Lübeck, Theater Lübeck, DER FLÜCHTIGE AUGENBLICK, Tanzabend, IOCO

29. 3.2025 Premiere
Diese Ballettproduktion, die am 29. März ihre Lübecker Premiere feierte, ist eine Übernahme vom Theater Kiel aus der vergangenen Spielzeit.
Vier atemberaubende Ballett-Kreationen von drei verschiedenen Choreographen wurden hier präsentiert, beginnend mit „Kintsugi“ von Edvin Revazov, seines Zeichens Erster Solist beim Hamburg Ballett und Leiter des Hamburger Kammerballetts. „Kintsugi“ bedeutet eine traditionelle japanische Reparatur-Methode für Keramik, wobei die Bruchlinien vergoldet werden und somit eine völlig neue Schönheit des Objekts entsteht. Von „Kintsugi“ ließ sich der Choreograph inspirieren und bezog dieses auf zwischenmenschliche Beziehungen, die nach einem Streit beendet werden können, oder aber man setzt sich mit den Konflikten und Problemen auseinander und erreicht somit ein neues positives Zusammensein.
Um solche Beziehungen geht es in dieser Choreographie für zehn Tänzer und Tänzerinnen, zerbrochen, gekittet, gerettet, überaus wirkungsvoll tänzerisch und darstellerisch interpretiert zu der Musik des Pianisten und Komponisten Leon Gurvitch, der auf der Bühne am Flügel saß und sieben seiner Kompositionen spielte, fünf Stücke von seinem neuesten CD-Album „Musique Mélancolique“ sowie zwei extra für diese von ihm und Revazov entwickelte Ballett-Kreation komponierten Stücke.
Gleich bei der ersten Musik, „Melody from Childhood“, beeindruckten die fünf Tanzpaare durch ihre Ausdruckskraft und ihre technische Finesse, wobei die musikalische Untermalung die Choreographie in perfekter Weise unterstützte und dem Stück einen zusätzlichen emotionalen Tiefgang verlieh.
Zwei weitere Kompositionen, „Mélodie nostalgique“ und „La Tristesse“, wurden als Pas de deux getanzt, während der „Female Dance“ elegisch und schwebend von drei Tänzerinnen dargeboten wurde.
Während „Silent Waves“ tänzerisch als eher traurig und wehmütig skizziert, und die verschiedenen Facetten von Melancholie und Schwermut eindrucksvoll verkörpert wurden, war bei „Force Majeure“ eine gewisse Aggression beabsichtigt und spürbar. Das letzte Stück, „Paroles de Solitude“, schließlich stellte eine Annäherung dar, so als ob die zwischenmenschlichen Konflikte überwunden schienen.
Großen Applaus vonseiten des begeisterten Lübecker Ballett-Publikums gab es fürs Corps de Ballet, in den natürlich auch der exzellente Komponist und Pianist Leon Gurvitch einbezogen wurde.
Die nächsten beiden Choreographien wurden entwickelt von Antoine Jully, der früher Ensemble-Mitglied des Balletts an der Opéra de Paris und auch beim Royal Ballet in London war. Derzeit ist er der Ballettdirektor am Staatstheater Oldenburg.
„The Dying Poet“ ist ein Klavierstück des amerikanischen Komponisten und Pianisten Louis Moreau Gottschalk (1829-1869), vermutlich eine Komposition mit autobiographischem Charakter, sehr melancholisch, die die Einsamkeit eines kreativen, sensiblen und zerbrechlichen jungen Mannes beschreibt, so wie sie Gottschalk bei seinen Auftritten als Pianist empfand.
Von Jully als rein klassisches Ballett choreographiert wurde es eindrücklich und vollendet getanzt von den beiden Solisten Gulzira Zhantemir und Adonis Corveas Martinez.
Für seine Choreographie „Is this it?“ bediente sich Anotoine Jully der Musik des hierzulande weniger bekannten israelischen Folk-Rock-Sängers und Songschreibers Asaf Avidan.
Zu dessen vom Band eingespielten, falsettierend und mit krächzender Stimme gesungenen drei Songs „Thumbtacks in my Marrow“, „The Disciple“ und „Is this it?“ beeindruckten die beiden Solisten Virginia Tomarchio und Ricardo Urbino mit ihrer intensiven, umwerfenden, fast schon akrobatischen Tanzleistung auf leerer schwarzer Bühne, mit nur einem roten Plastikstuhl als einziges Requisit. Nur die beiden Körper, Mann und Frau, auf der Suche nach einander, auf der Suche nach sich selbst. Große Erwartungen, werden sie erfüllt? Sie suchen Nähe, brauchen Abstand. Finden sie sich? Ineinander? Is this it?
Die vierte und letzte Choreographie, „Gilded Reverie“ (Vergoldete Träumerei) bedeutet für die Choreographin Kristina Paulin eine emotionale und optische Hommage an den Wiener Maler Gustav Klimt (1862-1918), offenbar inspiriert durch dessen Gemälde „Der Kuss“ aus dem Jahre 1907, welches eine Art Symbol für die romantische Liebe bedeutet. Kristina Paulin, 1991 in Bratislava geboren, war bis 2021 Tänzerin beim Hamburg Ballett, ist auch international eine gefragte Choreographin mit Kreationen u.a. in Kanada, Kasachstan, Salzburg, Genua, Bozen und Montepulciano. Seit dieser Spielzeit ist sie die stellvertretende Ballettdirektorin am Staatstheater Karlsruhe.
Für ihre Choreographie „Gilded Reverie“ hat sie die Musik des Komponisten und Sounddesigners Davidson Jaconello gewählt, der ihr speziell für dieses Ballett eine Musik erschuf, in welche er Werke von Mozart (Klavierkonzerte Nr. 9 und Nr. 22), Arvo Pärt („de profundis“) und Edvard Grieg („Ases Tod“) integrierte.
Die vorherrschende Farbe auf der Bühne war hier Gold, goldfarbene lange Kleider für die Tänzerinnen, ein goldener Zwischenvorhang, an der Bühnenrückwand in Gold gehaltene Klimt-Malereien, goldener Haarschmuck für die Tänzerinnen und Tänzer, und eine goldene Gesichtsmaske für Gustav Klimts 'innere Stimme'.
Das gesamte Corps de Ballett tanzte zunächst in diesem Stück mit fünfteiliger Szenenfolge, klassisch mit zeitgenössischen Bewegungselementen, technisch perfekt, berauschend und mit bestechender Leichtigkeit. Die drei herausragenden Solisten waren Ricardo Urbina als Gustav Klimt, Jean Marc Cordero war 'Klimts innere Stimme', und Leisa Martinez Santana tanzte Klimts Bezugsperson und Muse Emilie Flöge – ein höchst eindrucksvolles Pas de Trois.
Insgesamt waren alle vier Teile dieser Ballettaufführung „Der flüchtige Augenblick“ absolut gelungen. Jede Choreographie für sich betrachtet berührte das Publikum durch die wunderbaren Kombinationen aus ästhetischer Schönheit, emotionaler Tiefe und technischer Brillanz. Dementsprechend begeistert und lang anhaltend war dann auch der Schlußapplaus für diese phantastische künstlerische Darbietung.