Lviv, Nationaloper Lviv, Andreas Weirich - inszeniert in der Ukraine, IOCO stellt vor, 16.12.2021
Sokil (Falke) - Alcide - Opern von Dmytro Bortnjanski
Dmytro Bortnjanski - bedeutender ukrainischer Komponist - IOCO stellt vor
Andreas Weirich – Regisseur von Sokil und Alcide - im Interview mit Adelina Yefimenko
von Adelina Yefimenko
Das internationale Team, welches die Neuinszenierung von zwei Opern von Dmytro Bortnjanski, 1751 -1825, an der Nationaloper Lviv realisiert hat – der deutsche Regisseur Andreas Weirich, die deutsche Kostüm- und Bühnenbildnerin Anna Schöttl und der italienische Choreograph Marcello Algeri – sind nicht nur Gäste in der Ukraine, sondern auch Mitgestalter des innovativen Projekts „Ukrainischer Durchbruch“, von Vasyl Vovkun – Intendant der Nationaloper Lviv 2018 ins Leben gerufen.
Andreas Weirich, Regisseur und Spielleiter an der Bayerischen Staatsoper, arbeitete in München mit Harry Kupfer, Andreas Kriegenburg, Barry Kosky, Dmitry Chernyakov, Christoph Loj zusammen. Er zeichnete für die Wiederaufnahmen von Christof Loys Lucrezia Borgia an der Oper Göteborg und Andreas Kriegenburgs Rigoletto am New National Theatre verantwortlich. 2013 inszenierte er Peter Maxwell Davies’ Eight Songs for a Mad King im Münchner Cuvilliéstheater, 2015 Selma Ježková bei den Münchner Opernfestspielen. In der Spielzeit 2015/16 führte er Regie an der Bayerischen Staatsoper bei der Neueinstudierung von Die Fledermaus sowie 2017/18 bei Der zerbrochene Krug (Opernstudio). 2018 assistierte er Andreas Kriegenburg bei der Produktion Les Huguenots an der Opéra Bastille, Paris; 2019 inszenierte er bei den Salzburger Festspielen die Uraufführung von Marius Felix Lange´s Der Gesang der Zauberinsel (siehe auch Bayerische Staatsoper). 2018 wurde Weirich nach Lviv/Lemberg eingeladen. Seither arbeitet Weirich mit dem Mozart Festival in Lviv und mit der Staatsoper LVIV / Lemberg. Im 2021 inszenierte Andreas Weirich zusammen mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Schöttl (auch Bühnenbild von 7 Death of Maria Callas) in Lviv / Lemberg zwei Opern von Bortnjanski: Sokil und Alcide.
Andreas Weirich, Anns Schöttl, Marcello Algeri - an der Nationaloper Lviv
Hoch waren 2021 die Erwartungen an die Neuinszenierungen von Sokil (deutsch Falke) und Alcide an der ukrainischen Nationaloper Lviv / Lemberg.. Für das ukrainische Publikum sind diese Premieren von besonderer Bedeutung. Im Jahr 2021 widmen sich diese Premieren dem 270-jährigen Jubiläum Bortnjanskis (1751 - 1825), Zeitgenosse Wolfgang Amadeus Mozarts und hochgeschätzter Komponist in den Diensten des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III.
Die italienische dramma per musica Alcide (Libretto – Pietro Metastasio, Uraufführung 1778, Venedig) wurde von Weirich schon das zweite Mal auf die Bühne gebracht. Die erste szenische Premiere Alcide aus dem Jahr 2018 für eine Sommer-Open-Air-Aufführung im malerischen Ambiente des Schloss Svirzh bei Lviv, erlebte einen Riesenerfolg.
In der Neuinszenierung Alcide in Jahr 2021 für die Lviv/Lemberg National Oper – ein wunderschönes Opernhaus im Neorenaissance-Stils, erbaut von Architekt Zygmunt Gorgolewski - stellt der Regisseur seine neue Leseart von Alcide vor. Weirich verzichtet auf die Atmosphäre des heroischen Mythos über Herakles am Scheideweg und schafft eine implizite Verbindung mit der Oper „Sokil“. Als Ergebnis entsteht auf der Bühne eine neue Geschichte, ein psychologisches Drama über die Einsamkeit, Verrat, Enttäuschung, Liebeskummer, Opfer, Erlösung im Tod oder im Wahnsinn. Eine so „quere“ Deutung der italienischen dramma per musica Alcide verdankt kurioserweise Bortnjanskis französische opéra comique „Sokil“. Die Verbindung von drama und comique sollte für den Regisseur starke implizite Gründe haben. Sokil („Der Falke“, der originäre französische Titel „Le Faucon“, nach der Falkennovelle aus Boccaccios Dekameron, V, 9, Libretto – Franz-Hermann Lafermière), stellte Andreas Weirich als erste Geschichte des Opernabends und als Präambel für Alcide dar. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass sich die Gestalt des Sokils in der Ukraine, die historisch seit Jahrzehnten um ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmung kämpft, als Freiheitsvogel etablierte. Das Freiheitssymbol ist reichlich und schön in Dichtungen und Volksliedern über den Sokil verherrlicht und besungen. Die Freiheitsgedanken trugen in sich aber oft eine Sehnsuchtsnote und ein Sinnbild eines unerreichbaren Traums. Das berühmteste ukrainische Lied über den Falken ist sogar voll Todessehnsucht. Der Tod als Erlösung ist die ersehnte Freiheit: „Ich schaue zum Himmel und sinne: Warum bin ich kein Falke, warum fliege ich nicht? Lieber Gott, warum hast du mir keinen Flügel gegeben? Ich würde die Erde verlassen und in den Himmel fliegen“.
Le Faucon (Der Falke) wurde im Oktober 1786 im Liebhabertheater des Thronfolgers Pawel Petrowitsch in Gattschina uraufgeführt, als Bortnjanski nach seinem fantastischen, musikalisch außerordentlich fruchtbaren Aufenthalt in Italien ungern in seine Dienste als Hofkomponist ins russische Zarenreich zurückkehrte. In Italien hat der Komponist zumindest die Freiheit als Selbstverständlichkeit genossen und erlebte nun den Erfolg seiner Uraufführungen von drei italienischen Opern – zwei dramma per musica Creonte (nach Marco Coltellini, Antigone, 1776 Venedig) sowie Alcide (nach Pietro Metastasio, Alcide al bivio, 1778 Venedig) und dramma serio Quinto Fabio (nach Apostolo Zeno, Lucio vero, 1778 Modena).
War es Zufall, dass in Russland Bortnjanski zuallererst seine opéra comique dem Falken widmete? Und konnte es weitgehend zufällig sein, dass der Komponist alle drei Opern in der Gattung opéra comique komponierte? Ein Lachen durch Tränen? Eine äsopische Sprache? Eine Allegorie der verlorenen Freiheit?
Das moderne, zum Volkslied adaptierte Lied über den Sokil wurde zur Leitgestalt und zum inhaltlichen Kern in Weirichs Neuinszenierung („Über den steilen Berg, wo zwei Eichen stehen, kreisen die Falken im Himmel. Und unten in der Schlucht, wo Bäumen fällten, liegen zwei Flügel“).
Andreas Weirich - im Gespräch mit Adelina Yefimenko, IOCO, zu den Inszenierungen Sokil und Alcide an der Nationaloper Lviv
Die Doppelpremiere Sokil / Alcide ist seit dem 11.9.2021 auf dem Spielplan der Oper Lviv / Lemberg. Das Gespräch mit Regisseur Andreas Weirich über die Opern Sokil und Alcide führte Adelina Yefimenko in München, nach dessen Rückkehr.
Adelina Yefimenko: Lieber Andreas, du kommst aus München, die Stadt, die für die Ukrainer seit Ende 19.-Anfang 20. Jh. zur historischen Hauptstadt der ukrainischen Emigration wurde. Künstler, Wissenschaftler, Politiker flüchteten nach Europa vor der russischen Zar-Herrschaft, später vor der politischen Gewaltherrschaft des ersten Weltkriegs, der Oktoberrevolution und der Sowjet-Diktatur und suchten die Freiheit im Exil. Das Bühnenwerk Bortnjanskis inszenierst Du das zweite Mal. Du gehörst mittlerweile zu den wenigen Bortnjanski Experten in München, vielleicht auch in Deutschland. In Europa kennt man Bortnjanskis Opern weithin nicht. Möchtest Du weitere seiner Opern auch für Deutschland entdecken und das Publikum mit Bortnjanskis Opernwelt begeistern?
Andreas Weirich: Mich als Bortnyanski Experten zu bezeichnen, nachdem ich zweimal in den letzten drei Jahren Opern von Bortnjanski inszeniert habe, empfinde ich als sehr schmeichelhaft. Ein Musiktheaterregisseur sollte immer auf der Suche nach neuen Opern sein und sich nie auf einen bestimmten Komponisten spezialisieren. Er braucht meiner Meinung nach größtmöglicher Flexibilität und Offenheit allen musikdramatischen Formen und Stilrichtungen gegenüber. Der glückliche Zufall hat es möglich gemacht, dass ich mich wiederholt mit Bortnjanski auseinandersetzen durfte, was mir sehr Freude bereitet hat. Nach meiner Beschäftigung damit finde ich, dass ich gemeinsam mit Oksana Lyniv – die mich erstmals mit Bortnjanski in Kontakt gebracht hat – einen großen Beitrag zur Bortnjanski Rezeption in der Ukraine geleistet habe. Alcide wurde erstmals szenisch in einem Opernhaus aufgeführt. Gerne möchte ich auch den europäischen Theaterraum dafür begeistern. Aus wissenschaftlicher und musikhistorischer Sicht interessiere ich mich dafür, weitere Opern von Bortnjanski kennenzulernen. Als Regisseur freue ich mich auf neue Projekte mit ganz anderen Komponisten. So ist beispielsweise – soviel darf ich schon verraten – eine weitere Opernproduktion an der Lemberger Oper eines noch lebenden modernen ukrainischen Komponisten für Herbst 2022 geplant.
Adelina Yefimenko: Ich denke, wenn ein deutscher Regisseur die Opern des Ukrainers Dmitry Bortnjanskis das zweite Mal auf die Bühne bringt, sollte diese Leistung besondere Gründe haben. Was sind diese Gründe? Die Liebe zur Musik Bortnjanskis? Oder der originäre Zwiespalt seines Lebenswerks? Das Interesse zur ungewöhnlichen Verschmelzung von Barock und Frühklassik? Oder ist es eine Neugier des jungen Regisseurs am Scheideweg, der mit dem Mythos über Alcide (dem jungen Herakles am Scheideweg) einige Parallelen zu den eigenen Lebenserfahrungen findet?
Andreas Weirich: Der Grund, sich ein zweites Mal mit Bortnjanskis Oper Alcide auseinanderzusetzen, war zunächst ein sehr pragmatischer: Vasyl Vovkun, Intendant der Oper Lemberg hatte meine erste Version von Alcide in Svirsh gesehen und war davon so begeistert, dass er mich eingeladen hat, Alcide an der Lemberger Oper zu inszenieren. Mein Interesse als Regisseur war aber von Anfang an der Vorbereitung keine Kopie oder Adaption der Produktion, die ich im Rahmen des Festivals LvivMozArt 2018 entwickelt habe. Vielmehr versuchte ich, konzeptionelle Tendenzen aus der ersten Beschäftigung zu vertiefen und Dinge wie den Konflikt zwischen Alcide und seiner Übervaterfigur – Lehrmeister Fronimo zu verstärken, die bereits angelegt waren.
Auch die Kombination zweier Stücke war für mich als Regisseur reizvoll und gemeinsam mit Anna Schöttl, meiner Kostüm- und Bühnenbildnerin, eine neue Formsprache zu finden. Wir verorten die Geschichte in einer modernen leistungsorientierten Gesellschaft und haben dafür den Sport, konkret die Welt des Boxkampfs gewählt, wobei wir uns auch von anderen Sportbereichen haben inspirieren lassen.
Sicherlich ist es auch sehr spannend, die unterschiedlichen Facetten von Bortnjanskis musikalischen Stilen von Barock und Frühklassik einem Publikum zu präsentieren. Die Zeit der Aufklärung spielt in die inhaltliche Auseinandersetzung stark mit ein – der Weg weg von der rein affektgesteuerten Äußerung zur vernunftorientierten klassischen Form. Im Grunde äußern sich alle Figuren um Alcide in sehr effektvollen Bravourarien, wohingegen Alcide in seinen ruhigen ariosen Passagen das Geschehen mehr reflektiert.
Auf die Frage, ob sich im Mythos über Herkules am Scheideweg Parallelen zu meinen eigenen Lebenserfahrungen finden lassen: Ja, selbstverständlich befinde ich mich täglich bei so vielen Entscheidungen am Scheideweg. Nicht nur ganz banale Fragen, wie gestalte ich den Tag, stehe ich auf oder bleibe ich liegen, stellen sich immer wieder, sondern auch beruflich – Wohin geht mein Weg als Regisseur? Wie kann ich mein künstlerisches Leben selbst gestalten und wie und von wem lasse ich mich leiten.
Adelina Yefimenko: Mit Deinen Inszenierungen entdeckt man einen immer tiefergehenden und geheimnisvollen Zugang in die Opernwelt Bortnjanskis. Beide Alcide-Inszenierungen wolltest du weder ethnisch noch ort- bzw. zeit-gemäß darstellen. Und Deine Inszenierungen fanden in den schönsten Orten und Häusern des ukrainischen Galiziens statt (Schloss Svirzh, Lviv Oper). Ich erinnere mich daran, dass ein wichtiges Motto Deiner ersten Alcide-Inszenierung die szenische Bewegung in der farbigen Ausstattung diametral zu der Mauer der alten Schlossruine bestimmte. Die Schönheit Deiner zweiten Inszenierung erschien hintergründig, künstlich als Appell gegen den Kitsch „die Kunst für die Konsumwelt“. Die Ausstattung Alcides Zimmer mit Bildern von Box-Stars interessieren nicht den Jungen, der seinen Lebensweg gehen will und immer ein anderes Bild anschaut – einen fliegenden Falken. Aber er muss entscheiden, wird es der vergnügliche oder der ruhmreiche Weg sein. In seinen Arien demonstrierte dabei der ukrainische Countertenor Stanislav Tsema jugendliche Frische, raffinierte Schwelltöne, Verzierungen und agiert auf der Bühne sehr gut und authentisch. Inwieweit wolltest du mit Deiner Kostümbildnerin und Ausstatterin Anna Schöttl Alcides Motto – den jungen Herakles am Scheideweg, auf dem Weg der Ausweglosigkeit in dieser Gesellschaft apostrophieren? Eine Wahl zwischen dem Weg der Tugend und dem Weg des Vergnügens war früher ein allegorisches Symbol der alten Weisen, das von den Berühmtesten unter den Philosophen übernommen wurde. Und in Deiner Inszenierung scheitert die Wahl. Das Zerrbild des allgegenwärtigen Milieus des Entertainments und geistiger Leere bereitet für Alcide schließlich keine Wahl zwischen der Tugend (Aretea) und des Vergnügens (Edonide). Er ist enttäuscht genauso von der Schönheit als auch vom Ruhm. Aber warum zerreißt Dein Alcide am Ende das Bild mit dem fliegenden Falken, der eigentlich zur Freiheit aufrufen soll? Ist dieser Falke für Deinen Alcide nur ein Trugbild der Freiheit?
Andreas Weirich: In Annas und meiner Konzeption der beiden Stücke Sokil und Alcide war entscheidend, einen Raum der Ausweglosigkeit und Unentrinnbarkeit für die darin handelnden Figuren, im Besonderen für Alcide zu finden. In Sokil sind alle Figuren wie in einer Selbstisolation gefangen, am Ende finden sie wieder zusammen und können sich gegenseitig wahrnehmen, sie lernen Empathie füreinander.
Alcide verhält wie fremdbestimmt, er wird von Fronimo zu einer bestimmten Handlungsweise gezwungen, sich wie ein Held zu verhalten, Leistung zu bringen. Obwohl er sich scheinbar am Scheideweg befindet, wird ihm alle Entscheidung abgenommen, er trifft keine eigenen Entscheidungen, sein Weg als Halbgott, in unserem Fall als Boxstar, scheint vorbestimmt. An den Wänden hängen zusätzlich Plakate von Boxstars, die ihn daran erinnern sollen, was sein erstrebenswertes Ziel ist. Der Bühnenraum, den Anna Schöttl entworfen hat, ist türlos, alles dringt auf Alcide ein. Die Lust entsteht aus dem Gemälde Edonides, auch Aretea, die Tugend steht plötzlich im Raum, um zunächst Edonide zurückzudrängen, aber am Ende zur Siegesfeier sich mit ihr zu verbünden, nachdem Alcide im finalen Boxkampf Fronimo überwunden hat. Und Fronimo bleibt von der ersten Szene an auf der Bühne und selbst nach dem vernichtenden Kampf steht er zum Schluss wieder auf. Alcide wird Fronimo und alle anderen nie los. Sie verfolgen ihn bis in seine Gedanken. Um frei zu sein und seine eigenen Entscheidungen treffen zu können, muss Alcide ausbrechen.
Was für die griechischen Philosophen und auch noch im ausgehenden 18. Jahrhundert das Maß aller Dinge war, die Tugend, das erstrebenswerte Ziel, nach dem sich ein ganzes Leben ausrichtet, konterkarieren wir mit dem Begriff der negativ konnotierten Leistungsgesellschaft.
Du hast eine spannende und interessante Deutung für das Ende gefunden, wenn Du die Frage aufwirfst, dass die Freiheit – symbolisiert durch das Falkengemälde – vielleicht nur ein Trugbild ist, wenn Alcide das Falkenbild zerreißt. Ein sehr pessimistisches Ende.
Mein Gedanke war immer, dass Alcide seiner eigenen Entscheidung, der Freiheit des Falken, folgt, ausbricht aus der Gesellschaft, indem er das Falkenbild in der Mitte und zu den Flügeln hin aufreißt. Damit kann er durch das Gemälde den Raum verlassen, aber wer weiß, was sich hinter dem Gemälde verbirgt, was das für eine Freiheit jenseits des Raumes ist. Man erfährt es nicht, ich habe mich als Regisseur für einen harten Cut mittels Blackout entschieden.
Adelina Yefimenko: Die Macht in dieser verlogenen Gesellschaft gehört Alcides Freund und Lehrer Fronimo. Du zeigst ihn aber als kleinen primitiven Menschen, der mit seinem Fanatismus zu Fernsehe- und Box-Helden Alcide beeinflussen will. Und weil für den Riesen Alcide diese Freundschaft offensichtlich immer lästiger wird, bringt er Fronimo um? Oder ist es auch eine Allegorie? Tötet Alcide vielleicht sein Problem des mächtigen Vaterbildes?
Andreas Weirich: Du hast das für meine Inszenierung sehr bestimmende Verhältnis zwischen Alcide und seinem Lehrmeister Fronimo sehr treffend beobachtet. Zunächst besteht ein großes Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden, sie sitzen in einem Raum ohne Ausweg zusammen, Fronimo zeigt Alcide in der Ouvertüre quasi in Endlosschleife Ausschnitte aus Boxkämpfen – das ist meine szenische Setzung zu Beginn.
Indem Fronimo Alcide immer mehr unter Druck setzt und ihn provoziert, löst er in Alcide eine Aggression aus, die dazu führt, dass Alcide ihn im finalen Kampf umbringt. Er ist für ihn wie ein Übervater, den der selbst am Ende aus seinen Gedanken nicht loszuwerden scheint. Ich stelle mal eine gewagte These auf: Um erwachsen zu werden, muss man einen Teil seiner Kindheit in sich töten, den Vater überwinden.
Adelina Yefimenko: und paar Bemerkungen zur Alcides Bühnenarchitektur. Du und Dein Regie-Team verwenden eine fabelhafte und ungewöhnliche Bühnendekoration – eine lebendige dynamische Substanz des menschlichen Körpers. In der Pantomime beider Inszenierungen verwandeln sich Tänzer zu Gold-Gestalten. Malerische Choreographie belebt ewig bewegliche Natur. Durch diese Choreographie werden wunderbare Momente plastischer Visualität erschaffen. Eine ewige Substanz der Bewegung wird sozusagen in einer choreografischen Massenkomposition lebendig. Auch die fabelhaften Kostüme von Anna Schöttl, die im Allgemeinen die Symbolik jeder Farbe mit einer symbolischen Konkretisierung des Protagonisten füllt, integrieren natürlicherweise die Menschen und Tänzer Deiner Inszenierung als Bestandteil des Bühnenbildes. Fédéric in Sokil will mit goldenem Reichtum seine Geliebte erobern. In Alcide wird das Gold zum Ersatz der Muskeln, zum Bild künstlich erzeugter Kraft und Macht. Andreas Kriegenburg, mit dem Du oft zusammengearbeitet hast, verwendet in ähnlicher Weise Gold-Symbole. In der Inszenierung der Wagnerscher Tetralogie verwandeln sich Menschen zu Natur-Elementen – zu Rhein-Gold, Wald, Feuer. Deine goldenen Menschenfiguren drücken im Gegensatz dazu keine Naturkräfte aus. Was ist denn Deine Grundidee, die Du zusammen mit der Choreographie von Marcello Algeri auf die Bühne bringst?
Andreas Weirich: Die Idee der Goldkostüme für die Tänzerinnen und Tänzer zieht sich – wie du beschrieben hast, durch beide Werke. Gold steht für Geld und Reichtum, die engen Goldsuits symbolisieren die Trophäen, die Fédéric Elvire zum Geschenk macht. Es hat etwas absolut übergriffiges, wie Fédéric, um die Liebe Elvires zu bekommen, Elvire mit Geldgeschenken überschüttet. Am Ende der Ouvertüre zu Sokol hängen alle Tänzerinnen und Tänzer an und um Elvire, so dass sie kaum mehr zu sehen ist, sie verschwindet fast dahinter. Das Gold ist für mich eindeutig ein Zeichen für Entmenschlichung, die Tänzerinnen und Tänzer sind damit entindividualisiert.
In Alcide tauchen die Goldkostüme wieder auf: aus den Fleischkörpern der ersten sexuellen Erfahrung von Alcide in der Edonidewelt entwickeln sich die Goldmenschen, um sich zu Heroenstatuen zu formieren. Damit wollen sie Alcide an die bevorstehende Zukunft im Glanz des Ruhms erinnern, wenn er nur den richtigen Weg der Tugend einschlägt und größtmögliche Leistung bringt. Selbstverständlich lösen die Goldmenschen auch eine gewisse Faszination auf Alcide aus, wenn sie gemeinsam mit Aretea eine von Karate Kata inspirierte Choreographie zeigen, aber letzten Endes verschwinden auch sie wieder und sind nicht von Bestand. Das Thema Gold wird im Kampf mit Fronimo noch ins Groteske übersteigert, indem Fronimo eine goldene mit Muskeln bepackte Jacke trägt. Nach erfolgreichem Kampf wird Alcide vergleichbar mit Elvire zu Beginn bei Sokil – mit Siegestrophäen und Pokalen sowie goldenen Boxgürteln vom Chor überschüttet, es wird ihm einfach zu viel.
Adelina Yefimenko: Der Inhalt Deiner Story über Alcide ist für uns heute sozialkritisch und sehr traurig, denn Dein junger Held – ist unser Zeitgenosse. Hast Du Alcide am Ende der Oper zum Exil aus dieser Gesellschaft verdammt? Oder gerettet? Wohin geht er weiter? Bleibt er am Leben- findet er seinen Weg in unserer Konsumgesellschaft ohne Falken, Flügel, ohne gesunde Natur und ohne wirkliche Freiheit? Sind wir denn alle Sklaven der virtuellen Welt in der sich eine schrecklich schnell entwickelte, systematische geförderte Technik an Stelle der systematischen doppelt Förderung der Geisteswissenschaftler und Künstler etabliert. Deine Inszenierung erinnerte mich an einen Satz von Riccardo Muti: „Wir brauchen friedvolle Gegenbilder zur Aggressivität des Sports, des Films und der Medien, sonst verlieren wir den Sinn für das Zivilisierte“.
Andreas Weirich: Die Deutung, wohin sich Alcide am Ende der Oper hinbewegt, was auf den Ausbruch aus der Gesellschaft folgt, möchte ich den Zuschauer*innen gerne selbst überlassen und verweigere mich einer Eindeutigkeit durch ein offenes Ende, indem ich den Moment, in dem Alcide aus dem Falkenbild steigen kann, mit einem Blackout beende.
Die von Dir zitierte Aussage von Riccardo Muti kann ich absolut unterstützen: Dem gesellschaftlichen Leistungsdruck – höher, weiter, größer, – der sich mit einer Penetranz und Aggressivität in den Köpfen hält, auch im Theater eine große Rolle spielt und sich durch die aktuelle Coronasituation eher noch verstärkt hat, müssen wir etwas entgegenhalten und Begegnungsstätten der gegenseitigen Wahrnehmung, Akzeptanz und Toleranz und der differenzierten Meinungsäußerung schaffen. Theater können diese Rolle übernehmen, wir brauchen sie als Foren des gesellschaftlichen Diskurses und zur Reinigung des eigenen Emotionshaushalts.
Adelina Yefimenko: Ungewöhnlicherweise habe ich meine Fragen an Dich über die zweite der beiden inszenierten Opern gestellt, da in Alcide die Handlung für mich klar war, und auch Deine Leseart transparent und nachvollziehbar ist. Bortnjanskis Oper Sokil / Der Falke war dagegen sehr rätselhaft und Deine Inszenierung macht sie dazu noch verstärkt mehrdeutig. Du inszenierst die Geschichte in Bortnjanskis opera comique so, dass sie sogar an die neue Oper Kaija Saariahos In Innocence (Uraufführung im Festival Aix-en-Provence 2021) erinnert. Wahrscheinlich deshalb, weil Du für die befremdende Erscheinung des Falken eine Folks-Stimme erdacht hast. Die Rolle spielt und singt Lydia Danylchuk, die während der Oper dreidimensional erscheint – als Falke, als Geschichtenerzählerin und als kranker Sohn der unglücklichen Mutter Elvira. Auch Kaija Saariaho verwendete die Stimme der bekannten finnischen Folk-Sängerin Vilma Jää, die den Geist des getöteten Mädchens symbolisiert und für die Oper ungewöhnlich mysteriös klingt.
Welche Bedeutung hat für Dich solch eine Einwirkung der Volkstimme in der Oper? Wie entstand die Idee, den Nicht-Opern-Klang in Bortnjanskis Oper zu integrieren?
Andreas Weirich: Mir ist als Regisseur immer wichtig, eine möglichst direkte Verbindung zum Publikum, einen Anknüpfungspunkt und eine Unmittelbarkeit zu finden. Mit dem ukrainischen Volkslied versuche ich die Brücke zu schlagen und gleichzeitig einen Bogen zum Ende von Alcide zu spannen.
Mein Ziel war es auch, die in Sokil titelgebende Figur, um die sich alles kreist, aus ihrem Dasein als Dingsymbol zu befreien und ihr eine eigene Stimme zu geben. Die hinzu erfundene Figur des Falken fungiert als Medium zwischen Publikum und Bühnengeschehen, sie besitzt in Sokil zusätzlich die Freiheit, in die Rolle des Falken und des Kindes zu schlüpfen, die für mich beide untrennbar miteinander verbunden sind. Sie ist aber allein für Elvire und Fédéric sichtbar, alle anderen Figuren sehen sie nicht, sie kann zum Teil der Handlung werden, sich aber aus dem Geschehen rausziehen, wird nie ganz greifbar und behält ihr Geheimnis. Wie der Falke als Vogel immer ein Teil der unberechenbaren Natur und frei bleibt, sich nie ganz domestizieren lässt, so besitzt ihn Fédéric hin nie ganz, auch wenn er sich ihn als Haustier gezähmt hat. Die Falkenfigur steht damit im Kontrast zu den goldenen Trophäen-Menschen, die ein Zeichen für Besitz und Reichtum sind.
Daraus ergibt sich die logische Konsequenz dieser Rolle eine eigene musikalische Sprache mittels des ukrainischen Volksliedes zu geben, sie lässt sich eben auch musikalisch nicht integrieren.
Adelina Yefimenko: Deine Leseart bewegt emotional, stimmt implizit und wirkt sehr nachdenklich. Erlaube mir zuerst meine Reflexion darüber mit Dir auszutauschen, bevor ich Dir die letzten Fragen stelle.
Nach dem Gesang des Sokil-Liedes, an Stelle des traditionellen allegorischen Prologs der Barockoper, singt der Chor eine Phrase, die das doppelbödige Sinnbild der Falkennovelle Boccaccios offenbart. Bortnjanskis Musik ist in diesem Moment sehr melancholisch. Trotz frühklassisch verfasstem Stil entsteht im Orchester durch die verlangsamen Tempi und Tonfolgen eine mehr und mehr barocke irrationale Stimmung der Verlorenheit in der Welt. Für mich scheint diese äußere Einfachheit der frühklassischen Transparenz in der Partitur Sokil sehr irreführend. Die unglaubliche Melancholie, Einsamkeit, Traurigkeit, sogar die Starrheit der Gefühle betont die Leidens- und Schmerzensaffektation. Die schnellen Tempi können hier viel kaputt machen. Ein Schlüssel Deiner Inszenierung und der Bühnengestaltung von Anna Schöttl liegt im kalten weißgrauen Raum, wo die Menschen nach Kommunikation und Liebe suchen, nicht finden und letztendlich die Liebe opfern oder verraten. Du hast Recht, das ist ein klinischer Fall der menschlichen Psyche. Die zwei verlorenen Seelen hat Anna Schöttl mit starkem psychologischen Ausdruck in neutrale weise, sterile und dunkelblaue Kleider verhüllt. Weiterhin wird mit den Kontrasten von drama und comique gespielt. Die Ärzte mit den Covid-Masken streiten miteinander, letztendlich geben sie zu, dass sie katastrophal unwissend sind. Möchtest Du damit auch die Kritik auf die gegenwärtige Corona-Situation ausüben? An welchen Krankheiten leiden die Patienten Bortnjanski/Weirich?
Andreas Weirich: Es steht mir fern mit meiner Inszenierung von Sokil oder auch Alcide, konkret Kritik an der gegenwärtigen Corona-Situation zu üben. Sie auf der Szene zu zitieren und im Falle der Ärzte grotesk zu übersteigern hingegen ist natürlich Absicht. Die Themen beider Opern sind allzeit virulent, Corona sehe ich immer als einen Verstärker einer bestimmten Entwicklung und Tendenzen an, beispielsweise sich immer mehr zu entfremden und sich sozial voneinander zu distanzieren. Sokil ist für mich eine Schule der Empathie, in der Elvire und Fédéric zusammenkommen und sich als Menschen wahrnehmen.
An welchen Krankheiten Bortnjanski und Weirich leiden, möchte ich auf der Bühne nicht zeigen, mich interessieren immer die Ängste und Nöte der Figuren eines Stückes, weniger persönliche Befindlichkeiten oder autobiographische Bezüge. Nichtsdestotrotz spiegeln sich in künstlerischen Arbeiten natürlich immer Weltsicht eines Komponisten und Regisseurs wider?
Adelina Yefimenko: Welche Rolle, Deiner Meinung nach, spielt für den Komponisten die Gattung opera comique? Deine alles andere als heitere Ironie, bzw. Deine Parabel zur jetzigen Corona-Zeit ist treffend. Jedoch betonnen die lustigen Gestalten der Oper – Doktor Lentulus, mit Doktor Promptus und die verliebte Dienerin Elviras Marina mit Pedrillo – durch die Kontraste die starke Tragik des Geschehens und spalten das Sujet in zwei Ebenen. Die Hauptpaare reden oder handeln aneinander vorbei: Federigo an Elvira, Elvira an ihrem Sohn, Marina an Pedrillo, Doktor Promptus an Doktor Lentulus. In der effektvollen Ouvertüre erscheint dein Federigo nicht als ein Edelmann, der das Elviras Herz gewinnen will. Er ist ein autistischer Junge, der aus seiner Geschlossenheit nicht herauskommen kann und sein Glück, Vertrauen und seine Ruhe nur bei seinem Falken findet. Wenn er über den Falken singt, gewinnt seine Melodie den lyrischen und erhobenen Ausdruck. Nach Boccaccios Novelle Sokil ist Federigo in Elvira unglücklich verliebt und verschenkt ihr sein Gut; Geld, Reichtum, aber er findet seine Ruhe und seine Dankbarkeit beim Falken – den einzigen treuen Freund. Musikalisch leidet Federigo dynamischer und aktiver als die phlegmatische Elvira. Federigo stellt sich selbst die Fragen, die er am Anfang der Oper noch nicht beantworten muss. Wichtig ist, dass seine Arie nicht sein Porträt, sondern Elviras Porträt, und das nicht unbedingt sympathisch darstellt. Federigo singt: „Wie kann man ein kaltes gleichgültiges Herz erobern? Liebe, oh Liebe! Wo sind deine Zaubersprüche? (…) Denn für die Liebe hat sie (gemeint Elvira) ihr Herz geschlossen. Die Stimme der Liebe erklang, unfähig sie zu berühren und erregt ihr nur Angst. Wie erobert man ein kaltes Herz, gleichgültig?“
Eines Tages wünscht sich Elviras Sohn Federigos Falke. Elvira wagt Federigo zu besuchen und zu bitten, den Vogel ihrem Sohn zu schenken. Der Grund ihres Besuchs ist Federigo nicht klar. Er macht sich nur Sorgen, dass er nichts zum Abendessen für sie hat. So zwingt Elvira mit ihrem Besuch Federigo dazu, den Falken zu töten. Er schlachtet ihn und tischt ihn für die Frau seines Herzens und für die Mutter auf, die jeden Wunsch ihres Sohnes zu erfüllen versucht. Diese Tat ist wohl eine verbitterte Antwort Federigos auf seine wichtigste Frage in der ganzen Oper, die er in seiner Arie anfangs des 2.Aktes an seinem Falken stellt. „Du bist ein Schatz, – singt Federigo. – Oh, mein wunderbarer Vogel! // Du bringst mir das Essen, Du machst mich so glücklich // Vor allem bist du mir so lieb. // Wie werde ich dir jemals danken können?“
Was bedeuten für Dich die Falkenflügel auf dem festlichen Abendtisch?
Andreas Weirich: Wenn die Falkenfigur ihre Falkenflügel auf dem Seziertisch ablegt, ist es zunächst einmal ein theatrales Zeichen dafür – ein pars pro toto, – dass der Falke stirbt, zubereitet und Elvire serviert wird. Gleichzeitig sind die Flügel das Wesentliche, was den Falken ausmacht, für ihn unverzichtbar, um abheben und fliegen zu können. Mit seinen Flügeln opfert der Falke seine Freiheit. Insofern ein sehr düsteres Bild und eine pessimistische Deutung.
Aber indem Elvire den Falken isst, nimmt sie ihn symbolisch in sich auf. Man könnte diesen Akt auch als eine poetische Übersetzung lesen, sich die Flügel des Falken einzuverleiben, um selbst fliegen zu können.
Wie in der Geschichte Elvire erst entsetzt darüber ist, dass sie den Falken gegessen hat, den sie sich als Spielgefährten für ihr todkrankes Kind erhofft hat, so erkennt sie später, für welches Opfer Fédéric bereit ist, um ihre Liebe zu erhalten.
Im Finale von Sokil heißt es Auf dem Flügel der Hoffnung lasst uns im Arm der Liebe fliegen. Für mich schimmert am Ende auf jeden Fall ein wenig Hoffnungsschimmer durch den Irrsinn der in sich gefangenen Figuren. Elvire und Fédéric lösen sich aus ihrer Isolationshülle und spüren zum ersten Mal eine Freiheit, vielleicht auch nur für einen Moment, den sie aber genießen können.
Adelina Yefimenko: Für mich enthüllt diese Tat indirekt das Sinnbild einer gestutzten Freiheit des Komponisten. Erinnerst Du Dich an Anfang unseres Gesprächs? Bortnjanski kehrte 1779 nach seinen fantastischen, musikalisch fruchtbaren Aufenthalt nach Sankt Petersburg zurück und opferte seine musikalischen Dienste auf den Altar der Absolutistischen Monarchie. Von Zar Paul I. wurde Bortnjanski im Jahr 1796 zum Direktor der Hofsängerkapelle und zum Staatsrat ernannt. Seine musikalischen Neuerungen wurden von der Großfürstin Russlands Maria Fedorivna unterstützt. Bortnjanski hat ihr als Dank seine Klavierwerke gewidmet. 1801 wurde er zum Direktor der Hofsängerkapelle in Sankt Petersburg. Auch als Lehrer hatte er eine unbestrittene musikalische Autorität. Er bildete erstklassige professionelle Chorsänger und Dirigenten aus. 1804 wurde er zum Ehrenakademiker ernannt. Ab den 1790er Jahren vertiefte er sich mehr und mehr in die geistliche Musik, geistliche Chorkonzerte und in die Musik für den orthodoxen Gottesdienst. In Russland hat er verschiedene Romanzen, Instrumentalmusik, Kammermusik, Sonaten und neben „Sokil“ noch zwei andere Opern komponiert – La Fête du Seigneur (Das Fest des Lehnsherrn, Pawlowsk 1786) und Le Fils rival ou La moderne Stratonice (Der Sohn als Rivale oder die Neue Stratonice, Pawlowsk 1787). Sein kirchenmusikalisches Werk beträgt über 100 Motetten, Kantaten und einzelne liturgische Stücke). Wahrscheinlich hat er mittels seiner Musik Gott angefleht, ihm seine Flügel wieder zu geben.
Zum Schluss unseres Gesprächs erlaube ich mir noch eine provokative Frage an dich:
Einer der berühmtesten Dirigenten unserer Zeit, Riccardo Muti, würde die Zukunft der Oper nie den Regisseuren vertrauen. Seine aktuelle Äußerung in dem Interview für die letzte Ausgabe der deutschen Zeitschrift Concerti: Wir brauchen ein Publikum, das sich der Oper als kulturellem Phänomen nähern möchte, um so die eigentlichen Botschaften von Musik und Libretto zu erspüren und weniger den verrückten Ideen eines Regisseurs zu folgen. Ich bin mit dieser Aussage nicht einverstanden. Du offensichtlich auch. Was würdest Du zur Verteidigung der Regieoper und ihrer Zukunft sagen?
Andreas Weirich: Interessant, dass Du Muti ein zweites Mal aus seinem Interview für Concerti zitierst. Während ich seine Aussage, Gegenbilder zur Aggressivität des Sports, des Films und der Medien zu brauchen, teile, bin ich hierin komplett anderer Meinung.
Ich halte den oft sehr negativ konnotierten Regietheaterbegriff für mittlerweile überholt, ähnlich wie den nicht weniger oft zitierten Begriff der Werktreue, und stehe für einen erweiterten Begriff des Musikregietheaters, das von gegenseitigem Vertrauen zwischen musikalischer Leitung und Regie geprägt ist. Das ist die Grundlage aller künstlerischen Zusammenarbeit. Beide Seiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich mit einem Werk wie einer Oper auseinandersetzen, nicht zwingend der gleichen Meinung über ein Werk sind – unterschiedliche Auffassung empfinde ich eher als bereichernd – und aus der Auseinandersetzung eine gemeinsame Interpretation eines Werkes schaffen, im Idealfall ein eigenständiges, wenn auch im Theater durch die Vorstellungen temporär begrenztes Kunstwerk.
Für die Entwicklung einer Konzeption steht für mich bei Oper immer am Beginn die Beschäftigung mit der Musik, daraus ziehe ich unglaublich viel. Im weiteren Schritt lese ich mich in die Thematik ein, füge meine eigenen Assoziationen dazu und dringe im Idealfall immer tiefer in ein Werk vor, es ist ein ständiger bereichernder Austausch von Geben und Nehmen.
Die Idee zu einer Oper destilliere ich immer aus dem Werk selbst, sie entspringt keiner Laune oder eigener Verrücktheit.
Die Qualität eines guten Werkes zeigt sich immer in seiner Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit, die eine erhellende Aussage oder einzig gültige Lesart gibt es nicht. Genauso verhält es sich mit guten Regiehandschriften, die einen gewissen Wiedererkennungswert haben, aber nicht zum reinen Regielabel werden. Viele Wege führen zum Ziel, das macht die Auseinandersetzung so spannend.
Oper bedarf immer einer musikalisch-szenischen Legitimation, benötigt so zur Musik immer auch einen plausiblen Regieansatz gleichermaßen.
Adelina Yefimenko: Lieber Andreas Weirich, auch im Namen der zahlreichen IOCO-Leser: vielen Dank für das spannende und ausführliche Gespräch. Ich freue mich auf unser nächstes Treffen, vermutlich in der Bayerischen Staatsoper München.
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