des Karpaten-Bergs sitzt der Kosak Ivan seit ewige Zeiten auf seinem Pferd[3] und wartet, dass seine Rache in Erfüllung geht. Der Rückblick in die zeitlose Vergangenheit bildet das Finale in Gogols Novelle, in der Oper wird diese Vorgeschichte vom Richter wie eine liturgische Predigt zwischen den Akten vorgetragen (der Richter – Vasyl Vovkun). Nicht Kobzar, sondern der Hohe Richter als Gottes Stellvertreter oder Gott selbst erzählt die Episode des Brudermordes: der böse und neidische Bruder Pjetro tötete seinen erfolgreichen Bruder Ivan und sein Kind. Beim jüngsten Gericht betet Ivan zu Gott um die Rache und den ewigen Fluch für Pjetros Nachkommen. Gott erfüllt Ivans Bitte: der Kosak muss mit seinem Kind ewiges Elend und Leid der Nachfahren des Bruders vom Berg herab beobachten.
Furchtbare (schreckliche) Rache - Handlung und weitere Hintergründe - link HIER!
Facetten der Deutung
- Brudermord: zwischen Vertrauen und Verrat
Der Komponist erforschte Gogols Werk vielfältig und lehnte sich in seiner Musik an die ukrainische Archaik. Aber auf die Frage über die Aktualität der Oper Die schreckliche Rache, antwortet der Komponist: „Gogols Die schreckliche Rache hat viele philosophische Hintergründe... Wenn wir es mit der heutigen Zeit vergleichen, geschieht dasselbe auch heute. Es gibt Menschen, die ihr Land beschützen; sie sind in diesem Land geboren und lieben ihre Heimat. Es gibt aber auch diejenigen, die sie verraten. Verräter bringen den Feind in ihr Land. Das wird auch in Gogols Geschichte mit Bösen Mächten assoziiert… Und wenn wir das Recht auf einen geistigen Appell an etwas haben, wie jeder Mensch auf dieser Erde, dann ist es das Gute und das Licht“[4].
Oft werden die zwei Brüder der Opr, Ivan und Pjetro, mit den biblischen Figuren Kain und Abel verglichen. Denn die biblische Weisheit sagt: "Der Herr sprach zu Kain: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde." 1. Mose 4,10. Aber Kain sagte dann zu Gott: “Meine Schuld ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte.” (4,13).
Das Libretto schrieb Jewhen Stankowytsch selbst, kürzte viele Passagen des Gogol’schen Textes und seine Musik wirkt als grausamer Widerhall dieser schrecklichen Stimmen des Blutes durch den Brudermord. Warum wurden so viele Menschen im Laufe der Menschheitsgeschichte getötet? Diese Frage versucht der Regisseur Andreas Weirich anders als Gogol und Stankowytsch zu beantworten: wenn der Sohn des Kosaken Danylo, der junge Ivan der Angst vor dem Hexer überwindet und ihm mit allen seinen Kräfte wiedersteht, endete der Fluch und eine neue freie Menschheit lebt weiter.
In der Inszenierung ist wenig von den dämonischen Grotesken Gogols zu sehen. Erst wenn Gogol versucht, das Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwören, wird die Bühne in dieser Neuinszenierung mit den Toten aus der Hölle des Hexers belebt. Diese Toten, mit Prothesen statt Armen und Beinen, wurden irgendwann im Krieg getötet und versuchen immer wieder die Kosaken in die Hölle zu schleppen. Es gelingt ihnen aber nicht. Später fallen Danylo und seine Kosaken im Kampf gegen den Feinden. Andreas Weirich vermeidet die populistisch-historische Interpretation dieses Textes als Geschichte des historischen Verrats, wie der Literaturwissenschaftler Volodymyr Zvinyatskovsky eine Hypothese formulierte, dass in Die schrecklichen Rache der Zar Peter I. als Bösewicht, Pjetro und Hetman Ivan Mazepa als Ivan symbolisch dargestellt werden[5].
- Bräuche und Riten
Der Regisseur stellt also die Inszenierung nicht auf die Gleise der Aktualisierung. Die Parallele zum jetzigen Krieg ist ausgeschlossen. Dies ist eine richtige Entscheidung ebenso auch von Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Schoettl, Regieassistent Anton Lytvynov und Lichtdesigner Oleksandr Mezentsev, um vor allem die Sitten einer Kosakenfamilie mit folkloristischen Riten, Mysterien, Aberglauben, Dämonen und ihrer Bekämpfung in mystischen und rustikalen Bildern darzustellen. Zu seinem Regiekonzept erklärte der Regisseur, auch keine politischen Themen heranzuziehen. „Unsere Geschichte ist eher ein Mythos über den Hexer, die Gesellschaft und die Familie des Hexers“ – berichtet Andreas Weirich im Interview[6]. Die „Werktreue“ ist für dieses Regiekonzept kein Fremdwort. Auch für Stankowytsch war Gogol eine Persönlichkeit, die „wie kein anderer in der ukrainischen Literatur die Bräuche und Riten der Ukrainer mit so einer großer Liebe beschrieb …, die auf einzigartige Weise unsere tausendjährige Mythologie und unseren Glauben, die eng mit der Entwicklung und der Vision der ganzen Welt verbunden sind, verewigt“[7].
Weirich und Schöttl haben ein feines musikalisches Gefühl. „Fantastische Metamorphosen und eine Fülle mystischer Schrecken“ sind klar hörbar im Klang der Oper und fassbar in der Inszenierung. Die Musik springt zwischen den Extremen Laut und Leise, Schnell, Langsam, um nur keine falsche Sicherheit aufkommen zu lassen. Die karge Instrumentation dämpft alle Farbigkeit, die musikalische Stimmung wirkt unbeständig.
Für die kontrastrechen Facetten der Orchestersprache von Stankowytschs Folkloristik bis zu impulsiven Ausbrüchen der Stimmung zwischen den mystischen Träumen Katerynas und dem Streiten Danylos mit dem Hexer trugen mit großer Verantwortung und Können die zwei Dirigenten Ivan Cherednichenko (13.11.) und Volodymyr Sirenko (25.11.) bei.
- Psychologische Hintergründe
Die historischen sowie heidnischen Motive über das Leben des Kosaken Danylo, seiner Frau Kateryna, ihres Sohnes Ivan und des Schwiegervaters (Hexer) bekommen in dieser Lesart eine schrille psychologische Deutung. Die Menschenseele ist vom Zweifeln zerrissen. Das Visuelle spielt dabei die entscheidende Rolle, da alles, was scharfsichtig verzerrt ist, nicht menschlich ist, nicht lebendig und nicht fremd. Das ist die Unterwelt des Hexers. Auch das Bühnenbild, das zu Beginn auf dem stabilen Boden der Parkettfläche steht, deformiert später diese Fläche ständig, verzerrt sie und verkratzt sie. Wie Weirich sagt „Wenn der Hexer kommt, ist das wie der erste Kratzer auf dem Parkett“[8].
Die Novelle Die Schreckliche Rache gehört zum Frühwerk (1831-1832), in dem Gogol noch ländliche und historische Themen der ukrainischen Kosaken bündelte. Aber ein wichtigster Themenbereich innerhalb dieser folkloristischen Phase mimt ex aequo (gleichermaßen) das Dämonische. Sogar nach dem Umzug nach St. Petersburg beschäftigte sich Gogol weiter mit der Erforschung der menschlichen Psyche und des menschlichen Verhaltens in Grenzsituationen.
Kateryna, die Frau des Kosaken Danylo Burulbasch versucht sich vom Einfluss ihres monströsen Vaters (der Hexer, Roman Trokhymuk) zu befreien. Er erstach die eigene Ehefrau und bedroht nun Danylo und ihren Sohn. Die Handlung nimmt im Hof und am Ufer des Flusses Dnipro seinen mysteriösen Lauf. Im Traum kommt Katerynas Seele zum Hexer. Er zwingt sie zur Heirat. Konsequent folgt das Regieteam dem Thema des Inzestes, denn Kateryna ist die Einzige, die glaubt, den Hexer vom Fluch zu befreien und seine Seele zu retten, obwohl sie weiß: „Keine Strafe in der Welt kommt deinen Sünden gleich!“[9]. Danylo sperrt den Schwiegervater-Hexer ein, Kateryna befreit ihn. In der Oper singen Kateryna und ihre Seele zwei Sängerinnen – ein irdischer, farbig eigenartig getönter Sopran von Daria Lytovchenko wird kontrastiert mit den hellen, transparenten Koloraturen von Marianna Tsvietinska. Der Hexer (Charaktertenor Roman Trokhymuk) hasst und streitet mit dem Schwiegersohn (eine exzellente Darstellung und perfekter Gesang von Taras Berezhanskyi). Nach dem Tod ihres Mannes verliert Kateryna den Verstand. Die bösen Mächte siegen und Katerynas Abgesang hinterlässt keine Hoffnungen: „In einem blut'gen Wagen / Fährt der Kosak durchs Land, / Zerschossen und zerschlagen, / Das Schwert in kalter Hand. / Drum fließt von ihm das Blut /Als roter Bach zum Sand. / Am Bach, da steht ein Baum, / Ein Rabe sitzt darauf. / Ach Mutter, laß das Weinen, / Du weckst den Sohn nicht auf“[10].
Die erschütternde Tragödie, die mit dem Wiegenlied einer wahnsinnig gewordenen einsamen Frau endet, lässt nur noch bleierne Stille und Sprachlosigkeit übrig. Sie deutet damit weitaus mehr zwischen den Zeilen an, und überlässt damit dem Publikum die Deutung dieses „Dazwischen“.
Quadratur des Kreises - in der ukrainischen Historie
Die Oper Die schreckliche Rache von Jewhen Stankowytsch verdient zu Recht die Auszeichnung „Aufführung des Jahres 2022“. Der Komponist arbeitete mit der Partitur über mehr als 10 Jahren, die Oper wurde nie in der Sowjetunion und auch später aufgeführt. Leider konnten 2022 nur die Ukrainer in Lviv die diese Weltpremiere erleben. Es bleibt völlig unklar, ob Zeit für den Besuch dieser Produktion von internationalem Publikum und Musikkritikern möglich ist. Momentan wäre die Reise in die Ukraine noch riskant. Denn das Jahr 2022 hinterließ das Schlagwort des 21. Jahrhunderts „Krieg“.
Dabei ist jede Neuinszenierung, jedes Konzert, jede Oper nur ein Annäherungsversuch, die irrationalen Wege der ukrainischen Geschichte gründlicher zu erforschen. Denn die transzendente Wirkung von Gogols / Stankowytschs Oper Die schreckliche Rache ähnelt der unlösbaren Problematik der Quadratur des Kreises der ukrainischen Geschichte mit ihren Heroen und Feinden, ihrer Vernichtung und ihrem Befreiungskampf, ihre Heiligen und Dämonen.
Die Konzeptionsgespräche, Texte im Programmheft, Premierenfotos, Skizzenbücher, Interviews mit dem Regieteam – weisen auf den hermeneutischen Zirkel dieser Oper, der neue Deutungen ihrer Handlung in Gang bringt. Die schreckliche Rache ist auch als Metapher unter vier Aspekten (folkloristischen, historischen, biblischen und psychologischen) zu verstehen. Sie korrespondiert mit der Metapher der „Quadratur des Kreises“, geht über den Rahmen und den geistigen Inhalt dieser Novelle Gogols hinaus und landet in semantisches Feld sozialpsychologischer und moralischer Kategorien wie dem Recht auf Rache, Gewalt, Grausamkeit, Schuld und Strafe.
Epilog: Erkenne Dich selbst!
Das Team der National Oper Lwiw arbeitete im Jahr 2022 an der Grenze der menschlichen Möglichkeiten. Trotz Unterbrechungen durch Sirenen und Stromausfällen bereitete es eine Premiere nach der anderen vor. Auch die neue Ballettaufführung anlässlich des 300. Geburtstages von Grigorij Skovoroda Erkenne dich selbst beendete erfolgreich das Opernjahr 2022. „Das ist unsere Linie der Fronten“ – sagen viele ukrainische Künstler und Beteiligte an den Produktionen der national Opera Lviv. Die letzte Premiere 2022 wurde dem „ukrainischen Sokrates“ Wanderphilosophen, Humanisten und Pädagogen Hryhorij Skovoroda gewidmet. Das Ballett „Erkenne dich selbst“ mit der Musik des zeitgenössischen Komponisten Dmytro Danov über das Leben und Werk Skovorodas ist eine originäre moderne Neuinterpretation des Intendanten der National Oper Lviv, Autor des Kunstprojekts „Ukrainischer Durchbruch“ Vasyl Vovkun. „Unsere Ursprünge und unsere Moderne, unser Anfang und das Ende, unsere Geburt und der Tod, Gut und Böse – die Ballettinszenierung sei die Quintessenz von Ideen und geistiger Arbeit des großen Philosophen. Das Ballett „Erkenne dich selbst“ markierte, wie aktuell und zeitlos seine Ideen sind“, – so Vasyl Vovkun über die Neuinszenierung, in der er die Regie führte.
Die Sänger, Orchestermusiker, Tänzer, Bühnen- und Kostümbildner, Ton-, Lichtdesigner bewahren (schützen) die ukrainische Opernkultur weiter. Mit Neuinszenierungen gestalten sie ihren Widerstand gegen Raketendrohungen. Sie beleben durch die tägliche Arbeit somit ihr zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörendes Opernhaus.
In Madrid wurde das Opernhaus Lviv mit dem Preis „Opernhaus des Jahres 2022“ von International Opera Awards (zusammen mit Opernhaus Odessa) ausgezeichnet.
Es sei an dieser Stell erlaubt, die Frage zu stellen, warum die Opernhäuser im Westen Europas so wenig bis gar kein Interesse haben auch ukrainische Opernwerke aufzuführen, denn dies wäre nicht nur ein wertvoller Beitrag zur Bewahrung und Bekanntmachung ukrainischer Identität, sondern würde auch nicht wenige noch unentdeckte musikalische Schätze dem Opernpublikum erschließen…
[1] Thomas de Padova. AhA: Warum ist eine Quadratur des Kreises unmöglich? / Tagesspiegel 23.05.2012. Berlin. URL: https://www.tagesspiegel.de/wissen/warum-ist-eine-quadratur-des-kreises-unmoglich-6690076.html
[2] Tetjana Polischtschuk. Jewhen Stankowytsch: „Volksmusik wurde zum Teil von mir selbst...“. Die Tageszeitung „Denj“, 19. Mai. ?82, (2013) Kyjiw https://day.kyiv.ua/uk/article/kultura/ievgen-stankovich-narodna-muzika-stala-chastinoyu-mene
[3] Darüber vgl.: Kazarin, ?. P. Novikova M. A. N. V. Gogol: "Die schreckliche Rache" – Kreis und Kelch. Wissenschaftliche Beiträge „Vom Barock bis zur Postmoderne. 2018. Ausgabe XXI. V.I. Vernadsky Taurida National University, Kyiv. S. 83?98.
[4] Jewhen Stankowytsch: „Eine Oper zu schreiben ist eine anspruchsvolle Aufgabe“. Das Interview über die Oper "Schreckliche Rache". Das Programmheft, 2022, Lviv. S. 22. (Übersetzung ins Deutsch . – A.Y.).
[5] Zvinyatskovsky V. Nikolai Gogol. Geheimnisse der nationalen Seele, Kiew, 1994, S. 342.
[6] Andreas Weirich: „Stankovych’s music has everything you need to create a director’s concept”. Das Programmheft, 2022, Lviv. S. 35. (Übersetzung ins Deutsch . – A.Y.).
[7] Yevhen Stankovych: “Writing an opera is a challenging task”. Das Programmheft, 2022, Lviv. S. 25. (Übersetzung ins Deutsch . – A.Y.).
[8] Anna Schoettl: „In the production of ‘The Terrible Revenge, we want to start a dialogue with the audience”. Das Programmheft, 2022, Lviv. S. 38. (Übersetzung ins Deutsch . – A.Y.).
[9] „Schreckliche Rache”. Libretto Je. Stankowytsch (nach einer Idee von M. Gogol). Die Übersetzung ins Ukrainische – Taras Wosnjak Libretto.
[10] „Schreckliche Rache”. Libretto Je. Stankowytsch (nach einer Idee von M. Gogol). Die Übersetzung ins Ukrainische – Taras Wosnjak Libretto.